Die Deutung des Rituals

In „Satin Island“ sucht der britische Künstler und Schriftsteller Tom McCarthy nach nichts Geringerem als der Entschlüsselung der Gegenwart

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Große Literatur, so muss man immer wieder aufs Neue erkennen, ist meist mit nicht zu unterschätzenden Anstrengungen verbunden. Sie fordert ihre Leser heraus und zwingt sie zu Auseinandersetzungen mit Themen, die diesen bislang fremd waren oder auf wenig Interesse stießen. Gerade, wenn Literatur die Gegenwart abbilden will, jene komplexe, diversifizierte Zeit in der wir leben, muss sie Dinge wagen, welche die Lektüre zunächst nicht zwingend zu einem Vergnügen machen. 

Das Komplexe, Undurchdringliche an Tom McCarthys neuem Roman Satin Island ist, dass der Autor ein anthropologisches Konzept und keinen Plot im engeren Sinne in den Mittelpunkt stellt. Seine Hauptfigur, ein Ich-Erzähler, der sich dem Leser nur als „U.“ vorstellt, ist Anthropologe und arbeitet bei einem Weltkonzern, von dem nicht einmal er selbst weiß, was dieser genau verkauft: Beratung, Ideen, Konzepte – nur zu welchem Zweck? Auch seine eigene Aufgabe ist nur unklar umrissen. Sein mysteriöser Chef Peyman hat ihm den Auftrag erteilt, den „Großen Bericht“ zu verfassen, ihm aber nicht gesagt, was er sich genau darunter vorstellt. Und auch wenn U. bisweilen mit dem Gedanken spielt, Peyman erlaube sich nur einen Scherz auf seine Kosten, nimmt er seine Aufgabe doch ernst: Er sammelt. Nur was er da genau sammelt, ist ihm nicht ganz bewusst. In der zentralen Szene des Buches trifft er auf eine alte Studienkollegin, die mittlerweile das Anthropologische Museum in Frankfurt am Main leitet; diese zeigt ihm eine riesige Lagerhalle voller kultureller Artefakte aus der ganzen Welt. Es beginnt eine Diskussion über die wahre Methode der Anthropologie. Während die Studienkollegin auf das Sammeln und Analysieren konkreter Gegenstände setzt, interessiert sich U. ausschließlich für Rituale und ihre Deutung. Beflügelt von diesem Gespräch, das er als Bestätigung der Überlegenheit seiner Methode deutet, glaubt er, sein Projekt starten zu können. 

Und so vermengen sich verschiedene Narrative, die U. in den Anfangsszenen des Romans zufällig und ohne erkennbaren Zusammenhang begegnet sind, zu einer gigantischen Suche nach Bedeutung: Eine Nachrichtenmeldung über einen Ölteppich vor einer schneebedeckten Küste, eine weitere Meldung über den mysteriösen Tod eines Fallschirmspringers, die Krebserkrankung eines engen Freundes, eine unbedeutende, kleine Lücke in der Biographie seiner Geliebten – warum und worauf hat sie 2001 am Flughafen von Genua gewartet? –, sowie die Geschichte hinter der glatten Asphaltierung von Pariser Innenstadtstraßen. Er versucht zunächst, die Ereignisse isoliert zu betrachten, ihre Bedeutung zu entschlüsseln, eine Erklärung des jeweiligen „Rituals“ zu finden, das ihnen zugrunde liegt. Er konstruiert dabei etwa eine Weltverschwörung der Fallschirmspringer, die seiner Ansicht nach Russisches Roulette spielen. Oder er deutet den Ölteppich von einer ökologischen Bedrohung zu einer ästhetischen Befreiung um. Dann beginnt er, diese scheinbar nur ihn persönlich betreffenden Handlungsstränge zu verknüpfen, denn er ist sich sicher, dass hier die Antwort zu der Beschaffenheit des „Großen Berichts“ verborgen liegt. U.s Suche ist eine stete Suche nach Bedeutung, die ihm jedoch immer wieder verwehrt wird. Der kurze Roman kulminiert schließlich in der Entschlüsselung des Genua-Narrativs seiner Geliebten, einer mysteriösen, nun tatsächlich rituellen Geschichte, die letztlich aber nur neue Rätsel aufwirft. Am Ende hat er einen Traum von einer riesigen Müllverbrennungsanlage und glaubt sich seinem Ziel ganz nahe. 

McCarthy hatte schon mit 8 ½ Millionen einen atemberaubenden, großartigen Debütroman verfasst, aber erst bei Erscheinen von K. wurde ihm vor einigen Jahren  auch in Deutschland größere Beachtung geschenkt. Mit Satin Island werden sich viele seiner damals gewonnenen Leser schwer tun, weil er, wie anfangs erwähnt, eher das Ausprobieren einer selbst entworfenen anthropologischen Theorie – mit zahlreichen Querverweisen, vor allem auf Claude Levi-Strauss – darstellt als einen handlungsreichen Roman. Doch dies wertet das Buch keineswegs ab. Für problematisch könnte eher ein anderer Umstand erachtet werden: McCarthy orientiert sich konzeptionell, strukturell und sprachlich doch sehr stark an Don DeLillo, vor allem an dessen Meisterwerk The Names und dem nicht minder faszinierenden Spätwerk Point Omega. Gerade in Ersterem steht ebenfalls die Frage nach der Funktionalität eines anthropologischen Konzepts im Mittelpunkt, der Konflikt zwischen rationaler Datenerhebung und emotionalem Durchleben des Rituellen. Aber darüber kann hinweggesehen werden, denn McCarthy überträgt die Handlungsstränge von DeLillos 1982 erschienenem Buch auf die Gegenwart. Sehen wir es also großzügig als Hommage und freuen uns über einen komplexen, schwer zu durchdringenden, aber unglaublich erkenntnisreichen Roman.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Tom McCarthy: Satin Island. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Melle.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016.
224 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783421047182

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