Ein unglaubliches Tempo

Der Band „Drucke in der Schaubühne/Weltbühne“ dokumentiert das gute Fortschreiten der Kritischen Robert Walser-Ausgabe

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Robert Walser ist vor allem durch seine Romane „Geschwister Tanner“ (1907), „Der Gehülfe“ (1908) und „Jakob von Gunten“ (1909) bekannt. Sieht man von dem erst später entstandenen und spät entdeckten Roman „Die Räuber“ (1925) sowie den verschollenen Romanen „Tobald“ und „Theodor“ einmal ab, konzentriert sich die Phase, in der sich Walser an größer angelegte Prosatexte gewagt hat, auf gerade einmal drei Jahre. Den weitaus größeren Teil an seinem Werk machen die in einem Zeitraum von mehr als 30 Jahren entstandenen kurzen Prosastücke aus. Man kann durchaus der Meinung sein, dass Walsers Alltagsbeobachtungen und die assoziativ und intuitiv entwickelten eigentümlichen Sprachformen, die den Walser’schen Reiz ausmachen, gerade in seinen kurzen Prosatexten besonders gut zur Entfaltung kommen, weil sich Sprachformung und -fluss von gattungsimmanenten Gestaltungsprinzipien lösen können, etwa Handlungsstränge und Figurenprofile über eine längere Strecke konsistent zu entwickeln.

Von 1898 bis in die 1930er-Jahre hat Robert Walser mehr als 1.000 dieser kurzen Prosatexte in über 100 verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht. In der Abteilung II der Kritischen Robert Walser-Ausgabe (KWA) werden sämtliche Beiträge des Autors in Zeitschriften erfasst. Der vorliegende Band II.3, der zehnte der auf circa 50 Bände angelegten Kritischen Ausgabe, versammelt 63 Walser-Texte, die in der von Siegfried Jacobsohn in Berlin herausgegebenen Zeitschrift „Die Schaubühne“, 1918 umbenannt in „Die Weltbühne“, publiziert wurden. War „Die Schaubühne“ zunächst als reine Theaterzeitschrift konzipiert, entwickelte Jacobsohn ihr Themenspektrum später weiter, das dann die Felder Politik, Kunst und Wirtschaft umfasste.

Die Walser-Texte werden nach den Erstdrucken und damit den rezeptionsrelevanten Texten chronologisch, von 1907 bis 1921, ediert. Hingewiesen wird auf Zweitdrucke, wenn Walser die Texte etwa für weitere Zeitschriftenpublikationen nutzte, sowie auf Manuskripte, soweit sie erhalten sind; im vorliegenden Fall betrifft das fünf der 63 Texte. Um den Veröffentlichungs- und Rezeptionskontext darzustellen, haben die Herausgeber den Walser-Texten das jeweilige Inhaltsverzeichnis der betreffenden Zeitschriftenausgabe vorangestellt.

Die Stücke Robert Walsers – aufgenommen wurden auch jene, die unter seinem Pseudonym „Kutsch“ im satirischen Teil der Zeitschrift unter der Rubrik „Kasperletheater“ erschienen, sowie Texte der Rubrik „Theaternachrichten“, bei denen die Walser’sche Urheberschaft nicht ganz gesichert ist – sind in Form, Inhalt und sprachlicher Komposition überaus vielfältig. Viele frühe Texte haben gemäß der ursprünglichen Ausrichtung der „Schaubühne“ Theaterbezug, zum Beispiel „Was ist Bühnentalent?“ (1907) oder „Was braucht es zu einem Kleist-Darsteller?“ (1907). Andere Texte befassen sich mit den für Walser typischen Alltagsbeobachtungen, etwa „Liebespaare“ (1921) oder „Eisenbahnfahrt“ (1920), oder sind fiktionale Prosastücke, die auf knappstem Raum Schnappschüsse aus einem Geschehen beschreiben: „Schloss Sutz“ (1920) oder „Kino“ (1912) etwa.

Nach dem texteditorischen Teil erläutern die Herausgeber im „Editorischen Nachwort“ die Editionsprinzipien der Ausgabe und geben einen kurzen, jedoch aufschlussreichen Einblick in die Entstehungsgeschichte der „Schaubühne/Weltbühne“ inklusive Informationen zur Auflage, die zwischen 1.200 und 18.000 Exemplaren schwankte, zu Autorenhonoraren, die im Fall Walsers fünf oder zehn Mark, je nach Beitrag, ausmachten, sowie zu den Heftpreisen: durchschnittlich 60 bis 80 Pfennig. Die Herausgeber ordnen Walsers Beiträge in den thematischen Kontext der Zeitschrift ein und machen dabei auch auf die durchaus geteilten Reaktionen auf dessen Beiträge aufmerksam. Schriftsteller-Kollege Christian Morgenstern, der Walser sogar als Beiträger an Jacobsohn vermittelt haben könnte, äußerte sich beispielsweise negativ zu Walsers Beiträgen – er charakterisierte sie gern als „schauderhaft“.

Im „Dokumentarischen Anhang“ präsentieren die Herausgeber Briefzeugnisse, die über Walsers Verhältnis zur Zeitschrift Auskunft geben, sowie Artikel aus der „Schaubühne/Weltbühne“, die sich auf Walsers Beiträge beziehen. Somit wird das Bild zum publizistischen Kontext seiner Stücke und zum Verständnis der Wirkungsgeschichte komplettiert.

Die DVD der vorherigen Bände ist einem USB-Stick im aktuellen Band gewichen, der die Elektronische Edition der Ausgabe (KWAe) bis zum gegenwärtigen Stand enthält, also auch den zuvor erschienenen Editionsstand. Diese Ausgabe ergänzt die Buchausgabe insofern, als sich über ein Menü die faksimilierten Walser-Texte aufrufen lassen; ebenso zugänglich sind die Manuskripte sowie Zweitdrucke in anderen Zeitschriften, soweit diese editorisch relevant sind. Über das „Findbuch“, einen elektronischen Index, sind die Walser-Texte mit all ihren Querbezügen komfortabel recherchierbar. Schade nur, dass die Beiträge anderer Autoren in den jeweiligen Ausgaben der „Schaubühne/Weltbühne“ nicht ebenfalls erfasst worden sind und damit der thematische Kontext verschlossen bleibt; das Inhaltsverzeichnis zur jeweiligen Ausgabe, das den Walser-Texten in der Buchausgabe der Edition vorangestellt ist, lässt nur unkonkrete Schlüsse auf den inhaltlichen Rahmen der jeweiligen Ausgabe zu. Ein solches Verfahren würde den Rahmen der Edition jedoch sprengen, bedeutete es doch, die Ausgaben der „Schaubühne/Weltbühne“ komplett zu faksimilieren.

Insgesamt bewegt sich der Band II.3 auf dem editorisch hohen Qualitätsniveau, das auch schon die vorangegangenen Bände auszeichnete. Seit Erscheinen des ersten Bandes „Geschwister Tanner“ der Kritischen Ausgabe im Jahr 2008 haben die Herausgeber in nur acht Jahren den nunmehr zehnten Band vorgelegt. Das ist ein für editorische Mammutprojekte dieser Art unglaubliches Tempo. Es bleibt nur zu hoffen, dass sich die Finanzierung dieses Projekts auch über die nächsten Jahrzehnte sichern lässt, damit die Herausgeber und Mitarbeiter dieses Tempo bei gleichbleibender editorischer Qualität beibehalten können. Man darf schon auf den nächsten, hoffentlich bald erscheinenden Band gespannt sein.

Titelbild

Robert Walser: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. KWA II/3: Drucke in der Schaubühne/Weltbühne.
Herausgegeben von Hans-Joachim Heerde, Barbara von Reibnitz und Matthias Sprünglein.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2015.
368 Seiten, 65,50 EUR.
ISBN-13: 9783866002418

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