Die letzten großen Ferien

Gewalt und Melancholie in Stephan Reichs Debüt „Wenn‘s brennt“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was prägt einen Menschen, zumal einen jungen? Klar, da sind die Eltern, die Familie, die Erziehung. Dann die Lehrer, Mitschüler, das gesamte schulische Umfeld. Das Entdecken der Sexualität. Medien, Musik, Bücher. Die Gesellschaft. Viel Stoff für Autorinnen und Autoren, um daraus Texte zu machen, die die Jugend, das Heranwachsen, die Konflikte beschreiben, spätestens seit Robert Musils „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ ist das so. In der jüngsten deutschen Literatur manifestiert sich dieses Motiv in zwei besonders auffälligen und erfolgreichen Büchern, in Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ und in Bov Bjergs „Auerhaus“. Stephan Reich hat nun mit seinem literarischen Debüt „Wenn‘s brennt“ dieser Variante des Entwicklungsromans ein weiteres Buch beigefügt. Keine Bange, diese Besprechung wird nicht in jedem zweiten Satz auf die Unterschiede zu den genannten Bestsellern eingehen, sie sollen lediglich den Platz im Buchregal anzeigen, wo auch „Wenn’s brennt“ stehen könnte.

Wie in Florian Wackers Roman „Dahlenberger“ geht es auch hier um die letzten großen Ferien (siehe auch Günter Ohnemus‘ gleichnamigen Geschichtenband im Maro Verlag). Im Zentrum des Buches stehen die Freunde Erik und Finn. Erik und sein behinderter Bruder Tim leben bei den Eltern, der Vater arbeitet bei der Post, wo auch Erik nach den Ferien eine Ausbildung anfangen wird. Finn dagegen ist ein Scheidungskind, er lebt bei seiner Mutter, doch mit Beginn des neuen Schuljahres soll er zu seinem Vater nach Hamburg ziehen. Der Grund: Er hat seinen Kunstlehrer, den „ekligen Walter“ vor versammelter Klasse k.o. geschlagen, weil er ihn und seine Mutter beim Sex überrascht hatte – für Finn ein nachhaltig unerträgliches Vorkommnis.

Um diese Beiden gruppiert Stephan Reich noch ein paar weitere Jugendliche; da ist Nina, die ein sehr inniges und leicht esoterisches Verhältnis zu ihrer Mutter hat und die so gern mit Erik eine tiefere Beziehung hätte. Dann ist da der russischstämmige Sascha, den alle Nelson nennen, dessen scheinbare Tumbheit und Jähzornigkeit täuschen, der für sich und seinen – ebenfalls behinderten – Bruder ein gutes Leben bei der Großmutter haben möchte. Und da „Wenn‘s brennt“ ­ – der Titel deutet durchaus an, dass dieses Buch nicht nur von heiteren Streichen und harmlosen Späßen handelt – in der Provinz spielt, ist es nicht weit ins nächste Kaff, wo es eine große Party bei einem Typen gibt, dessen Eltern im Urlaub sind. Dort zeigt sich ein erstes Mal, wozu gerade der unberechenbare und ständig kurz vor der Explosion stehende Finn in der Lage ist – eine originelle und vielleicht auch irgendwie witzige Szene, die allerdings massive Folgen haben wird. Folgen auch für Erik, dem viele Aktionen seines Freundes zu heftig, zu unkontrolliert sind, der jedoch den Kumpel nicht im Stich lassen kann. An Eriks Zwiespalt zeigt Reich sehr eindrücklich auf, wie sich die Leben der beiden Jungs entwickeln könnten, man würde gern ein Sequel lesen, das die Beiden mit 25 zeigt. Der Autor, der unter anderem Soziologie studiert hat, schildert Jugendliche, die nahezu vollständig von ihren Eltern abgekoppelt leben, die das Elternhaus, wie auch immer es gestaltet ist, lediglich als Versorgungseinrichtung wahrnehmen. Er zeigt aber auch, dass die Eltern dies mehr oder weniger widerspruchslos hinnehmen, keinen wirklichen Einfluss mehr auf ihre Kinder haben. Alkohol in großen Mengen, Pornos aus dem Netz – das scheint Alltag in deutschen Jugendzimmern und an den improvisierten Treffpunkten zu sein. „Wenn‘s brennt“ stellt eine Gruppe relativ perspektivloser Jugendlicher vor, die trotz weiterführender Schule oder demnächst beginnender Lehre keine großen Träume zu haben scheinen und deren Eltern nicht als Vorbilder taugen.

Da die Jugendlichen die Ferien (bis auf eine Ausnahme) am Ort verbringen, wird in diesem sehr lesenswerten Romanerstling auch schnell deutlich, wie zäh und öde ein so unstrukturierter Zeitabschnitt werden kann. Erik und Finn hängen oft am sogenannten Schotter ab, haben Alkohol dabei, warten, ob sonst noch jemand von der Clique auftaucht. Oder sie sitzen bei Finn zu Hause, rauchen einen Joint nach dem anderen und schreiben fiktive Bewerbungen. Die Bewerbung beim „Engel-Magazin“ beendet Finn mit dem Postskriptum „Mein Vater ist bei den Gelben Engeln, gilt das als Referenz?“. Die an die Fleischerei Müller beginnt er mit einem Witz: „Kommt ein Typ zum Fleischer und sagt: „Ein Pfund von der fetten Groben, bitte.“ Sagt der Fleischer: ‚Geht nicht, die hat heute Berufsschule.‘“ Hier zeigt sich Reichs Einfallsreichtum und Pointensicherheit. Überhaupt sind seine gesamten Beschreibungen von Orten, Plätzen, Zimmern, der Schule sehr exakt, was den Text äußerst lebendig macht. Und diese Lebendigkeit bekommt noch einmal kräftig Schub durch die Sprache. Was wie authentische Jugendsprache mit extrem viel Fäkalvokabular und „Ausdrücken“ wirkt, ist eine genau dosierte und immer rhythmisch ausgewogene Kunstsprache, die so wahrscheinlich von niemandem gesprochen wird. Autor und Lektorat haben wohl lange daran gefeilt, was man dem Text aber an keiner Stelle anmerkt. Im Gegenteil: „Wenn‘s brennt“ liest sich absolut flüssig, baut mächtig Spannung auf und verblüfft durch ruhigere Passagen, zum Beispiel wenn Nelson vom Universum erzählt oder haarklein einen sogenannten Backdraft beschreibt (im Gegensatz zu Erik, der ständig daran denkt, was er alles nicht oder nicht mehr richtig weiß und sich deshalb andauernd sagt, er müsse „das mal googeln“, weiß Nelson richtig Bescheid). Die sprachliche und kompositorische Sicherheit hat Stephan Reich sich durch Zeitschriftenbeiträge und seine Arbeit als Redaktuer bei „11 Freunde“, aber auch durch seine erfolgreiche Teilnahme bei diversen „Open Mike“-Veranstaltungen der Literaturwerkstatt Berlin erworben, außerdem erschien von ihm vor zwei Jahren der Lyrikband „Everest“. Sein Romandebüt ist weit weg von einem Jugendbuch oder einem Buch für junge Erwachsene. „Wenn‘s brennt“ ist eine sprachmächtige und bezwingende Bestandsaufnahme dessen, wie die heutige Jugend lebt.

Titelbild

Stephan Reich: Wenn’s brennt. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016.
236 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783421046987

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