Sozialismus als Utopie und Wissenschaft

Axel Honneths neueste Publikation zeugt von der Schwierigkeit einer adäquaten Aktualisierung der kritischen Theorie

Von Sebastian SchreullRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Schreull

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon der Titel – „Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung“ – ist eine Parteinahme. Mit seiner neuesten Schrift hat Axel Honneth reagiert: Schreibantrieb seien die Kritiken an seinem Hauptwerk „Das Recht der Freiheit“ gewesen. Diesem attestierte man, sich „auf die kritische Perspektive einer Transformation der gegebenen Gesellschaftsordnung nicht mehr einlassen zu wollen“. Träfe dieser Vorwurf zu, verlöre ein Theoretiker das nicht unwesentliche Attribut „kritisch“. Wer kritisch ist, arbeitet an der Veränderung der Welt, anstatt nur eine weitere Interpretation anzufertigen.

Das ist eine Überforderung, die beinahe zwangsläufig mit dem Reden über Sozialismus einhergeht. Honneth konstatiert, dass der Sozialismus „seine Zeit inzwischen überlebt“ habe – und dennoch hält er ein denkwürdiges Versprechen bereit. Man betreibt eben mehr als nur eine Praxis der Theorie, wenn man über ihn spricht; man schreibt an einer Theorie der Praxis. Diese Theorie wird sich nicht einfach aus ihrer Praxis lösen, einen quasi göttlichen Standpunkt einnehmen können. Sie bleibt erst einmal „nur“ eine Theorie. Sie wird als solche mit dem konfrontiert, was früher einmal oder noch heute als eine angemessene kritische Theorie gilt.

Sie kann nicht einfach mit diesem Erbe, mit dem Erbe von G.W. Friedrich Hegel, Karl Marx, Theodor W. Adorno oder Jürgen Habermas brechen, da diese Werke nicht historisch als erledigt gelten können. Philosophische oder kritisch-theoretische Werke haben im Gegensatz zum Versprechen eines linearen Fortschritts der Naturwissenschaften eine merkwürdige Zeitlichkeit. Es wird keinen vollständigen Bruch mit diesem Erbe geben, da nur in diesen stets wieder zu tätigenden Abgrenzungen das Projekt einer Aktualisierung zu vollziehen ist. Das heißt aber auch, dass diese Differenz das Erbe bildet. Eine solche Aktualisierung kann sich als Theorie nicht so abschließen, als könnte diese der Plan oder das System sein, das den richtigen Weg weist. Es bleibt eine merkwürdige Asymmetrie zwischen Theorie und Praxis, da erstere nur ihre Zeit in Gedanken fasst. Praxis vollzieht sich weiter.

Unweigerlich wird man bei solchen Überlegungen in jene Grabenkämpfe des Marxismus hineingezogen, die einen wie Gespenster aus einer gescheiterten Vergangenheit heimsuchen. In den Begriff des Sozialismus scheinen der Verrat und das Festhalten an der Emanzipation eingeschrieben: Das Versprechen des Sozialismus verbleibt in einer Abwesenheit, in einer Vergangenheit, die das sich je und je wiederholende Scheitern einer Zukunft ist, die sich nicht in einer Wiederholung des Immergleichen erschöpft.

Wer heute jemandem vorwirft, dass er den Sozialismus verraten habe, der stellt alles in Frage – und zugleich nichts. Wer würde heute noch von sich behaupten, dass er eine unkritische oder traditionelle Theorie betreibe, so dass er von einem Verratsvorwurf getroffen sein könnte? Oder anders gesagt: Wer sich heute noch mit Leidenschaft um den Begriff des Sozialismus streiten will, den umgibt ein bestimmtes Odeur. Es näher zu bestimmen, wird unsere Aufgabe sein, schließlich geht es uns um die Frage, wie eine Aktualisierung kritischer Theorie, ihrer Mittel und Weisen des Tuns zu bestimmen ist, vielmehr noch: was das Ziel dieser Theorie sein könnte.

Nicht wenige Rezensionen dieses Werks enden damit, dass dies doch nicht der wahrhafte Sozialismus sei; kurzum: Honneth verrate eigentlich diese Idee, indem er entweder das Scheitern des Sozialismus nicht angemessen aufarbeite oder sich in diese Tradition nicht wirklich einschreibe. Unweigerlich wirkt man dann wie ein Angehöriger jenes „Sumpf[s] der kleinen Rackets“ (Adorno) – ein Ausdruck der üblichen Zankereien im Zirkelwesen. Das Zirkelwesen, jene Reste, die sich noch zu der „einzigen“ Lesart Kritischer Theorie berufen fühlen oder zu einer Spielart des Marxismus bekennen, werden wohl kaum die Adressaten des Honneth’schen Versuchs sein. Soviel Enttäuschung muss vorweg geschickt werden. Wer sich ausgiebig mit früheren Formen Kritischer Theorie beschäftigt, wird hier wenig Neues erfahren. Honneth vermeidet die Verwicklung mit solchen Debatten. Schließlich geht es ihm um eine immanente Kritik des liberalen Denkens.

Die Aktualisierung als Verrat

Honneth beschäftigt sich implizit mit der Figur des Verräters, schließlich ist dies doch der altbewährte Vorwurf: Honneth sei der Schüler von Habermas, und mit Habermas ende das Projekt einer Kritischen Theorie, die sich noch der radikalen Veränderung der kapitalistischen Reproduktionsweise verschrieben hätte. Rufen wir uns ein paar jener dies begründenden Vorwürfe ins Gedächtnis: Die politische Ökonomie werde als System neutralisiert, Auseinandersetzungen werden in ein kommunikatives Handeln verlagert, welches auf den Zwang des stärkeren Arguments verpflichtet sei, der im gesellschaftlichen Handgemenge wie ein moralisches oder zu abstraktes Korsett wirke, dessen Geltung in actu stets wieder in Frage gestellt werden würde.

Bei aller transzendentalen Traditionalität, die diesem Neuentwurf kritischer Theorie attestiert wurde, können sich die Verächter dieser Variante die Hände reiben: Honneth verweist offen auf Eduard Bernstein, so wie schon Habermas auf seinen Neukantianismus verwies. Honneth stellt heraus, dass Bernstein den Bezugspunkt in der Tradition des Sozialismus darstelle, weil er „der einzige Intellektuelle der Arbeiterbewegung war, der […] die theoretischen Engpässe des im Industrialismus wurzelnden Sozialismus konsequent durchdacht hat; für ihn stellt die Demokratie den normativen Kern aller sozialistischen Zielsetzungen dar“. Das ist angesichts einer Geschichte der Kritik des politisch-praktischen Wirkens der Sozialdemokratie kühn, könnten hier doch Rosa Luxemburg, Karl Korsch oder andere Rätekommunisten angeführt werden.

Den Vorwurf des Verrats muss eine Aktualisierung des Sozialismus begleiten, schließlich kann das Kritische der Theorie nur in der Kritik an ihr herausgearbeitet werden. Wenn ein solches Werk nicht mehr die Diskussion darüber anstieße, ob es denn noch kritische Theorie oder der wahrhafte Sozialismus sei, wie traditionalistisch wäre dann die Menge derer geworden, die sich zur großen Veränderung bekennen? Es kann nicht darum gehen, eine Idee der kritischen Theorie oder des Sozialismus abzuliefern, mit der sich alle identifizieren können. Solche Identifikationen mögen in sich selbst homogenisierenden Gemeinschaften, die damit den glücklichen Prozess der ewigen Spaltungen durchlaufen, möglich sein – Gesellschaft ist da leider ein unermesslich weites Feld.

Wer Honneths Werk mit Gewinn lesen will, muss sich erst einmal damit abfinden, dass hier jemand alle Kriterien erfüllt, die einen Verrat am Erbe des Marxismus darstellen (es geht um einen markt-, rechts- und staatsförmigen Sozialismus, alles Gegenstände des Streits oder des Sakrilegs in manchen Traditionen). Es ist eine Fußnote, mit der uns Honneth daran erinnert, dass es ihm nicht um eine Arbeit an der Marx’schen Theorie geht, die eine andere Strenge und Weite erfordert hätte. Wie dies aber verstehen, wenn es um den Begriff des Sozialismus gehen soll?

Christoph Henning hat es in seiner Rezension auf Soziopolis so gelesen, dass Honneth den Begriff des Sozialismus in einer „Privatsprache“ reformuliere: Dessen Geschichtlichkeit sei so überhaupt nicht mehr lesbar, Honneth verdränge all jene Debatten, die bereits um seine Gegenstände zur Explikation eines Sozialismusbegriffes geführt worden seien. Darum weiß auch Honneth: „In der Summe der damit vorgenommenen Revisionen hat der Sozialismus schließlich eine Gestalt angenommen, in der die Mehrzahl seiner vormaligen Anhänger sicherlich kaum mehr werden wiedererkennen können, was sie einmal als dessen eigentliches Anliegen und theoretischen Impuls wahrgenommen haben“. Honneth spricht davon, dass man den Sozialismus von seiner „Schlacke“, seiner „Erblast“ befreien müsste.

Das sind merkwürdige Metaphern, die Honneth hier gebraucht: Von Schlacke wird etwas gereinigt; eine Reinigung ist aber keine unproblematische Tätigkeit, gerade wenn es um eine Aktualisierung geht. Die Erblast ist mit der Erbsünde verbunden, die für Honneth im Ökonomismus, geschichtsphilosophischen Determinismus und in der Hypostasierung des Proletariats als revolutionäre Kraft besteht. Diese Topoi sind nicht überraschend gewählt, schließlich sind sie bereits im Marxismus ausgiebig diskutiert worden (war ein ernsthafter Theoretiker je davon überzeugt?). Man könnte auch davon sprechen, dass Honneth hier eine Reprise dessen leistet, was seit Habermas als Kritik des Produktionsparadigmas gilt. Einen großen Teil seines Werks widmet er dieser Lesart der Tradition des Sozialismus, bezieht sich dabei auch stärker auf vormarxistische Konzeptionen, um gerade ihre Defizite bei der Modellierung einer angemessenen Form politischer Praxis herauszustreichen.

Wenn man nun innerhalb dieser Tradition streiten will, dann ist Honneths Versuch unterbestimmt. Wenn man aber seine Idee einer immanenten Kritik des Liberalismus ernstnimmt, ist seine Abkehr vom Marxismus nur sinnvoll als strategische zu lesen: Wer über Sozialismus gegenwärtig wirkend sprechen will, vollzieht diese Geste, um sich die üblichen „liberalen“ oder „traditionelleren“ Kritiken vom Text zu halten, die eben im Feuilleton, in den Akademien und anderen Institutionen für sich Hegemonie beanspruchen. Daher wird von Honneth der Bezug auf die eigene Geschichtlichkeit nicht mehr „auf der konkreten Ebene individueller oder kollektiver Subjektivität“ gesucht, sondern der

reale Vorschein des Zukünftigen dort […] lokalisier[t], wo sich Spurenelemente eines zu erwartenden Fortschritts in der Erweiterung sozialer Freiheit bereits in institutionellen Errungenschaften, in veränderten Rechtsetzungen und kaum mehr rückgängig zu machenden Mentalitätsverschiebungen niedergeschlagen haben.

Bezugspunkt seien also nicht mehr die „noch so zahlreichen Auftritte sozialer Bewegungen“, sondern etwas, was die Realisierbarkeit des Sozialismus anders verbürge. Hieran wird eine Spannung dieses Projekts deutlich: Können solche Verwirklichungen oder Institutionalisierungen ohne das Begreifen ihres Gewordenseins die Realisierbarkeit des Sozialismus versprechen?

Die Wiederkehr anderer Traditionen

Man könnte dies nun so lesen, dass Honneth sich auf eine bestimmte Objektivität des Erbes bezieht und zugleich den Bruch mit bestimmten Formen des Erbes als Strategie favorisiert. Mit bestimmten Teilen des theoretischen Erbes müsse gebrochen werden, um die Wirksamkeit kritischer Theorie und damit auch des Sozialismus so zu verändern, dass es eben besser werde. Die „jüngere“ Kritische Theorie tritt mit diesem Versprechen auf: Habermas wollte kritische Theorie so aktualisieren, dass sie den normativen Maßstab philosophischen wie auch einzelwissenschaftlichen Arbeitens auf den Begriff bringe. Das Tragische an dieser kommunikationstheoretischen Wende seit Habermas ist doch: Sie blieb ungewöhnlich „unfruchtbar“ (wie viele Arbeiten etwa der empirischen Sozialwissenschaft arbeiten gegenwärtig mit solchen Theoremen?). Das ist selbstverständlich kein abschließendes Urteil, was sich auch nicht auf seine Schüler erstrecken kann. Lesen wir es als Hinweis darauf, dass die Praxis einer Theorie nicht bloß theoretisch zu bestimmen ist – und dies bedeutet auch, dass dies nicht der Theorie als solcher zuzuschreiben ist.

Aber diese Wende, diese Formation kritischer Theorie teilt diese Tragik mit einer anderen Aktualisierung des Sozialismus: Im Neukantianismus des beginnenden 20. Jahrhunderts wurde ein „ethischer Sozialismus“ diskutiert, der verblüffende Ähnlichkeiten mit jenem   „neuen Sozialismus“ aufweist und mit einem sehr verwandten Anspruch auftrat: eine Aktualisierung zu leisten, die ihn seiner Verwirklichung näher brächte und die Gebrechen des traditionellen Marxismus überwinde. Aus bestimmten Gründen wurde diese Tradition selbst in der Sozialdemokratie verworfen – vielleicht nach einer Aktualisierung. Das ist aufzuarbeiten.

Nun stünde dem Kritiker ein Zug offen, der vieler weiterer Überlegungen bedürfte: Dieser Kantianismus ist Gegenstand einer ganzen Tradition der Revisionismuskritik, die sich in all ihren Extremen im Marxismus entfaltet hat und gerade mit der Idee der Sozialdemokratie bricht. Walter Benjamins Kritik ist dabei hervorzuheben, nicht nur weil sie für Habermas einen denkwürdigen Bezugspunkt bildet, wenn er über Sozialismus spricht. Benjamin hat unter anderem jenen Revisionismus, jene Fortschrittsgläubigkeit dafür verantwortlich gemacht, dass das Projekt der Emanzipation gescheitert ist. Habermas verweist auf Benjamin und macht seine Kritik an der „Erinnerungstilgung“ stark:

Es ist entsetzlich sowohl für das vergangene Leid und die vergangenen Opfer, die ohne die Chance einer sühnenden Erinnerung gleichsam verloren sind. Wie auch für die Identität der Nachgeborenen, die ohne ein Bewußtsein des Erbes, das sie angetreten haben, nicht wissen können, wer sie sind.

Das ist höchst bedeutsam. Zwar mag Habermas auch in seinen Hauptwerken zu einem apodiktischen Ton neigen. Zur Figur eines Bruchs mit der früheren kritischen Theorie finden wir in Interviews oder kleineren Essays Hinweise darauf, dass seine Aktualisierung des Älteren noch nicht abgeschlossen sein kann. Als ihn Honneth 1981 fragt, wie „sich kritische Wissenschaft heute vernünftig betreiben“ lasse, antwortet Habermas: „Das ist mir alles selbst nicht so recht klar.“ Im interdisziplinären Materialismus Horkheimers wollte er jedoch das Ur- oder Vorbild kritischer Theorie gefunden haben, aber wurde dies durch seinen Theorieentwurf nicht eingelöst?

Damit wird nun nicht die gesamte Theorie des kommunikativen Handelns in Frage gestellt. Es gibt jedoch einen Hinweis darauf, was noch aufgearbeitet werden müsste. Honneth erwähnt Benjamin nicht in seiner „Idee des Sozialismus“. Das ist nun kein tragisches Versäumnis. Aber Benjamins strikt rekonstruktives Vorgehen, das aus unserer Gegenwärtigkeit das sich so je verändernde Vergangene als das Gewordensein des Gegenwärtigen liest, ist in Honneths Werk mit dem Anspruch konfrontiert, dass ein Bild der glücklichen Enkel als „Triebfeder“ einer sozialistischen Bewegung zu entwerfen sei. Nur leider steht es gerade um das sozialistische Denken so schlecht, dass wir das Verhältnis von Honneth und Benjamin nicht einfach als Antagonismus lesen können. Sind sich doch beide Theoretiker in der Zielsetzung einig: Das Politische muss anders begriffen werden, um als kritische Theorie zu wirken.

Lassen wir es erst einmal auf sich beruhen: Das Erbe der älteren kritischen Theorie ist merkwürdig in dasjenige der jüngeren eingeschrieben. Vielleicht ist es eine Narbe, ein sich entfaltender Widerspruch oder ein noch nicht eingelöstes Versprechen. Wenn man aber nun Benjamins Leseanforderung annimmt, kann dies nur bedeuten, auch Honneths „Idee des Sozialismus“ als etwas zu lesen, das theoretischer Ausdruck gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist. Es ist eine Form des gesellschaftlichen Bewusstseins, das geschichtlich in diesem Handgemenge so geworden ist.

Honneths Werk ist dann von bedeutendem Interesse, wenn wir es als theoretischen Ausdruck jener gegenwärtigen Bewegungen lesen, die als DiEM, Polemos, als Kampagne Bernie Sanders oder als Regierungspolitik Syrizas für sich beanspruchen, zeitgemäße Ausdrücke eines demokratischen Sozialismus zu sein. Man kann diese Bewegungen als erneute Anläufe des Scheiterns der Sozialdemokratie im real existierenden Kapitalismus interpretieren oder einfach als: So ist es. Wer also nach einer theoretischen Explikation für diese Bestrebungen sucht, könnte durch Honneth über diese Aneignungsversuche liberalen oder sozialdemokratischen Denkens etwas lernen. Wer mit dem Vorwurf des Verrats hantiert, dass der Andere ein bloßer Reparateur eines gesellschaftlichen, auf Barbarei hinauslaufenden Räderwerks sei, obgleich Geschichte doch anderes „empfehle“, könnte sich selbst dem Vorwurf der mangelnden Reflexion der eigenen Ohnmacht aussetzen. Letztlich ist doch die „wirkliche Bewegung“ (Karl Marx und Friedrich Engels) nicht das Resultat einer besseren Theorie, sondern ein prozessierender Widerspruch, mindestens zwischen Theorie und Praxis. Und wenn der immanenten Kritik Adornos und Benjamins Wahrheit zukommt, ist diese wirkliche Bewegung wesentlich in Gestalt von anderen Theorien der Ausgangspunkt für diesen Eulenflug.

Das Anerkennen der Anerkennung

Machen wir doch einfach den kritischen Kritikern diese Lektüre richtig madig: Christoph Henning erinnert „Die Idee des Sozialismus“ an „Bad Godesberg, an Karl Popper oder Hans Freyer“. Man könnte freundlicher sagen, dass Honneth genau dies ausarbeitet, was sein Lehrer bereits vor 30 Jahren dazu sagte:

Sozialismus hat bedeutet, daß man einen nach Möglichkeit fallibilistischen, auf Selbstkorrekturen angelegten Versuch unternimmt, in kollektiver Anstrengung identifizierbares Leid, identifizierbare Ungerechtigkeit, vermeidbare Repressionen wenigstens zu verringern, d.h. Probleme, die sowieso laufend bearbeitet und so oder so gelöst werden, in einer bestimmten Perspektive zu lösen. Die Perspektive läßt sich abstrakt leicht bezeichnen: nämlich die Zerstörung solidarischer Lebensformen aufzuhalten und neue Formen solidarischen Zusammenlebens zu schaffen – also Lebensformen, die einen Kontext bieten, in dem sich die eigene Identität und die der anderen unproblematischer, unbeschädigter entwickeln kann.

Honneth verweist auf diese Überlegungen von Habermas. In nuce gibt Habermas Honneths „Idee des Sozialismus“. Und nun lesen wir das obige Zitat genau: Habermas spricht im Perfekt. Er sagt es so, dass dieser Begriff des Sozialismus kein aktualisierter sei, sondern einer Tradition entstamme. Honneth spricht nicht direkt von fallibilistischen Selbstkorrekturen, aber vom Experiment mit John Dewey (Habermas hat diese Lektüre bereits begonnen). Auch ihm geht es genau um diese „Missstände“, gegen die sich eine sozialistische Bewegung richten werde, indem eine Idee „greifbar genug ist, um die Bereitschaft zu deren experimenteller Verwirklichung zu wecken“. Honneth behauptet jedoch, dass sein Begriff des Sozialismus ein Bruch mit der Tradition sei, eine wahrhafte Aktualisierung.

Wie kann etwas eine Aktualisierung sein, wenn es das wiederholt, was Habermas im Herbst 1981 formulierte? Ist dies nun selbst als Trauerarbeit lesbar, als Erinnern dieser alten Versuche, weil sie nicht angemessen praktisch wirkten? Oder müsste man dies als eine Traditionalisierung kritischer Theorie lesen, die so nicht mehr als Zeitdiagnose, sondern selbst als Verwaltung des Erbes lesbar wird? Für eine Verwaltung des Erbes spricht, dass Honneths Argumentation letztlich auf die Aktualisierung der Habermas’schen „Öffentlichkeit“ als Medium einer solchen Bestrebung hinausläuft. Von daher ist es auch nur folgerichtig, dass Honneth der kommenden sozialistischen Bewegung empfiehlt, sich nach dem Vorbild von „Amnesty International oder Greenpeace“ zu organisieren. Mit Henning könnten wir nun konstatieren, dass dies eine merkwürdige „Vision“ eines Sozialismus ist, da eine solche institutionalisierte Öffentlichkeit schließlich bereits verwirklicht sei.

Zugegeben: Man brächte sich um die Pointe, ginge man so vor. Ein besserer Anfang könnte sein, Honneth gegen Honneth zu lesen. Wenn man sich der Kritik erinnert, die er in jüngeren Jahren am Entwurf der Habermas’schen Theorie des kommunikativen Handelns geübt hat. Dann wird die „Idee des Sozialismus“ spannend, denn damals wendet Honneth gegen Habermas ein, dass die angedachte Theorie des kommunikativen Handelns merkwürdig abstrahiere:

Ich sehe nur einen Mangel dann, wenn sich eine solche Analyse nicht mehr rückübersetzen läßt in das Feld sozialer Auseinandersetzungen zwischen Kollektiven und Akteuren. Wenn man die verschiedenen Rationalitätsdimensionen in der Moderne auf diese Weise aufgefächert hat, dann müßte man doch fragen, welche Rationalisierungswege durch bestimmte kollektive Akteure vorangetrieben werden, wie das gespeicherte Wissen, z.B. von Machteliten, monopolisiert wird, und wie dadurch das soziale Schichtengefüge selbst konstituiert wird. Fächert sich dann die soziale Realität nicht auf in soziale Auseinandersetzungen um Rationalitätsmonopole?

Und Habermas antwortet darauf wieder mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit: „Sie skizzieren ein Programm, gegen das ich keine Bedenken habe, wobei wir uns einig darüber sind, daß es dafür noch eines ungeheuren Anlaufs bedarf.“

Habermas wird einen solchen ungeheuren Anlauf nicht mehr nehmen. Das hat er selbst gesagt, als er sich mit der Hegel’schen Konzeption der Sittlichkeit beschäftigte, um dieses Problem zu lösen. Habermas umgeht das Hegel’sche Erbe, vielleicht bricht er mit ihm. Honneth ist insofern ein luzider Schüler, da er genau dieses Projekt umsetzte: Er hat es unter dem Problemtitel „Kampf um Anerkennung“ niedergeschrieben. Es hebt folglich damit an, wie die gesellschaftlichen Kämpfe in ihrer Heterogenität zu fassen sind. Bei Habermas wird das Problem bemängelt, dass er diese Heterogenität homogenisiere, da er letztlich unterschiedslos von Bürgern sprechen müsse, wenn diese sich dem „zwanglose[n] Zwang des stärkeren Arguments“ überließen. Habermas formuliere also letztlich einen Maßstab, der genau diesen Kämpfen enthoben sei, wenn es eine solche Objektivität gebe, mit der das stärkere Argument wirke. Das unterbietet aber die Aufgabe kritischer Theorie, da ein solcher Maßstab nicht einfach überzeitlich oder transzendental gestiftet werden kann. Dieses Problem sieht der frühe Honneth.

Und jetzt kommen wir zur Pointe: Diesem Problem ist nicht nur eine Tradition des Marxismus oder der kritischen Theorie gewidmet. Wir müssten nun ausgiebig von Hegel sprechen und all den Lesarten, die sich mittlerweile um den Begriff der Anerkennung gebildet haben. Man könnte nun auf nicht wenige Kritiken verweisen, die sich auch explizit mit Honneths Aneignung dieses Begriffes beschäftigen (Alexander García Düttmann und Volker Schürmann sind hier zu nennen, die von sehr unterschiedlichen Positionen aus dasselbe Problem entfalten). Der frühe Honneth kritisiert doch das, was Albrecht Wellmer so formulierte, dass bei Habermas Streit und Konsens nicht als „Gleichursprüngliches“ gedacht werden würden. Das bedeutet in Fortführung der Honneth’schen Gedanken, dass Assoziationen, Parteien oder Organisationen im kommunikativen Handeln in steter Auflösung begriffen sein müssten, da sie sich in ihm nur als Mündige und Selbstkritische, letztlich als vereinzelte Einzelne begegnen, was als Modellierung der wirklichen gesellschaftlichen Praxis unangemessen ist.

Honneth entfaltet eine Anerkennungstheorie, die dieses Problem reformuliert. Es wurde kritisiert, dass Honneth so den Hegel’schen Begriff des Kampfes um Anerkennung unterbiete: Honneth spricht von einer Wechselseitigkeit der Anerkennung, so als ob sich zwei Identitäten gegenüberstünden, die sich dann als diese eine Identität wechselseitig anerkennten. Der Vollzug des Anerkennens kann aber bei Hegel so gelesen werden, dass diese Identitäten als sich so begegnende erst wirklich in diesem Vollzug selbst sind: Außerhalb des Vollzugs, außerhalb dieses Handgemenges ist überhaupt nicht von diesem oder jenem als einer Identität zu sprechen. Von Identität als diesem Vollzug ist nur im Verhältnis von Identität und Nichtidentität zu sprechen (anders ausgedrückt: Konsens und Streit sind gleichursprünglich). Wir könnten diesen Zug des Honneth’schen Denkens so lesen, als ob er das Problem von Habermas genau benennt, aber dann dieses Problem auf einem anderen Tableau, vielleicht sogar höherstufig wiederholt: Letztlich läuft es auf eine Bürgerschaft oder eine Einheit als Akteur, auf eine Identität hinaus – auf die Nacht, in der alle Katzen grau sind. Damit ist Honneth eine Kritik des Liberalismus geglückt, eine Darstellung seiner Widersprüchlichkeit.

This endless call for papers

Denkt Honneth nun doch den Sozialismus als Gemeinschaft, wenn nur noch unterschiedslos von Bürgern zu sprechen ist? Dagegen spricht sein Beharren auf der Differenziertheit der modernen Gesellschaft und die Abkehr von einer „kollektive[n] Subjektivität“, die dies schon richten könnte oder den Sozialismus „in sich“ trage. Honneth weiß um die Probleme der Hypostasierung der Theorie: „[D]roht dort die Gefahr des Avantgardismus oder Elitismus, so hier die des Populismus“. Es ergeben sich produktive Widersprüche, wenn man dies mit dem Frühwerk zusammenliest. Honneth geht es in seinem Spätwerk um die Formulierung einer Theorie als eine Art „Steuerungszentrum“, als „ethisches Projekt“. Wenn es nämlich nicht mehr den einen Akteur des Sozialismus gebe, müsste sich eine „Pluralität von funktionsspezifischen Akteursgruppen“ bilden, die aber in ihrer eigenen Verbundenheit Gefahr läuft, sich im Laufe der Zeit wieder aufzulösen, so „daß unserem gesellschaftstheoretisch aufgeklärten Sozialismus der eine zentrale Ansprechpartner verlorenzugehen droht“. Honneths Begriff des Sozialismus teilt sich daher.

Michael Weingarten stellt in seiner Lektüre von Honneths „Das Andere der Gerechtigkeit“ dar, dass wir ein bestimmtes Verhältnis annehmen müssen: Keine Bewegung sei per se emanzipatorisch, es „müssen zwei Orientierungen zusammen kommen: Einmal die auf Bewegungen bezogenen Reflexionen von der Theorie-Seite aus; zum anderen die in den Bewegungen selbst stattfindenden Reflexions-(Bestimmungs-)prozesse.“ Theorie ist so nicht abgelöst von diesen „Akteursgruppen“, da die Kritische Theorie keine „quasi göttliche Perspektive auf das Treiben in der Welt“ einnehmen kann: Die „reflexiven Bemühungen von der Theorie-Seite selbst [sind] innerhalb der sozialen Wirklichkeit, als auf derselben Ebene wie die reflexiven Bemühungen der Bewegungen [zu] positionier[en].“ Es ist nun die Frage, ob diese Deutung auch für das Honneths Spätwerk gilt.

Honneth benennt klar dieses Problem, wenn wir die Theorie-Seite hypostasieren: Er will schließlich nicht, dass solche Gedanken „als starre, jedem Wandel entzogene Zukunftsvision mißverstanden werden; wie alle antizipierenden, auf die Gestaltung der Zukunft bezogenen Elemente der neuen Lehre muß auch diese ‚oberste’ Leitvorstellung als ein pures Orientierungsschema begriffen werden, das nur die Richtung vorgibt, in der experimentell nach institutionellen Möglichkeiten der Umsetzung gesucht wird“. Wie ist aber ein solches „pures Orientierungsschema“ in der Praxis entstanden, wie ist es überhaupt zu gebrauchen?

Vielleicht könnte man dies als konkrete Utopie im Sinne Ernst Blochs lesen, vielleicht markiert dies aber auch eine Hypostasierung der Theorie. Man müsste einmal genau untersuchen, wie sich Honneths „Idee des Sozialismus“ wirklich entfaltet, wie seine Korrekturen zu verstehen sind, dass es einer „Instanz der reflexiven Steuerung“ bedürfe, so dass der Sozialismus zweifach auftrete: „als ‚politisch’, ethisch neutralisierte Lehre“ und, „gegenüber seinen je konkreten Adressaten, nur in Gestalt einer lebensweltlich voll ausbuchstabierten, sinnerzeugenden Theorie“, da der Sozialismus nur so wirksam werden könne. Ist dies ein dialogisches Verhältnis zwischen der Lehre und der von „organischen Intellektuellen“ (Gramsci) getragenen Theorie, zwischen Kritikern und Bewegung? Tradiert dies die Fallstricke der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas oder überschreitet es diese vergangene Aktualisierungsform?

Vielleicht hätte es Honneths Werk griffiger gemacht, wenn er konkret auf die Kritiken an seinem „Recht der Freiheit“ eingegangen wäre. Aber warum muss er dies? Auch die jüngere Kritische Theorie wird erst wirklich kritisiert sein, wenn sie sich selbst aufgehoben hat oder nur noch als eine Tradition dieser Familiengeschichte erscheint, die die jetzige Zeit nicht mehr in Gedanken fasst. Hier hilft keine Geste weiter, dass dieser Verrat doch schon längst bekannt sei. Offenkundig ist er es nicht, und die Selbstverständlichkeit, mit der gewisse Formen kritischer Theorie verworfen werden, ist Anzeige einer Aufgabe und nicht eines Resultats.

Bevor man einen Erbschaftsstreit beginnt, inwiefern nun diese ganzen Aktualisierungsbemühungen gescheitert seien, man doch zu jener oder dieser Theoretikerin zurückkehren müsse, sie endlich im Original zu lesen hätte, sei gesagt: Das kann man alles tun. Es gibt noch sehr viel zu schreiben, mindestens zum Marx’schen „Kapital“, zur Hegel’schen „Logik“ und zu den sie betreffenden Manuskripten Lenins. Wenn sich aber kritische Theorie einer Aktualität verschreibt, wenn sie ihre Gegenstände wirklich treffen will, in gesellschaftlichen Verhältnissen wirkt, dann sucht sie sich gute Wirte. Sie ist mit Würde Parasit der Institutionen. Eine kritische Theorie, die sich der Institutionalisierung verweigert, ist die Anerkennung einer sehr angezählt wirkenden Verelendungstheorie. Vielleicht müsste kritische Theorie nicht nur den Freund als Feind denken, sondern auch den Gegner als Freund. Sie müsste sich so auf die gegenwärtigen Formen kritischer Theorie beziehen, dass sie wieder als deren immanente Kritik lesbar wird: als prozessierendes Sich-Widersprechen der kritischen Theorie selbst. Vielleicht müsste man eine solche kritische Theorie so schreiben, dass man sie gar nicht als der Feind des Bestehenden erkennt, sondern erst einmal als schneidenden Einwand anerkennt.

Eine solche kritische Theorie wird es nur in einer Polyphonie und dem Handgemenge geben, oder um es eingedenk all der Extreme zu sagen: Erst wenn die Karrieristen wieder kritische Theorie betreiben, wird man sagen können, es hätte sich ihre Aktualisierung vollzogen. Und bis dahin sind eben die gegenwärtig so-wirkenden Formen kritischer Theorie der Anfang des Bezugs auf das Erbe – zumindest wenn Wahrheit einen Zeitkern hat und die konkrete gesellschaftliche Praxis das Medium dieser theoretischen Anstrengungen ist. Sie versprechen, etwas auszusagen über die gegenwärtigen Kräfteverhältnisse und darüber, was Gegenstände einer solchen Praxis sein könnten. Versprechen haben eine ihnen eigentümliche Logik: Honneths Versuch einer Aktualisierung liefert dafür viele Anfänge. Sie ist Ausweis dafür, dass es zum lebendigen Erreichen des Sozialismus nicht die eine Strategie geben wird.

Titelbild

Axel Honneth: Die Idee des Sozialismus. Versuch einer Aktualisierung.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
168 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518586785

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