Ein Mann geht seinen Weg

Gregor Schöllgen schreibt die Vita Gerhard Schröders

Von Marlies JansenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marlies Jansen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Besser als er selbst hätte keiner „Die Biographie“ – so der Untertitel – des deutschen Bundeskanzlers der Jahre 1998 bis 2005, Gerhard Schröder, verfassen können, die Gregor Schöllgen, noch zu dessen Lebzeiten bis zu seinem siebzigsten Geburtstag, letzten Herbst vorgelegt hat – der Öffentlichkeit vorgestellt von der amtierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel persönlich.

Schröder hat dem einschlägig erfahrenen Autor und Professor aus Erlangen ‚plein pouvoir‘ über sämtliche Zeugnisse und Zeugen seines Lebens gegeben, „uneingeschränkten Zugang“, wie dieser im Anhang „Zur Quellenlage“ wissen lässt. Nicht im Auftrag schrieb er das Werk, vielmehr hebt das Vorwort mit  „Es war eine kühne Idee. Gerhard Schröder willigte ein.“ an und erwähnt später „zahlreiche Gespräche, die ich im Laufe der Jahre mit ihm führen durfte“. Was in diesen Gesprächen beredet wurde, erfahren wir nicht – ganz im Gegensatz zu den anderen Gesprächen, die Schöllgen mit Dutzenden von persönlichen und politischen Weggefährten, Mitarbeitern, aber auch politischen Gegnern und journalistischen Beobachtern Schröders geführt hat; sie alle finden sich im Text irgendwann oder auch mehrmals zitiert und sind mit dem jeweiligen Gesprächsdatum im umfangreichen Fußnotenapparat (2412 Fußnoten!) aufgeführt. Dem, der sich durch die rund 1000 Seiten der immensen Arbeit hindurchgelesen hat, drängt sich jedoch unschwer die Vermutung auf, dass Schröder in den Gesprächen mit Schöllgen zu der Überzeugung gelangt sein muss, in diesem den richtigen Mann für seine Biographie gefunden zu haben – jemanden, der ihn versteht, als Menschen wie als Politiker schätzt und seine Leistungen verständnisinnig und angemessen zu würdigen weiß.

In sieben Kapiteln beschreibt der Autor einen Lebensweg, der gleichsam „ganz unten“ auf der sozialen Stufenleiter begann und in eine „der spektakulärsten politischen Karrieren der Bundesrepublik Deutschland“ mündete. Die Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen sowie der „Ausstieg“ aus diesen als Voraussetzung für den „Aufstieg“ über den zweiten Bildungsweg und juristischen Studiengang in die „Politik als Beruf“ bilden für den Biographen das schlechthin prägende Erklärungsmuster für Charakter, Verhalten und Werdegang Gerhard Schröders. Immer wieder zieht er den Typus „Aufsteiger“ zur Erklärung heran – so etwa, wenn es im Zusammenhang mit dem Rücktritt bzw. der Ablösung Ron Sommers vom Posten des Telekom-Chefs (Juli 2002) heißt: „Wenn Schröder zu einem Partner steht, ist er loyal, zuverlässig, auch treu. Wenn aber das Vertrauen in den Partner geschwunden ist, aus welchen Gründen auch immer, macht er den Schnitt – von jetzt auf gleich, konsequent und ohne die Chance einer Revision. Das gilt gleichermaßen für sein berufliches wie für sein privates Leben und hat Gründe […]. So sind sie, die Aufsteiger.“

Das bestimmende Movens seines Helden sieht Schöllgen, bürgerlicher Freigeist und ohne moralische Vorurteile, in dessen Streben nach Geltung und Macht; Schröder sei ein „Machtmensch“, ein „Machtinstinktmensch“, er sei „süchtig“ nach Macht. Das habe seinen von Anfang an auf Karriere angelegten Weg bestimmt, seit seinen Zeiten als Jungsozialist in den siebziger Jahren in Göttingen und im Bund. Nie sei es ihm um theoretische, weltanschauliche oder „genuin politische Motive“ gegangen, entscheidend sei immer sein „unbändiger Vorwärtsdrang, ein vollentwickelter Machtwille“ gewesen und dazu seine „beachtliche taktische Finesse“. Und spätestens seit seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter ab 1980 habe er all seine Schritte und seine jeweiligen politischen Positionen auf das Ziel ausgerichtet, Bundeskanzler zu werden – mit Hilfe seiner Partei, der Sozialdemokratie, und seiner eigenen beträchtlichen Fähigkeiten als Stimmenfänger und Wahlkämpfer.

Nicht ohne Spott für die „oppositionsverliebte Gemeinschaft“ der SPD, oft als „die Genossen“ apostrophiert, beschreibt Schöllgen detailliert, wie Schröder eben jene immer wieder via Medien mit publikumswirksamen flotten Sprüchen, Themen und Positionen aufmischt. Denn die Partei rede nur von der Macht, „Schröder will sie“ und sei damit insofern in der Partei ein „Außenseiter“. Dessen ungeachtet bleibe er ihr über sein herkunftsbedingt lebenslanges Hauptanliegen der Chancengleichheit und sozialen Gerechtigkeit verbunden – ein programmatisches Marschgepäck, das, wie sich zeigen wird, wenig verbaut, weder arbeitnehmerfreundliche noch wirtschaftsnahe Positionen und entsprechendes Handeln. Es gehe nicht mehr um sozialdemokratische oder konservative Wirtschaftspolitik, sondern „um moderne und unmoderne“, sagt der „Kämpfer“ Schröder 1995 auf dem Weg zur Kanzlerschaft.

Nur einmal fährt Schöllgen dem aufstrebenden Politiker jener Jahre in die Parade, und zwar bei der Gelegenheit der Antinachrüstungskampagne zu Beginn der achtziger Jahre, die Helmut Schmidt 1982 die Mehrheit in seiner Partei SPD und die Kanzlerschaft kostete. Schröders Taktieren in der Frage des NATO-Doppelbeschlusses, in der Schmidt recht gehabt habe – was Schröder selbst später einräumte –, hinterlasse „einen schalen Beigeschmack“, von „Rückgrat keine Spur, wohl aber von bedenklichem Opportunismus“, denn seine Argumentation sei „politische Agitation reinsten Wassers“ gewesen.

Ab 1980 zählte Schröder zu den eifrigsten Besuchern der DDR. Insgesamt elf Mal führte er Gespräche mit den dortigen SED-Politikern, als MdB und als niedersächsischer Oppositionsführer. Schöllgen erweist sich als in Sachen DDR- und Deutschlandpolitik nicht ganz sattelfest bzw. eher desinteressiert. So behauptet er, Schröder habe sich 1986 in einem Interview für die kulturelle Einheit der deutschen Nation eingesetzt, „ganz gegen den Trend“ in der Bundesrepublik, was zumindest für führende Köpfe der SPD und nicht unerhebliche Teile der Öffentlichkeit nicht zutrifft. Ganz unpolitisch, für einen ansonsten beschlagenen Zeithistoriker denn doch erstaunlich, kommentiert Schöllgen sodann Schröders Eintreten für einen „Friedensvertrag“, dessen Fehlen vierzig Jahre nach Kriegsende, so Schröder, ,,eine „unwürdige Angelegenheit“ sei. Diese Begründung kann laut Schöllgen nur den überraschen, der nicht wisse, „welche herausragende Bedeutung die Würde […] für ihn seit eh und je besitzt“. Ansonsten verliert er kein Wort über die Leichtfertigkeit, mit der sich der Politiker und Jurist Schröder über die Komplexität des Themas hinwegsetzt, und ist stattdessen bemüht, seinem Schützling wieder ein ehrenvolles Alleinstellungsmerkmal zu verschaffen – was wiederum nicht ganz gelingt; man lese nur die Schrift Zum europäischen Frieden (1988) des ostpolitischen Vordenkers des SPD, Egon Bahr. Und schließlich: Als Schröder im Dezember 1985, als Spitzenkandidat der SPD im anstehenden Landtagswahlkampf in Hannover, den ersten Mann im Staate DDR, Erich Honecker, aufsucht, verspricht er einige Zugeständnisse an die DDR, lässt jedoch das leidige Thema der innerdeutschen Grenze unerwähnt. Dazu Schöllgen: „Keiner der Besucher Honeckers, ganz gleich welcher Partei er angehörte, hat dieses Thema je angesprochen. Auch Schröder nicht.“ Das ist nun vollends falsch, denn eines der Hauptärgernisse an den Grenzbefestigungen der DDR, die Selbstschussanlagen, war bis Ende 1984 abgebaut worden – im Gefolge des vom bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß (bei Honecker im Juli 1983) vermittelten Milliardenkredits westdeutscher Banken an die devisenbedürftige DDR.

In summa: Dem/der LeserIn drängt sich der Eindruck auf, als politischer Beobachter und Zeitzeuge stehe Schöllgen der Haltung Schröders und seiner Partei gegenüber der SED/DDR in den achtziger Jahren und dann zur staatlichen Wiedervereinigung 1989/1990 reserviert, wenn nicht gar missbilligend gegenüber, was sich in ungewohnter Einsilbigkeit und ‚schludriger‘ Recherche niederschlägt. Er genügt seiner Chronistenpflicht, sieht aber zu, das in seinen Augen eher unerfreuliche Kapitel in der Vita seines Protagonisten so bald wie möglich hinter sich zu lassen.

Ausführlich, detailliert und oft bewundernd zustimmend hingegen behandelt er in zwei Kapiteln, betitelt „Der Macher“ (1998-2002) und „Der Reformer“ (2002-2005), die Kanzlerschaft Schröders. In diesem Amt habe sich dieser bleibende Verdienste erworben, sowohl was den Status des Landes nach außen als auch was den Sozialstaat und damit dessen Stabilität nach innen betreffe. Die notwendige Koalition mit den „Grünen“ habe er, anders als etliche seiner Mitstreiter in den beiden „visionsanfälligen Parteien“, nicht als Aufbruch und säkulares Projekt angesehen, sondern als „das einzig einsatzfähige Vehikel auf seinem Weg zur Kanzlerschaft“.

Dramatisch und effektvoll weiß Schöllgen Schröders anfängliches Ringen um seine Kanzlerautorität gegenüber den beiden anderen „Alphatieren“ der Koalition, Oskar Lafontaine und Joschka Fischer, in Szene zu setzen, alle drei Machtmenschen und getrieben von ihrem jeweiligen Ego. Wer „Koch“ und wer „Kellner“ ist, vermag Schröder im Verhältnis zum „Grünen“ Fischer, seinem Vizekanzler und Außenminister, schnell zu klären. Der Konflikt mit Lafontaine, der, als SPD-Parteivorsitzender, das Amt des Finanzministers mit erweiterten Kompetenzen im Kabinett Schröder übernimmt, ist vorprogrammiert und endet nach wenigen Monaten bereits im März 1999 mit Lafontaines Rücktritt von allen seinen Ämtern – aus „Überforderung“ und „Selbstüberschätzung“, so Schöllgens Fazit. Wieder erklärt er die Vorgänge aus den Personenstrukturen, ohne die heikle institutionelle Konstellation oder auch die sachlichen Beweggründe Lafontaines zu erwägen. Über dessen „dunkle Seite“, seinen publizistisch über die „Bild“-Zeitung geführten Kampf gegen die Kanzlerpolitik seit seinem Rücktritt, urteilt er: „Aber dass einer, der sein […] Ziel nicht erreicht hat, fortan alles daransetzt, den anderen, der es […] geschafft hat, zu vernichten, ist ohne Beispiel.“

Ganz in Übereinstimmung mit Kanzler Schröder erweist sich sein Biograph in Sachen Außenpolitik, auch er wie jener, darf vermutet werden, „nie ein Nationalist“, aber „stets ein deutscher Patriot“. Schröder zeichne der „nicht von Ideologien oder Illusionen verstellte Blick auf die weltpolitischen Realitäten“ aus, was ihn zu der Erkenntnis geführt habe, dass „Deutschlands Rolle in der Welt“ nach der Vereinigung eine andere sei als vorher, nämlich selbstbewusster und emanzipiert von den ehemaligen Sieger- bzw. westlichen Schutzmächten. Die Probe aufs Exempel, so die Darstellung Schöllgens, lieferte Schröder mit seinem Nein zum Eintritt Deutschlands in den 2003 von den Vereinigten Staaten herbeigeführten Irak-Krieg. Der Kanzler legte sich früh, bereits im Herbst 2002, und öffentlich auf dieses Nein fest, selbst für den Fall, dass der UN-Sicherheitsrat ein Mandat erteilen würde. Deutschland stehe für Abenteuer nicht zur Verfügung, sagte er, und über existenzielle Fragen der deutschen Nation werde in Berlin entschieden – und Schöllgen kommentiert, Phrasen dieser Art seien allenfalls „mittelbar“ dem Wahlkampf geschuldet, sie seien eher „Element einer konsequenten, relativ einfach angelegten außenpolitischen Strategie“.

Zu diesen Elementen zählten auch die „historisch begründeten Sonderbeziehungen Deutschlands zu Russland“, die Schröder sogleich zur Chefsache macht. Und ferner: „Zum Fundament der deutsch-russischen Beziehungen gehört die Bereitschaft Berlins, die russischen Sicherheitsinteressen ernst zu nehmen“, was im Zweifelsfall eo ipso zu verminderter Sensibilität für die nicht minder historisch begründeten Ängste ‚Zwischeneuropas‘ vor Russland führen kann. Das zeigt sich u.a. am Beispiel der während der Regierungszeit Schröders verabredeten Gasleitung, die russisches Erdgas durch die Ostsee nach Mittel- und Westeuropa transportiert. Als dazu im Juli 2004 in Moskau zwischen den beteiligten russischen und deutschen Firmen, in Anwesenheit von Kanzler Schröder und Präsident Putin, ein Rahmenabkommen geschlossen wird, sehen die Bundesregierung „und namentlich der Kanzler“ dahinter laut Schöllgen „keine politische Absicht“, und die kaum zu übersehende Tatsache, dass die Ostseetrasse Polen, die baltischen Staaten und die Ukraine, die allesamt vom russischen Gas abhängen, umgeht, findet er bloß „politisch pikant“. Das Geschäft wird am 8. September 2005 endgültig abgeschlossen, zehn Tage vor der Bundestagswahl, die Schröders Schicksal als Bundeskanzler besiegelt, und wieder in Anwesenheit der beiden inzwischen befreundeten Staatenlenker.

Mit den Konsequenzen, die er auf außen- und sicherheitspolitischem Gebiet aus der deutschen Einheit zog, führte Schröder Deutschland auf den Platz, so Schöllgens Darstellung, „auf den es gehört“; durch seine zweite überragende Leistung, die Agenda 2010, habe er das Land im Innern so „auf Vordermann gebracht“, dass es „diesen Platz selbstbewusst und überzeugend einnehmen kann“. Dabei ging es um eine gründliche und schmerzhafte Reform des Sozialstaates, namentlich um diejenige des Arbeitsmarktes. Es waren die desolate Lage der öffentlichen Haushalte und die hohe Arbeitslosigkeit (Höchststand im November 2004: 10,3 Prozent), die Schröder nach der nur knapp gewonnenen Bundestagswahl vom Herbst 2002 im März des folgenden Jahres dazu zwangen, die Flucht nach vorn anzutreten. Die Änderungen im Gefolge der Reformen, insbesondere die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, kosteten ihn das Amt, weil seine Partei in den nachfolgenden Landtagswahlen hohe Verluste erlitt, damit im Bundesrat die bestimmende Mehrheit einbüßte, Schröder daraufhin Neuwahlen herbeiführte und diese dann verlor.

Schöllgen zeichnet die Vorgänge im Einzelnen akribisch nach, immer eng an der Seite seines Altkanzlers und auch schon mal bissig gegen dessen Widersacher, so z.B. gegen Ver.di-Chef Frank Bsirske. Im „Endkampf“ gegen den Widerstand von links, die parlamentarische Opposition und die Medien sieht er den „einsamen Kampf des Aufsteigers […] gegen drei mächtige Gegner, die getrennt marschieren, aber vereint schlagen. Man muss das wissen, um Gerhard Schröders Auftritt in der Wahlnacht des 18. September ganz zu verstehen.“ Diese „testosterone Explosion“ belegt für den Autor noch einmal die Sozialisation des Aufsteigers, „nicht durchformatiert“, in „letzter Konsequenz unangepasst und unbürgerlich“, und beruft sich dabei auf Angela Merkel als Gewährsfrau (Gespräch mit dem Verfasser am 15. Dezember 2014).

In einem letzten Kapitel unter der Überschrift „Der Ratgeber“ erfährt der/die LeserIn Einzelheiten über das Leben und Wirken Gerhard Schröders im In- und Ausland nach der Kanzlerschaft bis 2015. Schöllgen räumt ein, nichts habe Schröders öffentlichem Ansehen so sehr geschadet wie sein Eintritt ins „Unternehmerdasein“ als Aufsichtsratsvorsitzender der (heutigen) Nord Stream AG – eine Position, die ihm Putin wenige Wochen nach seinem Ausscheiden aus dem öffentlichen Amt antrug. Doch auch jetzt nimmt sein Biograph ihn gegen „ehrenrührige“ und „nicht haltbare“ Vorwürfe in Schutz und steht, wenn auch etwas geschmerzt, zu ihm: Nichts von den ersten, hauptsächlich pekuniär motivierten Unternehmungen des Ex-Kanzlers sei bedenklich oder gar strafbar gewesen, „aber glücklich […] auch nicht“, und schließlich sei ihm mit den Jahren doch zunehmend Anerkennung für seine Leistung zugewachsen. Schöllgen kann es sich am Ende nicht versagen, Schröders Amtsnachfolgerin an diesem und noch dazu in dessen Worten, denen er beipflichtet („lässt sich ja schlechterdings nicht bestreiten“), zu messen: „Es fehlt bei ihr die Fähigkeit, das Risiko der eigenen Abwahl einzugehen […]. Frau Merkel meidet unbequeme Entscheidungen. Da ist sie anders als einige ihrer Vorgänger.“

Schöllgens Erzählweise folgt der klassischen biographischen Methode, d.h. der Text ist weitestgehend chronologisch organisiert. Gelegentlich kommt es zu längeren thematischen Vorgriffen, z.B. um die Bedeutung von Lafontaines Rücktritt für Schröders spätere Reformpolitik deutlich zu machen, was dem Textverständnis durchaus förderlich ist. Überhaupt sind die Lesbarkeit und Leserfreundlichkeit des Werks zu rühmen. Dazu tragen neben der flüssigen, geschmeidigen Sprache nicht zuletzt die Kurzbiographien bei, mit denen die handelnden Personen jeweils eingeführt werden und die sich mitunter zu gelungenen Kleinporträts auswachsen. Doch bei aller Lesbarkeit, auch Unterhaltsamkeit – das Werk krankt an einem aufblähenden, übergroßen Detailreichtum, Folge vermutlich des Quellenmaterials, auf das es sich stützt. Auf dieses hält Schöllgen sich viel zugute, weil er es entdeckt hat. Es handelt sich um von Schröders Vorzimmer seit 1998 in 84 Aktenordnern penibel archivierte Terminkalender und Terminakten, denen Vorlagen, Briefe und Notizen beigefügt sind. Da sie den Autoren, die vor ihm, Schöllgen, über Schröder publiziert haben, nicht zur Verfügung standen, fänden sich bei ihnen „gravierende Lücken und Fehleinschätzungen“. Außer aus den Terminakten, den Gesprächen mit Zeitzeugen (s.o.) und, natürlich, dem umfangreichen Pressematerial konnte Schöllgen aus 500 Seiten einer Niederschrift biographischer Gespräche schöpfen, die Schröder bald nach seinem Ausscheiden als Bundeskanzler mit seinem zeitweiligen Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye geführt hat. Dieses Konvolut, unbearbeitet und nicht redigiert, habe niemals das Licht der Öffentlichkeit erblickt und sei, soviel verrät Schöllgen, Schröders „eigentliches Buch“.

Gregor Schöllgen liefert eine Biographie Gerhard Schröders, die dessen Selbsteinschätzung und Weltsicht weitgehend entsprechen dürfte, das Privatleben zwar nicht ausspart, aber doch mit Zurückhaltung behandelt sowie dessen Bild eines virilen Charakters und kraftvollen Politikers in vorteilhaftem Licht mit wenigen, eher der Konturierung dienenden Schatten erstrahlen lässt. So gesehen verwundert es nicht, dass das gesamte Material zu dieser Biographie, rund 60 Aktenordner, nach Abschluss der Arbeit Schröders Berliner Archiv BKGS/ZA (Bundeskanzler Gerhard Schröder/Zwischenarchiv) als „eigener Bestand“ eingefügt wurde.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Gregor Schöllgen: Gerhard Schröder. Die Biographie.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015.
947 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783421046536

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