Das sind doch wir

Thomas Glavinic gelingt es in „Der Jonas-Komplex“, drei Biografien zu einem Ganzen zu verbinden

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wer wir sind, wissen wir nicht. Beim letzten Durchzählen kam ich auf mindestens drei Personen, die jeder von uns ist. Erstens die, die er ist, zweitens die, die er zu sein glaubt, und drittens die, für die ihn die anderen halten sollen. Als ich aufwache, geht es mir so elend, dass ich mit keinem der drei etwas zu tun haben will.“ Thomas Glavinic gelingt es in seinem aktuellen Roman „Der Jonas-Komplex“ wie kaum einem anderen Gegenwartsautor, dass man bereits nach wenigen Sätzen seinem Erzählkosmos vollkommen verfällt. Neu ist das indes nicht, doch fragt man sich achselzuckend, wie er das immer wieder so scheinbar souverän und mit leichter Hand schafft. Dass man im „Jonas-Komplex“ auf altbekannte Figuren trifft, ist ebenfalls nicht neu. Ein Novum ist jedoch, dass der Fokus dieses Mal nicht nur auf einem Protagonisten liegt, sondern gleich auf dreien – und diese verwebt Glavinic auf unnachahmliche Art und Weise miteinander.

Doch der Reihe nach: Der erste Erzählstrang widmet sich einem drogen- und alkoholabhängigen Wiener Schriftsteller, bereits bekannt aus Glavinics „Das bin doch ich“, der am Neujahrstag in seiner Wohnung neben einer ihm völlig unbekannten Frau aufwacht. Das ist nichts Ungewöhnliches für ihn: Aufgrund seiner exzessiven Räusche fehlen ihm zuweilen ganze Tage, an die er sich nicht mehr erinnern kann. Zwischendurch lässt ihn der Autor – mit einem Augenzwinkern – gar an seiner eigenen Existenz zweifeln: „Die Déjà-vus zähle ich nicht mehr. Ich bin vermutlich tot. […] Oder ich war nie am Leben und bin eine Romanfigur. Irgendetwas, das erzählt wird“ – eine Fiktion der Fiktion sozusagen. Seinen Alkohol- und Drogenkonsum penibel in einem Kalender vermerkend schlittert der Schriftsteller ziel-, rast- und planlos durchs Leben: von einem Ort zum anderen, von einer Frau zur nächsten. Einzige Konstante (neben den Exzessen und seinem Konsum verschiedenster Psychopharmaka) sind seine Exfrau, die sich weiter rührend um ihn sorgt, und besonders sein Sohn, im Roman lediglich „das Kind“ genannt.

Parallel dazu erzählt Glavinic die Geschichte eines dreizehnjährigen Jungen, der in der Weststeiermark bei einer alkoholsüchtigen und ihn sexuell missbrauchenden Frau aufwächst, die er nur spöttisch „Uriella“ nennt, weil sie aussieht „wie die durchgedrehte Chefin der Fiat-Lux-Bewegung“. Überzeugt davon, ein Fremdkörper in seinem eigenen Leben zu sein, vergräbt sich der hochsensible und verunsicherte Junge meist in seinem Zimmer, denn „Begegnungen mit den Gestalten, die Uriella mit nach Hause bringt, verlaufen selten erfreulich“. Er liest ein Buch nach dem anderen, widmet sich dem Schachspiel oder denkt an seine verstorbene Großmutter – oder an M., in die er heimlich verliebt ist. Immer wieder beschäftigt er sich mit dem Tod: In der Schule hält er ein Referat über die effektivsten Arten, Suizid zu begehen, fragt sich, was nach dem Tod geschieht und entwickelt mit der Zeit eine regelrechte Todessehnsucht. Nicht nur in Gedanken ist der Jugendliche diesem nahe, sondern auch in der Realität: Als ihm beim Baden der Föhn in die Wanne fällt, rettet ihm nur die Sicherung das Leben.

In einer dritten Geschichte knüpft Glavinic direkt an seinen letzten Roman „Das größere Wunder“ an, in dem Jonas, der Protagonist, den Mount Everest erfolgreich bezwingt und parallel dazu auch gleich noch seine große Liebe Marie wiederfindet. Damit nicht genug: In „Jonas-Komplex“ wartet schon die nächste Herausforderung auf ihn, der Marsch zum Südpol. Diesmal aber zu zweit, mit Marie. Zuvor jedoch jettet Jonas noch fröhlich durch die Welt, von einem Ort zum anderen – Geld genug hat er ja, daran soll es nicht scheitern. Schließlich bittet er seinen Anwalt Tanaka, ihn in der Welt ‚zu verstecken‘. Der Kreativität scheinen dabei keine Grenzen gesetzt: Jonas erwacht als Freiheitsstatue im Jemen, in einem unbemannten Zug in den Weiten der mongolischen Steppe, in Hiroshima, in einem Haus ohne Fenster, auf einer einsamen Insel (eine der schwächsten Passagen des gesamten Romans) und an einer Felswand hängend in Patagonien. Wie die beiden anderen Protagonisten schwebt dieser dritte immer wieder in Lebensgefahr. Doch nicht der Tod macht ihm Kummer, sondern das Glück; Jonas hat „Angst vor dem Glück“, weil er fürchtet, es wieder zu verlieren, so die etwas banale Botschaft am Ende des Romans.

Das Atemberaubende an Glavincs Roman ist nicht die Handlung selbst, sondern vielmehr die spannende und mitreißende Art, wie diese erzählt wird. Der Autor vermag es, mit wenigen Worten Bilder zu zeichnen, die einen noch tage-, ja wochenlang nicht loslassen. Er entwirft ein komplexes Geflecht aus Verweisen und Andeutungen zwischen den drei Erzählsträngen, sodass es bald scheint, als seien die drei Protagonisten ein und dieselbe Person. Vieles verbindet die drei denn auch tatsächlich miteinander: Das Rastlose ist nicht nur Jonas zu eigen, sondern auch dem Schriftsteller, der seinem Leben immer wieder mithilfe verschiedenster Exzesse zu entfliehen droht – und auch der Jugendliche in der Steiermark träumt sich stets an einen anderen Ort oder in ein anderes Leben. Sie leiden in unterschiedlicher Ausprägung am titelgebenden Jonas-Komplex, einem nach der biblischen Jonas-Figur benannten Phänomen aus der Psychologie, das die Angst vor der eigenen Größe beschreibt. Alle drei loten die Grenzen des Menschlichen aus: sei es durch Reisen an die extremsten Orte dieser Welt, Drogenkonsum oder Todessehnsucht. Des Weiteren ist ihnen die Einsamkeit ein gemeinsamer Begleiter: Dem verwaisten Dreizehnjährigen fehlt die Bezugsperson – diejenigen, die ihm etwas bedeuten, befinden sich nicht in Reichweite oder sind bereits tot –, Jonas fürchtet sich vor dem gemeinsamen Glück mit Marie, und selbst die Welt des Wiener Schriftstellers ist letztlich eine zutiefst solitäre, trotz der Freunde und Frauen, die sein Leben (zufällig) kreuzen.

Vieles deutet darauf hin, dass der steirische Jugendliche und der Wiener Schriftsteller identisch sind (der Vater in Berlin, die serbokroatischen Wurzeln, die Angst vor Gespenstern und die Leidenschaft für das Schachspiel), doch bei Glavinic kann man sich nie hundertprozentig sicher sein. Tatsache ist, dass es dem Autor überzeugend gelingt, die Geschichten der unterschiedlichen Figuren so miteinander zu verweben, dass aus drei äußerlich unzusammenhängenden Teilen ein Ganzes entsteht, in dem kein Erzählstrang gegenüber dem anderen dominiert.

Neben den intertextuellen Verweisen auf frühere Werke des Autors sind, vor allem im Blick auf die Schriftstellerfigur im Roman, die Bezüge zu seiner Person unübersehbar. Nicht nur die die Lokale in Wien sind in der Realität und der Fiktion dieselben, sondern auch die Freunde – genannt seien hier nur Werner Tomanek und Daniel Kehlmann, der im Roman selbstüberhebliche Nachrichten an den Protagonisten schreibt – finden sich in beiden Welten wieder. Glavinic treibt das autobiografisch-fiktionale Verwechslungsspiel so weit, dass sich sogar die Facebook-Statements gleichen. Der österreichische Autor ist für seine zum Teil anstößigen Kommentare bekannt; sein Protagonist scheut sich denn ebenfalls nicht, ein „Danke an alle Frauen, die 2014 mit mir geschlafen haben“ zu posten. Trotz solcher Parallelen ist eines nicht zu vergessen: Der „Jonas-Komplex“ lebt zwar von seinen autobiografischen Verweisen, ist aber dennoch ganz klar ein fiktionales Werk.

Wie bereits in „Das bin doch ich“, rechnet Glavinic auch in seinem neuesten Streich mit dem Literaturbetrieb ab. So heißt es beispielsweise zu Günter Grassʼ Tod im letzten Jahr: „Ein berühmter Schriftsteller ist gestorben. Auf Facebook stapeln sich die RIP-Meldungen. Der Schwarm bekundet seine Trauer. Als hätte irgendeiner von denen in den letzten zehn Jahren ein Buch von ihm gelesen. Was ich gut verstehen kann, denn ich mag diese Strickjäckchenschriftsteller auch nicht, geschweige denn, was sie schrieben.“ An einer anderen Stelle ist von bekannten Autoren die Rede, deren Romane den Protagonisten jedoch nicht zu fesseln vermögen: „Lauter Teflonprosa. Gefällige Geschichten kluger kühler Menschen, die nie ein Risiko eingehen würden.“ Thomas Glavinic ist mit „Der Jonas-Komplex“ definitiv ein Risiko eingegangen, eines, das sich gelohnt hat. Denn sein Roman ist alles andere als „Teflonprosa“. An ihr bleibt man haften, von der ersten bis zur letzten Seite.

Titelbild

Thomas Glavinic: Der Jonas-Komplex. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2016.
748 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783100024640

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