Lessings „Emilia Galotti“ im Schulbetrieb des 19. Jahrhunderts

Über eine Edition ausgewählter „Schulprogramme“ als Quelle zur Lessing-Rezeption

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Literarische Lernprozesse standen und stehen seit vielen Jahrzehnten im Zentrum schulischen Deutschunterrichts. Durch die Entwicklung von literaturgeschichtlichem Bewusstsein bei Schülerinnen und Schülern, durch das Generieren von prototypischen Gattungsvorstellungen im Unterricht sowie das Verständnis von literarischer Handlungslogik wirkt das Fach Deutsch an der Formung eines Kulturraumes mit, den jeweils zeittypische beziehungsweise kontextabhängige Ausprägungen kennzeichnen. Jede Generation hat dabei die Chance, ihre spezifische Kultur zu gestalten und den „Kulturraum Schule“ mit eigenen Wertigkeiten, Interpretationen und Zugangsweisen zur Literatur zu prägen. Seit dem 19. Jahrhundert ist so beispielsweise Gotthold Ephraim Lessing als kanonisierter Autor – beziehungsweise einige seiner Werke als Pflichtlektüren – in schulischer Perspektive besonders verankert. Dieses Faktum ermöglicht Rückschlüsse auf das sogenannte kulturelle Gedächtnis, wobei die heuristische Frage nach den Quellen dieser Kanonisierung durch das Studium zeitgenössischer Schulprogrammschriften und Jahrbücher beantwortet werden kann.

Im vorliegenden dritten Band der Reihe „Gotthold Ephraim Lessing im kulturellen Gedächtnis – Materialien zur Rezeptionsgeschichte“ hat die Arbeitsstelle für Lessing-Rezeption Kamenz nach Bänden zu „Nathan der Weise“ sowie „Minna von Barnhelm“ nun eine Edition zur Resonanz von „Emilia Galotti“ in Schulprogrammen beziehungsweise Jahresberichten der höheren Schulen vorgelegt. Elf Textquellen von unterschiedlichen Lehrkräften aus dem Zeitraum 1851 bis 1904 sind editiert, kommentiert und biobibliographisch sowie hinsichtlich der Übersetzungen erschlossen. Ferner bietet die Edition ein umfangreiches Personenverzeichnis der in den Schulschriften auftauchenden Autoren, Künstler, Philosophen und historischen Persönlichkeiten.

Worin liegt nun der Reiz der Textedition „Gotthold Ephraim Lessings ‚Emilia Galotti‘ im Kulturraum Schule (1830 – 1914)“? In der Einleitung betont der Mitherausgeber Carsten Gansel die Besonderheiten der Textsorte Schulprogrammschrift. Sie ermögliche einen Blick in das „innere Schulleben“ und gestatte des Weiteren eine Rekonstruktion der Fachinhalte des Unterrichts fernab der normativen Vorgaben von Lehrplänen respektive Curricula: „Bei den Schulprogrammen bzw. Jahresberichten der Gymnasien handelt es sich um eine Publikationsform, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts entstand und mit den Schulneugründungen im höheren Bildungswesen ab 1820 besondere Relevanz erlangte“, erläutert der Herausgeber. Es etablierte sich sukzessive eine klare Struktur der Schulprogrammschriften in verschiedenen Rubriken, wobei jedes Jahr „eine wissenschaftliche Abhandlung beizugeben“ war. Funktional sollte so die Qualität der höheren Bildungsanstalt in der Außendarstellung betont sowie die besondere akademisch-intellektuelle Leistungsfähigkeit der Gymnasien als wissenschaftspropädeutische Institutionen dokumentiert werden. Schulprogrammschriften seien, wie Gansel mehrfach referiert, dabei Massenquellen mit riesigen Beständen in den Universitätsbibliotheken und Landesarchiven, sodass ein großer Korpus für fach- und bildungsgeschichtliche Studien zur Verfügung stehe – allein in der Universitätsbibliothek Gießen könne man auf einen Fundus von „mehr als 70.000 Schulprogrammen deutschsprachiger Gymnasien“ zurückgreifen.

Gemeinsam mit Mike Porath skizziert Gansel im Folgenden die kanonische Bedeutung von Lessings „Emilia Galotti“, wie sie sich in den Schulprogrammschriften abzeichnet und mit der Aufwertung des Deutschunterrichts an Gymnasien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beinahe synchron verläuft. „Emilia Galotti“ erhält besonders aus der Perspektive der Tragödiengattung besondere Aufmerksamkeit und Wertschätzung im Deutschunterricht, was nicht zuletzt die Schulprogramme widerspiegeln. Die elf von Gansel und Birka Siwczyk edierten Texte sind von philologisch ausgebildeten Akademikern verfasst worden, die herausgehobene Stellungen an den höheren Lehranstalten wahrgenommen haben: „Die Aufsätze sind aus der eigenen Lehrtätigkeit hervorgegangen und geben somit einen guten Einblick in die Schulrealität.“ Gymnasiallehrer wie Ludwig Hölscher, Friedrich Theodor Nölting, Bernhard Albert Arnold, Gustav Heidemann, Julius Rohleder, Adolf Gustav Dietrich, Lothar Volkmann, Gustav Kettner, Johann Rösler, Friedrich Widder oder Gustav Marseille argumentieren dabei jeweils aus dem Kontext ihrer Zeit und ihres Erfahrungsschatzes heraus. Während beispielsweise Gustav Marseille 1904 bei der Untersuchung „der Frauengestalten in Lessings Meisterdramen“ auf das antike Virginia-Motiv rekurriert und damit stoffgeschichtlich sowie intertextuell arbeitet, zeigt sich bei Julius Rohleder (1881) eine „dezidiert didaktische Perspektive“: „Es komme darauf an, den Schülern die Notwendigkeit der Katastrophe als Basis für die Tragik verständlich zu machen“, was besonders an Emilias Todeswunsch für Schüler der Oberstufe eine Herausforderung darstelle.

Interessant ist der Vergleich der Aufsätze aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert mit den Erkenntnissen heutiger Lessing-Handbücher, den Gansel und Porath im umfangreichen Anmerkungsapparat vorlegen. An einigen Stellen zeigt sich, dass sich die heutige Forschung etwas differenzierter mit Teilaspekten auseinandersetzt, cum grano salis seien aber viele Entwicklungslinien und Deutungsansätze bereits vor über 100 Jahren angedacht gewesen.

Zusammenfassend liegt mit dem dritten Band der Lessing-Reihe eine beachtliche und Neugierde auslösende Materialedition vor, die einerseits der Lessing-Rezeption neue Perspektiven und Quellen erschließt, anderseits aber auch manche fachdidaktische respektive pädagogische Entdeckung ermöglicht.

Titelbild

Carsten Gansel / Birka Siwczyk (Hg.): Gotthold Ephraim Lessings ‚Emilia Galotti‘ im Kulturraum Schule (1830–1914).
V&R unipress, Göttingen 2015.
347 Seiten, 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783847103837

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