Bedeutungsumschlag in Konsumwandelhallen

Uwe Lindemanns Symptomatologie zeigt, was der Streit um die Moderne im Warenhaus alles sah

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Uwe Lindemann promovierte als vergleichender Literaturwissenschaftler mit einer großen Studie zu den Wüstenvorstellungen in Literaturen und Kulturen von der Antike bis zur Moderne. Vom weitgehend leeren Raum, von den asketischen Erlebnissen und den Symbolwerten der Wüste als terra incognita oder als Ort religiöser oder ästhetischer Erfahrungen denkbar weit entfernt ist das Kaufhaus als Lokal der Fülle und des Konsums.  Über das Warenhaus und seine Verhandlungen in allerlei literarischen oder fachwissenschaftlichen Diskursen um 1900 hat der in Bochum lehrende Komparatist nun ein weiteres lesenswertes Buch verfasst. Dieses beruht auf breit angelegten Lektüren vielfältigster Textzeugnisse und sie argumentiert und theoretisiert pointiert in viele Richtungen.

Lautet die zentrale Frage für den Warenhaus-Architekten und mehr noch für den Kaufhaus-Betreiber, was alles angeboten werden soll und in welcher Ordnung dieses Sortiment dargeboten werden kann, so stellt sich eine analoge Herausforderung an den Kulturwissenschaftler als Diskursanalytiker. Nach welchen Fragen, Motiven oder Ordnungsrastern soll die Fülle der Sprechakte in fachspezifischen Spezialdiskursen, in der Warenhauswerbung, aber auch in literarischen Repräsentationen dieses seit Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommenden neuen Raums der städtischen Öffentlichkeit und des beginnenden demokratisierten Konsums strukturiert und ausgebreitet werden? Welcher Fokus wird für die Beobachtungen gewählt? Welche Fragen werden an das Gewimmel des Warenhauses gestellt und an das vielstimmige Reden und Schreiben darüber, das auch literarisch in allen Gattungen – Lyrik, Theater, Roman und Erzählungen – seine Spuren hinterließ? Welchen Zeitabschnitt wählt man für die Beobachtung des Wandels im Einzelhandel, für den die Erfindung des modernen Warenhauses die wohl bedeutendste Zäsur vor dem aktuellen Aufkommen des Internethandels darstellt? Lindemann wählt die Zeit zwischen 1880 und 1940 und analysiert vor allem deutsche Quellen. Er blickt aber auch immer wieder mit hilfreichen Vergleichen auf die Entwicklung in den USA und Frankreichs, seltener auch in andere europäische Länder.

Interessieren den Forscher wie in manch früherer Studie zum Kaufhaus und zur Entstehung der modernen Konsumgesellschaft vor allem die neuen Geschlechterverhältnisse? Dann findet er Frauen als schlecht bezahlte Verkäuferinnen in Ländern wie Deutschland und Amerika (weniger in Frankreich, wo die Mehrzahl der Verkäufer lange männlich war). Doch Frauen prägten auch als neue Hauptkäufergruppe das Kaufhaus und die erregten Debatten darüber. Interessieren den Forscher vorrangig die ökonomischen Innovationen des schnellen Warenumsatzes, wodurch selbst bei geringen Margen üppige Gesamtgewinne ermöglicht wurden? Gilt das Augenmerk den Zusammenhängen zwischen veränderter Warendistribution und beginnendem Massenkonsum mit dem damaligen Schub der Globalisierung und des Kolonialismus im 19. Jahrhundert? Dann stößt man auf die internationalen Handelswege aber auch auf symbolische Inszenierungen exotischer Warenwelten. Oder interessiert den Betrachter der Kaufhausszene um 1900 einfach alles, „nichts als das Ganze“, wie es eine der in ihrer bunkerartigen Bleibe steckenden Figuren in Samuel Becketts Endspiel so schön formulierte? Lindemanns Studie interessiert sich für das alles. Sie wählt einen denkbar weiten Blickwinkel, indem sie das Warenhaus als bedeutenden „Schauplatz der Moderne“ beobachten und begreifen möchte. Wie der Kunde im Warenhaus erwartet, alles anschauen und alles kaufen zu können, so möchte dieses Buch tendenziell alles über das Warenhaus berichten und mit heutigen Theoriefiguren interessant machen.

Die Studie ist gegliedert in eine prägnante Einleitung zur wirtschaftlichen Bedeutung und zur politisch-steuerrechtlichen Behandlung der Kaufhäuser um 1900. Diesen sollten zum Schutz des vermeintlich bedrohten kleinen Fach- und Einzelhandels Steuern nicht wie üblich auf den (relativ schmalen) Gewinn, sondern auf ihren (üppigen) Umsatz aufgebrummt werden. Es folgen knappe Erläuterungen zur breiten Materialbasis der Studie und zu ihrer Interpretationsmethode, die rund ums Kaufhaus vor allem ein wirkmächtiges Metaphernsystem und spezifisch ideologisch aufgeladene Erzählstrategien rekonstruieren möchte. Die These lautet, dass das Warenhaus wie kaum eine andere Institution als herausragendes Symbol zahlreiche Konfliktfelder der Moderne und des sozialen Wandels verkörpere. An den im Warenhausdiskurs verwendeten Kollektivsymbolen und den schematisch organisierten Narrationen würden sich historische Ängste und Wünsche ablesen lassen; im Streit ums Warenhaus würden neue Rollenverteilungen zwischen den Geschlechtern und zwischen sozialen Schichten besonders markant sichtbar.

Als herausragenden und besonders wirkmächtigen Text für die soziale Verständigung über das Warenhaus erkennt Lindemann Emile Zolas 1883 publizierten und 1884 auf Deutsch erschienen Roman Le Bonheur des Dames (deutsch als Das Paradies der Damen). Was machte diesen naturalistischen Roman so attraktiv und relevant auch für allerlei psychologische, ökonomische und politische Fachdebatten über das Warenhaus? Lindemann erklärt überzeugend, wie geschickt Zola spannende Narrative über Angestelltenkonkurrenz und über Konsumentinnen-Psychologien verbindet mit seiner klassisch strukturierten Eheanbahnungsgeschichte der Verkäuferin Denise mit dem Warenhausbesitzer Mouret. Zudem gelinge es dem Franzosen die „teilweise wenig anschaulichen Vorgänge im Warenhaus symbolisch zu verdeutlichen: Sonderverkaufstage werden als Kriegsschlachten beschrieben“, das Kaufhaus werde als Raubtier und Monster verbildlicht, wahlweise auch als Dampfmaschine oder (Konsum-)Tempel; während das Konkurrenzverhalten der Angestellten als darwinistischer Lebenskampf geschildert wird. Die dramatische Kampfsemantik präge gleichermaßen die Sphären der Arbeit, der Konsumentinnen und der Konkurrenz von Kleinhandel und Warenhaus.

Dass Zolas Roman so häufig zum Bezugspunkt auch fachlicher Spezialdiskurse über das moderne Warenhaus werden konnte, sei nicht nur dem breiten populären Erfolg des Buches geschuldet. Lindemann erklärt diese erstaunlich prominente Rolle eines Romans im allgemeinen Diskurs mit dessen Netz von Detailbeschreibungen, die Authentizitätseffekte hervorrufen. Dabei bleibe Zolas naturalistischer Roman, auch wenn er auf Recherchen beruhe, letztlich doch ein fiktiver Text, dessen Erfolg sich aus der Kombination von elementaren Narrationen (des Kampfes, der Arbeit, des Konsumierens, der Liebe) erklären lasse. Zolas Le Bonheur des Dames wird von Lindemann als der bei Weitem wichtigste und wirkmächtigste Text über das Warenhaus ausgemacht. Doch als „diskursbegründenden Text“ mag er den Erfolgsroman dann doch nicht einstufen, trotz der „Reihe von Metaphern, Modellen und Szenen“, die Zolas Narrativ entwerfe und die von späteren Debatten immer wieder aufgegriffen wurden.

Ein zweiter ästhetisch dem Höhenkamm der europäischen Literatur zugerechneter Roman kommt mit Gustave Flauberts Madame Bovary in den Blick. Emma Bovarys Konsumverhalten (das sich Mitte des 19. Jahrhunderts und zudem in der Provinz noch nicht im Kaufhaus ausleben konnte, sondern weitgehend auf Angebot und Verführungskünste eines mobilen Händler angewiesen war) beschreibt Lindemann als Modell modernen Konsumierens, dem es nicht primär um die konsumierten Dinge an sich und auch nicht um den Repräsentationswert der Objekte gegenüber der Gesellschaft geht, sondern um einen Hedonismus, der vor allem eigene Gefühle steigern und konsumieren möchte. Dabei spielt die (oft exotische) Herkunft der begehrten Konsumobjekte eine wichtige Rolle, wobei die Warennamen von Stoffen, Parfums oder Kosmetika diese ferne Herkunft evozieren und somit die Imagination der Konsumentin stimulieren. Neben Flauberts und Zolas kanonischen Romanen erachtet Lindemann die Vielzahl der anderen von ihm gefunden und ausgewerteten literarischen Texte, vor allem Erzählwerke, aber auch einige Dramen und Gedichte, für ästhetisch und poetisch nicht besonders wertvoll. Er gesteht ihnen dann auch keine gesonderte Erwähnung zu, sondern betrachtet sie als Partikel im allgemeinen Diskurs über Warenhaus, Moderne und Konsumwandel.

Im Hauptteil der Studie wird die Darstellung der zahlreichen Einzelbeobachtungen an ihren hunderten von Quellentexten aller Gattungen in zwei Hauptflügel mit recht abstrakten Überschriften aufgefächert: Dem Flügel der innovativen Bedrohungen durch „Figuren der Transgression“ werden auf 130 Seiten die Kapitel „Konsumistische Praxis“, „Pathologie(n) der Moderne“, „Ökonomie und Weiblichkeit“ sowie „Warenhauspolitik“ unterstellt. Während der Gegenflügel der „Figuren der Limitation“ auf 110 Seiten fünf ebenso heterogen scheinende Kapitel verzeichnet. Diese reichen von „Konsumexpertinnen und Konsumdilettanten“ über „Warenhauskultur“ und „Verlusterzählungen“ bis zu den „Gegenwelten“ (die sich um reine Liebe aber auch um sozialistische oder genossenschaftliche Konsummodelle drehen können) und zum Kapitel über „Familienökonomie und Globalisierung“. Die Grundidee dieser Gliederung mittels Sortierung der Diskurspartikel in einen Flügel der Transgression – also jener diskursiven Motive, die auf Auflösung althergebrachter Differenzen und Ordnungsvorstellungen verweisen und meist mit einer Kritik am modernen Warenhauswesen einhergehen, weil diese Ordnungsauflösungen Ängste hervorrufen – und den tendenziell warenhausfreundlichen und eher fortschrittsoptimistischen „Figuren der Limitation“, ist nicht immer leicht nachvollziehbar. So wird die Angst vor der Macht der Trusts unter „Familienökonomie und Globalisierung“ im zweiten Flügel verhandelt, während die thematisch verwandten Diskursstichworte der ‚Amerikanisierung‘ und der ‚Ethnifizierung des Warenhauses‘ (worunter vor allem antisemitische Attacken zählen) als „Warenhauspolitik“ am Ende des ersten Flügels als Transgressionsfiguren analysiert werden.

Zu den Figuren der Transgression zählen auch hedonistische Konsumpraktiken (die man fürchten oder begrüßen kann) sowie ein Verständnis von Liebe als Konsum; gleichzeitig aber auch pathologisierende Figurationen des Konsums als Symptom der Moderne, so der kollektive Kaufrausch, der Exzess und die Ansteckung. Unter den Transgressionsfiguren verortet Lindemann zudem sein Kapitel zu den Weiblichkeitsnarrativen. Diskutiert werden hier die Stereotypen über Verkäuferinnen, der neue Beruf des Mannequins und ihres Körperkapitals, das faszinierend kontingente, weil scheinbar leistungslose Einnahmen ermöglicht, ferner auch die zunehmende Autonomie der vorwiegend weiblichen Käuferinnen. Aspekte der Geschlechterrollen, insbesondere der Unterwerfung oder Ermächtigung neuer weiblicher Handlungsspielräume durch neue Konsumwelten werden jedoch auch als Figuren der Limitation betrachtet, etwa mit der Beschreibung weiblicher Kompetenzen als Konsumkulturarbeiterin oder als ‚Konsumtechnikerin und Familienökonomin‘, die über spezifisches Waren- und Wertwissen verfügen. Während der erste Flügel vornehmlich die warenhauskritischen Schilderungen und Projektionen von Gefährdungspotenzial durch die neuen Konsumstätten (etwa Kaufsüchtige, Kleptomaninnen, der Promiskuität und Prostitution verfallende Verkäuferinnen) im Hinblick auf die jeweils verwendeten ideologischen Implikationen und rhetorischen Verfahrensweisen bespricht, finden sich im zweiten Flügel verstärkt die affirmativen Diskurse zum modernen Massenkonsum. Schaufensterdekorateure präsentieren wie Werbedesigner die Produkte mit ästhetischen Techniken, die in vielem der Kunst und der künstlerischen Avantgarde verwandt sind. Das Kaufhaus wird von manchen Betreibern dem Museum nahegerückt, etwa indem es einem Volksbildungsauftrag mit Ausstellungen nachkommt. Die große Warenauswahl biete anschauliche Geschmacksbildung und die günstiger verkauften Produkte seien mitnichten alle Schund (womit der polemische Gegenpol zu Qualität und gutem Geschmack benannt wäre).

In seiner Konklusion fasst Lindemann einige seiner Ergebnisse zusammen und pointiert das Verhältnis zwischen historischen Fakten und der Wirkungsgeschichte von Symbolen und Narrationen, die sich um das Warenhaus als ein Phänomen ranken, an dem die Moderne sich in ihrer Ganzheit zeige, weswegen die Kaufhäuser auch besonders heftig umstritten waren. Demnach

zeigt diese Studie die außerordentliche Beharrungskraft von bestimmten, an das Warenhaus geknüpften Kollektivsymbolen und -narrationen, die über Jahrzehnte hinweg, ja teilweise bis heute Geltung beanspruchen, obwohl man deren Richtigkeit aufgrund historischer ‚Fakten‘ leicht widerlegen könnte. Hier wäre an den Untergang des Kleinhandels durch die Warenhäuser, an die Amerikanisierung der Welt qua Konsum, die Kleptomanin oder den Kaufdilettanten zu denken, um nur einige Beispiele zu nennen. Das heißt, die ‚wahre‘ Geschichte des Warenhauses ist – das zeigen alle diese Beispiele – gerade nicht die seiner historischen ‚Fakten‘, sondern im Gegenteil die seiner symbolischen und erzählerischen Überhöhungen, Verfremdungen und Zuspitzungen, also diejenige Geschichte, welche die kollektiv-imaginären Vorstellungen vom Warenhaus als ‚zentrale[s] Signum der modernen Konsumgesellschaft‘ ausmachen.

Die Untersuchung versteht es, beide Seiten der Geschichte des Warenhauses zu beleuchten, indem sie mit ihrer Durchsicht breit gestreuter Quellenmaterialien sowohl Hinweise auf Fakten sowie wirtschaftshistorische Daten und Zahlen liefert, indem sie aber vor allem die Projektionen und Ängste erhellt, die sich kondensierten in den symbolischen Zuspitzungen und den Verzerrungen der Erzählmuster über diese neuen, großen Konsum- und Arbeitsstätten.

Welche umfangreichen Recherchen und Sammelarbeiten dieser Warenhaus-Studie zugrunde liegen, offenbaren die beiden voluminösen Bibliografien am Buchende: Nahezu 30 Seiten an Forschungsliteratur zum Themenfeld plus 20 Seiten an Quellen werden hier gelistet. Wobei unter Quellen diskursanalytisch eben Textzeugnisse aller Art aus der untersuchten Epoche von 1880 bis 1940 zählen: von Romanen und Erzählungen über Lexikonartikel, Aufsätze und Zeitungsartikel bis zu Warenhauskatalogen und Steuergesetzblättern.

An dieser grundlegenden Schrift zum Kaufhaus als Symbol und Kampflatz der Moderne-Diskussionen wird künftig keiner, der sich mit der Kultur- und Literaturgeschichte des Konsums eingehender befassen möchte, vorbeikommen. Doch erweist sich die Benutzbarkeit dieser Schatzgrube ohne präzise Schatzkarten als etwas problematisch. Das Buch glänzt mit seiner Materialfülle und mit zahlreichen einleuchtenden Beobachtungen an einzelnen Sozialphänomenen sowie mit seinen meist einleuchtenden Interpretationen und Einordnungen literarischer Texte. Wer das Buch liest, lernt mithin einiges über die gesellschaftlichen Debatten der Jahrhundertwende sowie über die Vielzahl an literarischen Reflexen, in denen die moderne Arbeits- und Konsumwelt des Shoppings meist kritisch verhandelt wurde. Doch macht die nicht immer gut nachvollziehbare Gliederung des Materials eine historisch orientierte (an den Stadien des Wandels der Konsumverhältnisse orientierte) Lektüre ebenso schwierig wie eine genuin literaturwissenschaftliche Lektüre, der es um die Poetik oder Motivik der einzelnen Romane, Erzählungen und Theaterstücke geht.

Für den Kaufhausdiskurs wichtige Romane wie Margarete Böhmes W.A.G.M.U.S. (1911), Robert Saudeks Dämon Berlin (1907), Max Freunds Der Warenhauskönig (1912), Manfred Georgs Aufruhr im Warenhaus (1928) werden irgendwo in diesem großen Buch in ihrem Handlungsentwurf und ihrer ideologischen Ausrichtung vorgestellt und charakterisiert. Auch tauchen sie in den diversen thematisch fokussierten Kapiteln immer wieder auf. Doch findet der Leser die einzelnen Beobachtungen zu diesen Romanen kaum wieder. Im Inhaltsverzeichnis werden die Texte nicht erwähnt. Man kann den Erzählwerken als solchen nur mühsam gründlicher nachgehen, weil dieser Studie auch kein Register angehängt wurde, das gerade beim vorliegenden analytischen Zugriff mittels thematischer Aufsplitterung einzelner Texte in mannigfaltige diskursive Aspekte mehr als hilfreich gewesen wäre.

Titelbild

Uwe Lindemann: Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne.
Böhlau Verlag, Köln 2015.
377 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783412225346

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