Die Begehrenshierarchie unterlaufen

Fließende Identitäten: Antje Rávic Strubels Episodenroman „In den Wäldern des menschlichen Herzens“ und die von Andreas Erb herausgegebene Anthologie „Antje Rávic Strubel. Schlupfloch Literatur“

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie sind unterwegs, immer in Bewegung, unstete Reisende im Urlaub oder gar in einem neuen Leben auf einem neuen Kontinent, die Figuren im neuen Roman „In den Wäldern des menschlichen Herzens“ von Antje Rávic Strubel. Sie durchqueren skandinavische oder brandenburgische Seen, den Strand an der Ostsee oder den kalifornischen Wüstensand, und immer wieder spielen Wälder eine Rolle, die nordischen Wälder mit ihrem „ungeheuren Fichtenbestand“ oder die Seqoias im gleichnamigen kalifornischen Nationalpark.

Dabei sind es weniger die realen Orte, die eine Rolle spielen, es sind eher Seelenlandschaften, wie es der Titel schon nahelegt, und so ist es auch möglich, dass die „schwebenden Bäume“ des Sequoia Nationalparks mitten in Manhattan auftauchen. Die Landschaften sind Metaphern der inneren Bewegungen, für fiktive Reisen und fließende Identitäten der Figuren. Denn das ist das eigentliche Thema in diesem Episodenroman oder „Erzählmosaik“, wie die Autorin an anderer Stelle ihr Buch nennt: Es geht um Identitäten in der Schwebe, im Wandel beziehungsweise um die Kontruiertheit vermeintlicher Identitäten. Denn die Figuren in diesem Roman sind alle in einem Dazwischen, sind Frauen, die Frauen lieben, oder Frauen, die Männer lieben, die Frauen sind – Kategorien, die nicht passen, die künstlich sind, die eine Ordnung herstellen wollen, die es so gar nicht gibt, so wie die Warnschilder an den Eingängen amerikanischer Nationalparks, die eine Grenze markieren „zwischen dem, was die Menschen als natürlich ansahen und der eigentlichen Natur“, und die im Grunde nur ein Barometer waren für den „Grad der menschlichen Angst vor der Wildnis“.

Spielerisch und leicht geht es in den Geschichten um Liebe und Sex zwischen Frauen sowie – wie in vielen von Strubels Büchern – um Spielarten weiblicher Männlichkeit, um Transidentitäen, Transgender und Transsexualität, ohne dass dies je explizit oder gar mit politisch besetzten Begriffen benannt würde. Nur an einer Stelle ist von Katjas von ihr selbst so genannten „Generalüberholung“ die Rede, der „Umschichtung von Muskeln, Fett und Körperhaar“. Und Emily wünscht sich die „Einführung einer neuen Lesart von Geschlecht als ästhetischer Kategorie, als reines Attribut von Schönheit“. Eine Utopie wie die Abschaffung des Großkapitals, die sie im gleichen Atemzug nennt – eine Utopie fließender Gender: „Boygirlish. Drifting“ sind Emilys Worte für ihre neue Geliebte René.

Die Figuren wechseln nicht nur ihre Wohnorte und Lebensräume, sondern auch ihre Beziehungen, sie tauchen wie in einem bunten Reigen – die Erzählungen erstrecken sich über mehrere Jahre – immer wieder in anderen Konstellationen auf: Katja und René, René und Emily, Emily und Leigh, Leigh und Faye, Faye und Helen, Helen und Suse sowie Faye und Helen und Suse in einer Dreierkonstellation bis hin zu Katt (Katja) und ein namenloses Ich, das vielleicht Emily oder aber jemand ganz anderes ist. Aber unter/hinter diesem munteren Karussell steckt bei aller Leichtigkeit eine strenge Komposition. Nicht nur einzelne Figuren tauchen in den jeweiligen Geschichten über die Jahre hinweg immer wieder auf, sie spiegeln sich auch gegenseitig, bestimmte Sequenzen werden in anderen Fügungen wieder aufgenommen. Genau wie die Landschaften sich ähneln, aber nicht die gleichen sind, verändern sich auch die Personen, ein Spiel mit verschiedenen Facetten von (Geschlechts-) Identitäten, Weiblich- und Männlichkeiten, Uneindeutigkeit.

Auf einer Sub- oder Metaebene geht es um das Schreiben selbst. René, die Figur, die in den verschiedenen Sequenzen am häufigsten vorkommt, ist Autorin, arbeitet an einem „Crossover zwischen einem klassischen Reiseführer und einer fiktiven Reise“ und erschließt „die uferlose Tiefe jenseits der Kartographie. Dort, wo‘s Koordinatenfreiheit gibt“. Während sie sich ganz am Anfang, in der ersten Geschichte, eher noch vorstellt, eine Autorin zu sein, liest sie später in New York aus ihrem fertigen Buch.

Und auch Katt, der in der ersten Geschichte noch Katja war, schreibt als „Katjuscha“ Geschichten, die seine namenlose Gefährtin entdeckt. Es sind mehrere, untereinander verbundene erotische Geschichten, die reine Phantasie waren oder vielleicht schon existierten, die allgemein im Umlauf waren, so mutmaßt die Gefährtin, „und die Katt nur übernommen und weiterentwickelt hatte.“

Ein literarisches Konzept, das die Autorin in dem Sammelband „Antje Rávic Srubel. Schlupfloch: Literatur“ näher beleuchtet: Wir

schreiben uns in existierende Geschichten hinein, benutzen die konventionellen literarischen Mittel, folgen der Machart bis hinein in die Satzstruktur, um sie dann auszuhöhlen. Wie wäre es, berühmte short-stories durch Verschiebung von Topoi und Begehrensdynamik umzuformen? Die Begehrenshierarchie zu unterlaufen. Überlagerungen, Dopplung, Vieldeutigkeiten der Blicke möglich werden zu lassen. Begehren unabhängig vom Biologischen hervorzubringen. Aufbau und Thema, Sätze und Satzfragmente zu übernehmen, um sie […] oszillierend zu überschreiten. […] Ein Pendeln also. Ein Schaukeln, das Unvereinbares miteinander in Schwingung versetzt.

Und weiter: „Was wäre, wenn wir ein Erzählmosaik entwürfen, das die Form der Short Story subvertierte? Im gewohnten das Unvertraute, im Wiedererkennen den Abgrund sichtbar machten, mitten ‚In den Wäldern des menschlichen Herzens‘? Müsste das nicht einen irrealisierenden Effekt haben auf das, was uns so selbstverständlich scheint?“

Der von Andreas Erb herausgegebenen Band ist eine Fundgrube für verschiedene Lesarten und Subtexte in den Werken von Antje Rávic Strubel und versammelt literatur- und kulturwissenschaftliche Analysen ihrer Bücher, angefangen beim Erstling „Offene Blende“ (gelesen mit Susan Sontag). Er liefert politische und sozialkritische Lesarten und beleuchtet die Konstruktionen von Transgeschlechtlichkeit und „weiblicher Männlichkeit“ in Werken der Autorin. Hinzu kommen Selbstauskünfte Strubels und ein Interview. Eine gute Basis für die (Re-)lektüre früherer Werke der Autorin. Oder, wie eine Figur im neuen Roman der Autorin es ausdrückt: „Du guckst dir die Sache aus der Wurzelperspektive an. Du gräbst dich heimlich von unten in die Dinge rein.“

Titelbild

Andreas Erb (Hg.): Antje Rávic Strubel. Schlupfloch: Literatur.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2016.
192 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783849811532

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Titelbild

Antje Rávic Strubel: In den Wäldern des menschlichen Herzens. Episodenroman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
270 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783100022813

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