Die Idylle trügt

Mit „Unterleuten“ gelingt Juli Zeh ein großer Gesellschaftsroman, der als Schauplatz nicht mehr benötigt als ein winziges Dörfchen im Brandenburgischen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unterleuten heißt das Dorf im Brandenburgischen, welches Juli Zeh für ihren neuen Roman erfunden hat. Und unter Leuten spielt das Buch, das mit über 600 Seiten das bisher umfangreichste der Autorin ist. Abseits gelegen im märkischen Sand, umgeben von Siedlungen mit seltsam poetischen Namen wie Seelenheil, Wassersuppe oder Regenmantel, wird der Flecken in Zehs erstem Gesellschaftsroman – der „literarischen Königsdisziplin“, in der sie sich schon immer einmal versuchen wollte, wie die Autorin kürzlich in einem Interview bekannte – zu einem Mikrokosmos unserer Zeit.

In 62 Kapiteln, verteilt auf sechs Romanteile, und erzählt aus den individuellen Perspektiven von einem guten Dutzend auf unterschiedliche Weise in das Unterleutener Dorfleben integrierten Personen – Einheimischen und Zugewanderten, Männern und Frauen, Alten und Jungen, Menschen mit und Menschen ohne DDR-Vergangenheit – veranstaltet Zehs Roman großes Welttheater im Kleinen. Das geht nicht gänzlich ohne Klischees ab, weil die Autorin es den meisten ihrer Figuren kaum erlaubt, sich aus ihren Rollen herauszuentwickeln, es sei denn durch Unfall- oder Freitod, erweist sich unterm Strich aber als solide geknüpftes und spannungsreich beschriebenes Netz aus menschlichen Beziehungen, Abhängigkeiten und Konflikten, hinter denen sich aktuelle gesellschaftliche Nöte und Probleme verbergen.

Als Brandbeschleuniger für die in Unterleuten schwelenden Gegensätze nutzt Zeh die auf viele deutsche Städte und Gemeinden zukommende Notwendigkeit der Errichtung von Windparks im Zuge der Energiewende. Großartig versteht es die Autorin in einer über fast einhundert Seiten sich hinziehenden Szene, die unterschiedlichen Positionen der in der Dorfgaststätte, dem „Märkischen Landmann“, fast vollständig versammelten Einwohner gegenüber den die ländliche Idylle zerstörenden Windkraftanlagen zu verdeutlichen. Vor allem hier bewährt sich die Entscheidung Zehs, für den klassischen Gesellschaftsroman nicht den typischen allwissenden Erzähler zu inthronisiert zu haben. So lernt der Leser nicht nur gleich zu Beginn des Romans die meisten Handlungsträger kennen, sondern kann sich auch sofort ein Bild davon machen, wes Geistes Kind der Einzelne ist und welche vorprogrammierten Konflikte hinter den vertretenen Meinungen lauern.

Dass auch bei jenen, die die Energiewende prinzipiell begrüßen, das Ende des Wohlwollens spätestens dann erreicht ist, wenn eine oder mehrere der sperrigen Anlagen sich in ihrer Wohnnähe zu drehen beginnen, hat jeder, der mit dem Phänomen in den vergangenen Jahren konfrontiert wurde, schon einmal erlebt. Aus ökologisch denkenden Grünen werden urplötzlich Konservative. Und was vorher unvermeidlich war, wird, wenn es unversehens näher rückt, zunächst einmal mit Argumenten zu bekämpfen versucht:

Windkraftanlagen zerstörten nicht nur die Landschaft, töteten Vögel und beeinträchtigten die Gesundheit der Anwohner. Sie waren auch unwirtschaftlich und ergaben in ökologischer Hinsicht überhaupt keinen Sinn. Da sich Strom nicht effizient speichern ließ, führte die Unzuverlässigkeit des Windes zu einer miserablen Energiebilanz.

Es sind nicht die alteingesessenen Unterleutener, welche sich dem Projekt am vehementesten entgegenstellen, sondern vor allem die Zugewanderten, Großstadtflüchtlinge mit tollen Plänen für einen Neuanfang auf dem Land. Während der Bürgermeister des Fleckens im Kopf schon überschlägt, wie viel die klamme Gemeinde an zusätzlichen Steuern durch einen Windpark einnehmen könnte, und andere mit ihrem plötzlich wertvoll gewordenem Stückchen Land zu schachern beginnen, machen sich ein resoluter Tierschützer und eine junge Frau, die sich mit großen Plänen für eine Pferdezucht trägt, daran, das Vorhaben von Anfang an zu torpedieren.

Innerhalb von knapp zwei Sommermonaten im Jahr 2010 – die auch in Unterleuten ankommende Nachricht von der Katastrophe bei der Duisburger Loveparade vom 24.Juli 2010 hilft dem Leser bei der zeitlichen Einordnung des Textes – kulminiert schließlich der Streit. An die Stelle von Worten tritt immer mehr bloße Gewalt. Das kurzzeitige Verschwinden eines Kindes sorgt für Pogromstimmung im Volk. Und je nachdem, auf welche Seite sich der Einzelne der von Zeh in all ihren Eigentümlichkeiten und Marotten so wunderbar wie lebensnah beschriebenen Dorfbewohner stellt, wird jede Gelegenheit beim Schopfe ergriffen, die Gegner zu verärgern. Auch wenn man dazu den ganzen Tag mit dem lärmenden Rasenmäher im Kreis fahren, stinkende Autoreifen am Zaun zum Nachbarn verbrennen oder mit dem Auto den Zugang zu dessen Jauchegrube blockieren muss – Hauptsache man setzt seinen Kopf durch.

Was die Jungen mit all ihrem Idealismus freilich übersehen: Hinter den Kulissen halten nach wie vor zwei alte Männer die Fäden in der Hand. Schon zu DDR-Zeiten stellten Kron und Gombrowski die beiden Pole dar, an denen jeder andere im Dorf sich auszurichten hatte. Scharten sich um den zähen Altkommunisten Kron die ewig Unzufriedenen, denen allein das richtige Weltbild zu Geltung und Ansehen verhelfen sollte, war der massige Gombrowski mit seinem Fachwissen immer derjenige, der sich am Ende durchsetzte. Der kaum in die LPG zu kriegen war, dann aber deren Kurs bestimmte – mit und gegen Kron, welcher im Dorf die Partei, aber nicht den wirtschaftlichen Sachverstand repräsentierte. Und während Gombrowski nach dem Untergang der DDR die Gunst der Stunde nutzte, um die veraltete Produktionsgesellschaft in eine moderne GmbH umzuwandeln und so zum heimlichen Herrscher Unterleutens wurde, in dessen Händen sogar der Bürgermeister weich wie Wachs war, versammelten sich um den ewiggestrigen Kron jene Unzufriedenen und sich für zu kurz gekommen Haltenden, die nach der Euphorie, die der Systemwechsel zunächst mit sich brachte, im Neuen für sich keinen Platz mehr fanden.

„Die Zeit der alten Männer ist vorbei“, heißt es an einer Stelle gegen Ende des Romans. Das mag wohl richtig sein. Doch bevor sie endgültig abtreten, liefern sich die beiden Patriarchen, die – jeder für sich – über Jahrzehnte hinweg ihre Abhängig- und Gefälligkeitsnetze, in die die anderen Gemeindemitglieder sich heillos verstrickten, aufgebaut haben, noch einen letzten Kampf. Der führt nicht nur sie selbst in den Untergang, sondern mit ihnen auch jene, für die Unterleuten einst die Zukunft darstellte, zu deren Gestaltern sie sich auserkoren sahen.

Zeh hat in ihren Roman alles hineingepackt, was unsere Gesellschaft aktuell bewegt: die Klimakatastrophe und das Internet, Energiewende und Fremdenfeindlichkeit, den Drang zum Individualismus und die damit einhergehende Tendenz der Entsolidarisierung, Stadtflucht und Dorfverklärung, Ost und West, Stasi und Bodenspekulation, Literatur und Realität, Netzwerken und Pferdeflüstern, Whistleblowing und Verrat. Manchmal will einem scheinen, dass das alles ein bisschen zu viel des Guten ist, weniger vielleicht mehr wäre. Muss es denn wirklich so blutig symbolgeladen enden? Doch dann reißen eine wunderbare Szene, ein exakt auf den Punkt gebrachter Dialog oder die ausgeprägte Fähigkeit der Autorin, aus ihren Figuren heraus die Welt zu sehen und auf deren Herausforderungen gedanklich zu reagieren, das Ganze wieder heraus. Und man kommt zu dem Schluss: Wenn der große Gesellschaftsroman mit seinem Hang zu traditionellen Erzählweisen überhaupt noch unserer Zeit angemessen sein soll, dann nur so, wie Zeh ihn hier handhabt. Und verfilmbar ist das Ganze sowieso.

Titelbild

Juli Zeh: Unterleuten. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2016.
639 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783630874876

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