Rechtsprechung und Moral im Angesicht des Terrors

Ferdinand von Schirachs erstes Drama will zur Grundsatzreflexion zwingen

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem 2013 erstmals veröffentlichten Essay „Die Würde ist antastbar“ stellte der als Verfasser von Verbrechensgeschichten zu literarischem Ruhm gelangte Strafverteidiger Ferdinand von Schirach eine grundsätzliche Frage: Dürfte eine Regierung eine gewisse Anzahl von unschuldigen Menschen opfern, um eine größere Anzahl von Menschenleben zu retten? Dürfte eine vollbesetzte Passagiermaschine abgeschossen werden, um zu verhindern, dass mit dieser Maschine ein Anschlag auf einen öffentlichen Platz ausgeführt wird, bei dem eine Vielzahl ebenfalls unschuldiger Menschen ums Leben käme?

Eine moralisch und juristisch so schwierige Frage versperrt sich gegen einfache Lösungen. Dennoch hat Schirach am Ende seiner Überlegungen eine kluge und umsichtige Antwort parat. Unabhängig davon, wie diese genau ausfällt: Allein die Tatsache, dass er in diesem Essay eine Antwort formulierte, ist ein Problem. Ferdinand von Schirach betreibt nämlich die heikle Kunst der Mehrfachverwertung. Sein neues Buch „Terror“ greift nicht nur die Grundidee von „Die Würde ist antastbar“ auf, sondern übernimmt gleich ganze Absätze daraus. Schirachs eigene Überlegungen werden nun Figuren in den Mund gelegt. Das ist, wenn auch kein Zeugnis von Ideenüberfluss, nicht verwerflich. Problematisch ist allerdings, dass er – zumindest für Leser, denen sein Œuvre nicht fremd ist – damit seinem neuen Text die Spitze nimmt.

Erstmals wagt sich der als Erzähler bekannt gewordene Autor an ein Theaterstück. Dieses Stück gibt sich als eine Gerichtsverhandlung. Angeklagt ist ein Bomberpilot, der gestanden hat, ein Passagierflugzeug mit 164 Menschen an Bord abgeschossen zu haben. Die Maschine war von einem islamistischen Terroristen entführt worden, der sie in ein von 70.000 Menschen besuchtes Fußballstadion stürzen wollte. Der Anschlag wurde verhindert – um den Preis des abgeschossenen Flugzeuges. Im Zentrum der Verhandlung steht nun die vom Verteidiger formulierte Frage: „Gibt es Situationen in unserem Leben, in denen es richtig, vernünftig und klug ist, Menschen zu töten? Und mehr noch: in denen alles andere absurd und sogar unmenschlich wäre?“ Selbst die Anklage räumt ein, dass es uns vermutlich spontan richtig erscheint, eine verhältnismäßig kleine Anzahl von Menschen zu töten, um eine weit größere zu retten. Der gesamte Text ist zu begreifen als ein juridisch-moralisches Gedankenexperiment, das dieses Dilemma umkreist. All das vollzieht sich im Resonanzraum eines immer wieder in die Ausführungen einbezogenen Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu diesem Thema, das kontroverse Reaktionen in höchsten politischen und militärischen Kreisen hervorgerufen hat. Auf dem Spiel steht das hohe Gut der von der Verfassung gewährleisteten Freiheit und Würde jedes einzelnen Menschen – und letztlich die Verfassung selbst. Nicht nur der Terror allein wird solcherart als Bedrohung unserer Freiheit ausgewiesen. Auch Reflexe der Politik, Freiheit durch Beschränkungen von ebendieser und durch vermeintlich naturrechtlich gestützte Entscheidungen einzelner (und sei es wohlmeinender) Akteure zu schützen, werden als fundamentale Angriffe auf die Würde des Einzelnen, der seiner autonomen Entscheidung beraubt werde, diskutiert.

Schirachs theatrale Versuchsanordnung gibt unterschiedlichen Perspektiven Raum. Neben dem Angeklagten selbst kommen ein Zeuge (der militärische Vorgesetzte des Angeklagten), eine Nebenklägerin, die einen geliebten Menschen beim Abschuss der Maschine verloren hat, die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung zu Wort. Die Polyphonie ist Programm, um eine Stellungnahme des Publikums zur Tat zu provozieren. Viele der Einlassungen erscheinen plausibel, es gibt einleuchtende Gründe für eine Verurteilung ebenso wie für einen Freispruch. Die Reflexion des eigenen Gerechtigkeitsgefühls und damit die Auseinandersetzung mit grundsätzlichen moralischen, rechtsphilosophischen und existenziellen, allzu menschlichen Fragen, die wir im Alltag meist an berufene Instanzen delegieren, ist unausweichlich. Das ist die größte Stärke, weil größte Herausforderung des Stückes.

Wie bei Schirach üblich, ergehen sich die Figuren wiederholt in rechtshistorischen und rechtsphilosophischen Exkursen, sodass eine profunde Einschätzung der Tat und der Rechtslage möglich wird. Das Publikum – im Theater ebenso wie im Lesesessel – bekommt die Rolle des Schöffen, des Laienrichters zugewiesen. Bei einer Aufführung besteht der Clou darin, dass die Zuschauer tatsächlich abstimmen und dann abhängig von diesem Votum ein Freispruch oder eine Verurteilung erfolgt. In der Buchfassung sind beide Möglichkeiten enthalten, sodass man sich bei der Lektüre mit beiden Möglichkeiten, aber auch und gerade mit seiner ganz eigenen Unsicherheit auseinandersetzen muss. Das grundlegende Argument der Staatsanwaltschaft lautet: Mag es uns auch angemessen und moralisch richtig erscheinen, wie ein Individuum in einem gegebenen Moment handelt – es dürfe niemals vorkommen, dass ein solches Handeln „über die Verfassung gestellt werde. Das gilt jedenfalls in einem funktionierenden Rechtsstaat.“ Nur wenn die Würde des Menschen und damit einhergehend die diese gewährleistende Verfassung immer, auch im Angesicht einer terroristischen Bedrohung, geachtet werde, könne die freie Gesellschaft überleben. Die Verteidigung hingegen hebt darauf ab, dass es nicht um abstrakte Fragen gehe, sondern dass der Terror uns längst in einen Krieg gezwungen habe, was beherztes Handeln erforderlich mache (eine Rhetorik, die spätestens nach den politischen Reaktionen und Verlautbarungen infolge der Pariser Attentate vom November 2015 eine unbehagliche lebensweltliche Brisanz entfaltet hat).

Der Text lässt das Rechtsgeschehen insofern als prozessual, mehr noch: als performativ, als stets im Vollzug begriffen erkennen. Rechtsgeschehen ist mehr als nur die bloße Anwendung eines Gesetzes auf einen konkreten Fall, Wahrheit und Gerechtigkeit unterliegen Verhandlungen. Schirachs Drama ist in vielerlei Hinsicht ein Musterbeispiel für die Verschränkung von Literatur und Recht, und bei Weitem nicht nur, weil es Rechtsfragen als Gegenstand von Literatur präsentiert. Es lässt im Medium der Literatur auch reale Gerichtsverhandlungen als Inszenierungen erscheinen („das Gericht ist eine Bühne“), die auf dramatische, narrative und fiktionale Verfahren angewiesen sind.

Neben dem Dramentext enthält das Buch eine thematisch (scheinbar) lose verwandte Rede, die Schirach anlässlich der Verleihung des „M100-Sanssouci Medien Preises“ an „Charlie Hebdo“ hielt. Als Reaktion auf den terroristischen Angriff auf das französische Satiremagazin im Januar 2015 beschäftigt sich Schirach, einmal mehr ganz im Sinne des Projekts der Aufklärung und in gewohnt präziser und von gedanklicher Klarheit geprägter Sprache, mit der Freiheit von Satire. In diesem Zusammenhang legt er ein Bekenntnis ab, das nicht nur angesichts der terroristischen Bedrohungen in der jüngsten Vergangenheit bemerkenswert ist. Es ist auch eine Stellungnahme zum Grundkonflikt von „Terror“: „Ich glaube an den gelassenen, freien Geist unserer Verfassung, an ihre souveräne Toleranz und ihr freies Menschenbild.“ Weiter führt er aus, dass der Terroranschlag auf „Charlie Hebdo“ (und man darf wohl hinzufügen, alle anderen terroristischen Anschläge seither) weit mehr als ein „Verstoß gegen die Rechtsordnung“ gewesen sei, nämlich „ein Angriff auf die Rechtsordnung“. Er plädiert dafür, dem Terror nur im Rahmen der Rechtsordnung zu begegnen und uns nicht von unserem Wunsch nach Rache korrumpieren zu lassen, da dies die eigentliche Gefahr des Terrors sei. Nicht Vergeltung und Gegengewalt seien diesem entgegenzusetzen, sondern Toleranz, Freiheit und Recht.

Ferdinand von Schirach beweist mit seinem neuen Buch Kontinuität im Wandel. Auch bei seiner nunmehr siebten literarischen Veröffentlichung bleibt er seinem Thema treu: Immer sind es Fragen von Schuld und Verbrechen, von Recht und Gerechtigkeit, die den Gegenstand seines Werks ausmachen. Aber wie schon in den letzten Publikationen wagt sich Schirach an neue Formen – und die dramatische Form, zumindest wenn sie wie hier als Gerichtsverhandlung daherkommt, ist seinem Thema und seinem Denken angemessener als die des Romans. Es bleibt die Frage, ob der Autor einmal aus der thematischen Nische heraustreten wird, ob er also seinen literarischen Fähigkeiten zutraut, abseits des Juridischen zu bestehen. Aber diese Fragen berühren weniger den vorgelegten Text als die Entwicklung Schirachs im Allgemeinen. Was diese beiden Aspekte miteinander verbindet, ist just die Wiederholung der Thematik des eingangs benannten Essays. Schon der Text von „Terror“ selbst (zählt man die „Charlie Hebdo“-Rede dazu), noch mehr aber dessen essayistischer Vorläufer zeigen auf, dass Schirach dem Publikum zwar die Freiheit zumutet, selbst über Verurteilung oder Freispruch zu entscheiden, dass diese Freiheit aber immer schon eine manipulierte ist – wenn auch mit den ehrenwertesten Absichten. Schirach ist auch als literarischer Autor immer Anwalt und Verteidiger des Rechts. Indem er eine mit rhetorischen und poetischen Strategien unterfütterte Argumentationskette vorlegt, die zu seiner eigenen, aus dem lesenswerten Essay bekannten Meinung hinleiten soll, stellt sich die Frage, inwiefern der Verfasser uns tatsächlich zutraut, von unserer Würde, unserer Entscheidungskompetenz, unserer Subjekthaftigkeit Gebrauch zu machen.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist seit dem 10.5.2016 auch bei Literatur Radio Bayern zu hören. 

Titelbild

Ferdinand von Schirach: Terror. Ein Theaterstück und eine Rede.
Piper Verlag, München 2015.
164 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783492056960

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