Mittelalterliche Dichtung im Fokus der Säkularisierung

Ein Tagungsband sammelt mediävistische Studien über Verweltlichung und Profanisierung in der Literatur

Von Jelko PetersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jelko Peters

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war.“ So träumte Novalis 1799 in seinem Aufsatz Die Christenheit oder Europa und drückte zugleich sein Bedauern über die Folgen der Säkularisierung aus. In seinen Worten wird ein romantisches Geschichtsbild deutlich, dass eine Zäsur zwischen dem sakralen und einheitlichen Mittelalter und der säkularen und unübersichtlich werdenden Moderne erkennt. Angesichts dieser Vorstellung zweier Zeitalter hätte Novalis wohl mit blankem Entsetzen oder großer Neugier den Band Literarische Säkularisierung im Mittelalter in die Hand genommen, der die Vorträge einer Tagung vom 4. bis 7. Oktober 2011 in Kloster Irsee sammelt. Schließlich deutet der Titel an, dass der Einschnitt zwischen Mittelalter und Neuzeit, der durch die Säkularisierung entstanden ist, nicht so markant und eindeutig zu sein scheint, wie Novalis annimmt.

Tatsächlich zeichnen sich die Beiträge des Tagungsbandes dadurch aus, dass sie die Vielschichtigkeit der aktuellen Säkularisierungsdiskurse und ihrer Entwicklungen in den verschiedenen Wissenschaften anerkennen und als Basis für ihre eigenen Forschungen verwenden. Eingedenk des vieldeutigen Säkularisierungs-Begriffs, versucht man den Terminus „möglichst weit aus hermeneutisch suggestiven Verlust-Gewinn-Bilanzen herauszuhalten“. Dies hat zur Folge, dass die Wissenschaftler sich auf einzelne mittelalterliche Autoren oder Gattungen konzentrieren und allenfalls einen Vergleich vornehmen, aber keine Entwicklungen aufzeigen. Zeitlich bleibt der Band bis auf wenige Ausnahmen dem Mittelalter verhaftet und bietet beispielhaft einzelne Interpretationen zur Säkularisierung in der mittelalterlichen Literatur. Die Aufsätze stellen damit (auch) einen Beitrag zur Geschichte der literarischen Säkularisierung dar. Die zeitliche Einordnung der Forschungsergebnisse bleibt aber späteren Studien vorbehalten. Die Zäsur zwischen Mittelalter und Neuzeit wird nicht angetastet.

Hervorzuheben ist die große Genauigkeit und filigrane Herangehensweise, mit der die Autoren den hohen Unbestimmtheitspotentialen zum einen der wissenschaftlichen Säkularisierungsdiskurse und zum anderen der literarischen Säkularisierung begegnen. Die Wissenschaftler legen jeweils in durchaus plausibler und theoretisch fundierter Weise ihr Verständnis von Säkularisierung dar und widmen sich in textnahen Interpretationen der „Herausforderung“, Differenz und Interaktion „der verschiedenen religiösen und säkularen Sprach- und Bildregister, Denk- und Erzählmuster“ zu erforschen.

Säkularisierung wird in den Studien im weitesten Sinne als „Phänomen der Übertragung von Geistlichem auf Weltliches“ begriffen, wobei grundsätzlich auch das Phänomen der Sakralisierung Berücksichtigung findet. So stellen einige Interpreten einen Auf- und Abbau religiöser Semantik fest und stoßen auf nicht immer eindeutige Übertragungen. Insofern gehen die Autoren zwar von einer literarischen Säkularisierung im Mittelalter aus, beschreiben aber oft auch das Gegenmodell der literarischen Sakralisierung.

Der Band deckt ein Großteil bedeutsamer mittelalterlicher Literatur und Gattungen ab und widmet sich unter anderem den Erec- und Tristan-Romanen, der Heldenepik, der Kleinepik Strickers, Mären, Legenden sowie verschiedenen Formen der Lyrik bis Petrarca. Ungeachtet der Komplexität der Forschungsansätze ergeben die Aufsätze in der Summe einen differenzierten Einblick in verschiedene Formen der literarischen Säkularisierung (und Sakralisierung) im Mittelalter und eröffnen so einen ertragreichen Zugang zur mittelalterlichen Literatur. Die Diffizilität der Ergebnisse aber verhindert, den Band als Argument für eine Vorverlegung der Säkularisierung zu verwenden. Sie zeigt indes ein weiteres Mal, wie vielschichtig Literatur im Mittelalter sein konnte. Damit widersprechen die Interpretationen zwar den romantischen Vorstellungen von den glänzenden und einheitlichen Zeiten, wie sie Novalis beschrieb, sie eröffnen aber dem heutigen Leser neue und überraschende Perspektiven auf die alten Texte.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Susanne Köbele / Bruno Quast (Hg.): Literarische Säkularisierung im Mittelalter.
Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik Band 4.
De Gruyter, Berlin 2014.
429 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-13: 9783050059747

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch