Politik durch Gefühle

Jennifer Jacquets Plädoyer für den Einsatz von Scham zur Lösung von Umweltproblemen

Von Gertrud Nunner-WinklerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gertrud Nunner-Winkler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Folgt man Jennifer Jacquets zentraler These in ihrem neuen Buch „Scham, Die politische Kraft eines unterschätzten Gefühls“, ist Scham ein unterschätztes, aber höchst wirksames politisches Instrument zur Lösung gesellschaftlicher Probleme. Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Beobachtung, dass ökologische Initiativen zunehmend weniger auf die Änderung von Produktionsbedingungen und immer mehr auf eine Veränderung des Konsumverhaltens abzielen. Die marktwirtschaftliche Ideologie schiebt die Verantwortung den Verbrauchern zu, die sich durch grünen Konsum von ihren Schuldgefühlen freizukaufen suchen. Die Unternehmen schlachten das aus: Sie machen Gewinne durch das Angebot von Nischenprodukten, die das Gewissen derer beruhigen sollen, die sich zertifizierte Produkte leisten können.

Kollektive Probleme aber lassen sich nicht lösen, indem man auf die Psyche und damit auf das Verhalten Einzelner einwirkt. Nötig sind gesetzliche Regeln. Doch da sich Normen – mit Ausnahme basaler universeller Grundprinzipien wie etwa Ehrlichkeit oder Fairness – ständig ändern, fehlen häufig entsprechende Gesetze. Wo also informelle Formen der Bestrafung erforderlich sind, kommt Scham ins Spiel. Schuld ist eine persönliche Angelegenheit – eine Form der Selbstüberwachung aufgrund verinnerlichter Normen. Scham hingegen lässt sich strategisch einsetzen, auch bevor die neuen Normen verinnerlicht sind.

Im weiteren Verlauf ihrer Argumentation gebraucht Jacquet „Scham“ im Sinne von Beschämung, von öffentlicher Bloßstellung. Dabei geht es nicht um ein Gefühl, sondern um ein effizientes Mittel, mit dem sich – anders als mit Schuld – das Verhalten ganzer Gruppen beeinflussen lässt. Allerdings besteht das Risiko, dass Strafandrohungen intrinsische Wertorientierungen aushöhlen. Jacquet nennt Bedingungen für einen erfolgreichen Einsatz von Beschämung: Der anzuprangernde Regelverstoß sollte die angesprochene Öffentlichkeit betreffen und deutlich vom erwünschten Verhalten abweichen, also anders als völlige Transparenz nur die schlimmsten Missetäter bloßstellen. Der Täter sollte ferner der ihn anprangernden Gruppe angehören und die durch eine anerkannte Institution erfolgende Beschämung angemessen und berechtigt sein.

Das Internet als ‚virtueller Pranger‘ hat die Macht der Beschämung massiv erweitert: Schnell und billig ist eine größere Öffentlichkeit erreichbar, wobei es allerdings ständig um das knappe Gut der Aufmerksamkeit zu kämpfen gilt. Aber die der Anonymität geschuldete ‚enthemmende Wirkung‘ des Internets mag auch zu Missbrauch verführen. Betroffene können unterschiedlich reagieren: Sie können versuchen, die Beschämung zu unterdrücken (so setzten sich große Konzerne für ein Gesetz zur Verhinderung von Terroranschlägen gegen Tierhaltungsbetriebe ein, um die Enthüllung von Missständen zu behindern), zu verwässern, etwa indem Fehlverhalten in einem Bereich durch gute Taten in einem anderen wettgemacht wird (so gründete Amazon eine karitative Stiftung um von seiner Strategie der Steuervermeidung abzulenken), oder zu ignorieren. Sie können auch versuchen, die Beschämung ihrerseits zu diskreditieren (indem sie die Glaubwürdigkeit der Quelle in Zweifel ziehen), personelle Brücken abzubrechen (etwa indem sich Firmen vom Vorstandschef oder rufschädigenden Werbeträgern trennen), oder gezielt (etwa durch die Beschäftigung eines Reputationsmanagers) den eigenen Ruf zu verbessern.

Nicht immer wirkt Scham, aber die Furcht vor Beschämung kann Einzelpersonen und Institutionen zu genehmerem Verhalten motivieren. Richtig dosiert und zum rechten Zeitpunkt eingesetzt dient sie dem Kollektiv. Jacquet kommt also zu folgendem Resümee:

in unserer Fixierung auf das Individuum haben wir uns einreden lassen, dass der Einzelne als Verbraucher etwas bewirken kann. So wurde Schuldgefühl zu einem wichtigen Instrument. Aber bei kollektiven Problemen reicht es nicht, wenn eine kleine Gruppe von Menschen ein schlechtes Gewissen hat und ihre Schuld im Bioladen abträgt. […] [Sofern] wir alle […] Verantwortung für eine Balance der Interessen aller Lebewesen [tragen, ist] entscheidend, welche Normen wir aufstellen. Die nötigen neuen Normen sind groß. Bei ihrer Formulierung und Durchsetzung kann ein besonnener Einsatz von Scham entscheidende Dienste leisten.

Das Buch besticht durch eine klare Gliederung, einfache Sprache, schlüssige Argumentation und vor allem durch die unglaubliche Fülle plastischer Beispiele aus unterschiedlichen Forschungsfeldern, mit denen die Thesen illustriert und belegt werden. Die Autorin berichtet von konkreten Erfolgen politischer Beschämungsstrategien, zum Beispiel als die kalifornische Finanzbehörde sehr viel Geld einnahm, nachdem sie den 500 größten Steuerschuldnern die Veröffentlichung ihrer Namen angedroht hatte. Des Weiteren referiert Jacquet Befunde aus verhaltensökonomischen Experimenten, zum Beispiel dass ein, zwei schwarze Schafe genügen, um die Kooperationsbereitschaft aller Beteiligten zu untergraben. Schließlich stellt sie verhaltensökologische Forschungsergebnisse dar, etwa zu Harris-Ammern, sperlingsähnlichen Singvögeln, die klare Regeln der Ehrlichkeit haben und Täuschungsversuche bestrafen.

Einige Punkte bleiben gleichwohl diskussionsbedürftig. Als unstrittig kann die Zentralthese gelten, dass zur Lösung kollektiver Probleme das Handeln Einzelner nicht hinreicht. Die Begründung hat M. Ohlsen in seinem 1965 erschienenen Buch ‚The Logic of Collective Action‘ ausgearbeitet: Der Beitrag, den ein Einzelner zur Produktion eines öffentlichen Gutes (etwa Luftreinheit) leistet, ist für ihn sehr kostspielig (etwa Verzicht auf Autofahrten), aber faktisch sinnlos, wenn nicht auch alle anderen ihren Beitrag leisten. In Kleingruppen sind Beitragsverweigerer (etwa bei der Finanzierung eines gemeinsamen Geschenks) für alle leicht erkennbar und können unmittelbar mit Achtungsentzug geahndet werden. Wenn jedoch große Kollektive betroffen sind, lässt sich Trittbrettfahren nur durch eine verlässlich institutionalisierte Bestrafung von Regelverstößen unterbinden. Für jeden Einzelnen ist eine Sanktionierung mit Kosten (etwa Peinlichkeit) verbunden, zudem wäre sie wenig effektiv.

An diesem Punkt bietet Jacquets Plädoyer für den Einsatz einer dank des Internets äußerst kostengünstigen öffentlichen Beschämung eine produktive Ergänzung zu Ohlsons Argumentation. Weniger überzeugend erscheint jedoch die theoretische Fundierung ihrer Analyse von „Schuld“ und „Scham“. Diese gründet in ihren Überzeugungen: „Emotionen haben großen Einfluss auf Verhalten“ und „Scham ist wirkungsvoller als Schuld“ , denn Scham betrifft „das ganze Selbstbild“, die „Identität“, und äußert sich auch in der Körpersprache, zum Beispiel in Erröten oder gesenktem Kopf. Faktisch jedoch diskutiert Jacquet Beschämung, während sie selbst feststellt, dass diese kein Gefühl sondern ein Instrument der Bestrafung ist, das nicht primär Personen, sondern Taten adressieren soll und sich häufig nicht auf Einzelne, sondern auf Gruppen oder Institutionen richtet.

Auf der Outputseite geht es also um Verhaltensänderungen, die keineswegs aus Emotionen, also körpergebundenen negativen Gefühlserregungen, resultieren. Beweggrund ist vielmehr das Interesse an Strafvermeidung, also das strategisch kalkulierende Bemühen um Kostenminimierung. Auch die Inputseite scheint unangemessen beschrieben. Als erstes mag man sich fragen, ob es heute wirklich noch stimmt, dass Schuldgefühle grünen Konsum motivieren. Vielleicht trifft der Titel, mit dem die „Süddeutsche Zeitung“ kürzlich einen Beitrag über neue Formen der Lebensführung überschrieb, den Sachverhalt besser: ‚Öko? Ego!‘ Weniger die Sorge um die Erhaltung der Umwelt als die der eigenen Gesundheit scheint heutige Essmoden anzuleiten.

Damit bleibt eine wichtige Frage offen, die in dem Buch überhaupt nicht angeschnitten wird: Was motiviert Einzelne dazu, normwidriges Verhalten anzuprangern, eine Bloßstellungskampagne zu initiieren? Wenn hier Gefühle eine Rolle spielen, dürften dies weder Scham noch Schuld, sondern Empörung und Zorn sein. Dabei wären diese Emotionen nicht funktionalistisch, sondern indikatorisch zu deuten: Die Empörung verursacht den Protest nicht, sondern macht vielmehr die Stärke der zugrundeliegenden Wertbindung sichtbar. Weil dem Aktivisten die Erhaltung der Umwelt persönlich wichtig ist – und genau solche subjektiven Bedeutungszuschreibungen zeigen Emotionen an – kämpft er für sie. Die Bindung an moralische, pazifistische und ökologische Werte ist in individualisierten Gesellschaften, die Moral auf eine Minimalmoral begrenzen und eher gleichachtende als autoritäre Sozialisationsstrategien einsetzen, formal-abstrakt: Es geht nicht um pünktliche Befolgung inhaltlich festgelegter, früh internalisierter konkreter Normen, sondern um das Interesse an unparteilich beurteilter Schadensminimierung.

Dieser Typus von Motivation erlaubt, neue Informationen jederzeit flexibel aufzunehmen und die Umsetzungsstrategien daran zu orientieren. Damit spielen weder bei der Mobilisierung von Protestpotentialen noch bei deren möglichen Erfolgen Emotionen jene herausragende Rolle, die Jacquet ihnen zuschreibt: Auf der Inputseite wirkt eine prinzipielle Bindung an ökologische Werte, die sich für neue wissenschaftliche Erkenntnisse offen hält, auf der Outputseite dominiert das Interesse an Kostenminimierung. Damit scheint die alte (an Luhmann orientierte) Strategie der Grünen, Konsumenten zum Boykott umweltschädigender Unternehmen aufzufordern, nicht so obsolet, wie Jacquet unterstellt. Man muss also ihrer Diagnose nicht zustimmen, dass die Sorge um die Umwelt nichts weiter als ‚grünes Schuldgefühl‘ und der Emissionshandel – „in ein quasi-religiöses Mäntelchen gehüllt“ – nichts weiter als ein „Ablasshandel“ sei.

Titelbild

Jennifer Jacquet: Scham. Die politische Kraft eines unterschätzten Gefühls.
Übersetzt aus dem Englischen von Jürgen Neubauer.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2015.
224 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783100359025

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