Schattenlöcher

Hans Platzgumers Roman „Am Rand“ ist negative Heimatkunde

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sieger-Typen haben in der Literatur nichts verloren. Erst recht nichts in der österreichischen. Das ist seit Joseph Roth, Ödön von Horváth und Robert Musil so und hat sich seit Thomas Bernhard, Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek nicht geändert. Vermutlich hat das weniger mit der österreichischen „Mentalität“ zu tun, die es genauso wenig gibt wie die „russische Seele“ oder das „deutsche Gemüt“, als vielmehr mit einer Literatur, der in ganz besonderem Maße die Aufgabe zufällt, die Schatten einer Geschichte am Leben zu erhalten, die im Alltag nur zu gerne zu operettenhafter Harmlosigkeit verkommt.

Schon um 1900 war Wien die „Versuchsstation des Weltuntergangs“, das Morbide fand hier ein feinnervig dekadentes Zuhause, das dem österreichischen Hang zu kleinbürgerlicher Melodramatik einen eleganten und mondänen Rahmen verlieh. Verlässt man jedoch die Metropole und begibt sich in die Provinz, gelangt nach Kärnten oder Tirol, dann zeigt das Morbide seine unverschleierte Fratze, offenbart sich in all seiner unzivilisierten, menschenverachtenden Brutalität; dann übernimmt die ebenso blinde wie autoritäre Gewalt das Regiment. Platzgumers Südtiroler Kleinstadt, in die der Held des ebenso großartigen wie deprimierenden Romans „Am Rand“ unverschuldet hineingeboren wird, und die so wenig italienisch wirkt wie ein sibirisches Dorf, ist so ein trostloser Schatten- und Schreckensort morbider Provinzialität. Wer hier nicht scheitert, ist kein guter Held. Wer hier nicht zum Mörder wird, kann nur ein seelenloser Zombie sein. Soweit die Grundregel des gesamten Settings.

Der Ich-Erzähler Gerold Ebner steht am Rande des Abgrunds, und das nicht nur in metaphorischer Hinsicht. Das Buch ist die Lebenserzählung eines sensiblen, doch eher durchschnittlich begabten Romanschriftstellers, der uns, seinen direkt angesprochenen LeserInnen, erklärt, wie er an den Rand des Lebens, genauer gesagt: an jenen Berghang gelangt ist, von dem er sich nach Beendigung seines Manuskripts stürzen wird. Eine klassische Nachlassfiktion, wie sie auch Edgar Allan Poe schon verwendete, um die Geschichte eines Toten oder Sterbenden aus der Ich-Perspektive zu erzählen.

Es ist der Tod und seine Sprache, die diesen kurzen Roman strukturieren, vom ersten bis zum letzten Satz, vom erzromantischen „Ankommen“ im Tod bis zum sprichwörtlichen letzten „Schritt“. Doch es sind nicht nur die Topoi, Floskeln, Symbole und Metaphern des Todes, die in Platzgumers leiser, unaufgeregter Prosa wie selbstverständlich ihren Platz finden. Präsent, ja quasi körperlich anwesend ist der Tod hier auch durch einen erbarmungslosen Realismus, durch zum Teil seitenlange, akribisch genaue Schilderungen körperlicher Qualen, bizarrer Krankheiten, verzweifelter Sterbeszenen. Platzgumer erspart seinen mitlesenden NachlassverwalterInnen nichts, wenn der Knabe die mumifizierte Leiche eines Nachbarn entdeckt oder wenn der junge Mann seinen tyrannischen Großvater erstickt. Kaum erträglich sind auch – bei aller Zurückhaltung der Erzählung – die Schilderungen eines Tods am Starkstromkabel oder die detaillierte und medizinisch gewiss genau recherchierte Beschreibung einer lebensbedrohlichen inneren Verätzung.

Bewundernswert an diesen Passagen ist das Gleichgewicht zwischen sachlicher Darstellung und Literarisierung. Nichts an Paltzgumers Sprache ist roh oder gewollt sensationslüstern, es gibt weder emotionalen Kitsch noch eine aufgesetzte klinische Nüchternheit. Stilistisch ist „Am Rand“ eine virtuose Gratwanderung zwischen erzählerischen Abgründen und Fallen, in die man nur zu leicht hätte geraten können. Der Plot ist nicht neu, morbide Geschichten aus der autoritätshörigen, katholischen Provinz gibt es im 20. Jahrhundert zuhauf und die Muster solcher negativen Heimatkunde sind bestens bekannt. Doch Platzgumer leistet sich dabei eine Radikalität der Verkörperung (und das im Wortsinne!), die seinesgleichen sucht: „Präzise“ will er sein, alles andere sei „Zeitverschwendung.“

Die Vernetzung der einzelnen Horrorstationen und Schreckensmomente geschieht nun aber nicht nur über den simplen biografischen Nexus der Erzählerfigur, sondern auch über allerhand meta-narrative Tricks wie zum Beispiel die bereits erwähnten Leserapostrophierungen oder die Fiktionalisierung des eigenen Namens, wenn der Autor Hans Platzgumer eine Figur erfindet, die als „Hansi Platzgummer“ aus der erdrückenden Enge der Heimat nach Amerika geflohen ist und nun dem schreibenden Ich-Erzähler als Vorlage für dessen Roman dient. Solche ironischen Selbstthematisierungen und ähnliche aus der postmodernen Autofiktion bekannte Verfahren bilden das Gegengewicht zum beißenden Realismus der dargestellten Todesarten. Dennoch wirkt keine dieser Spielereien mit dem am Abgrund stehenden Ich je aufgesetzt, ungeschickt oder unangemessen. Das mag auch an der niemals auftrumpfenden, fast bescheiden selbstreflektierten Haltung des Erzählers liegen, der zwar durchaus auch mit seinen Schwächen und Neurosen kokettiert, sich dabei aber einen großen, existentiellen Ernst als Grundton bewahrt.

Es geht Platzgumer nicht darum, das Hässliche, Grauen- und Ekelhafte als Tabubrecher einzusetzen, Avantgarde ist ersichtlich nicht sein Ziel. „Altmodisch“ dürfe man ihn nennen, sagt der Ich-Erzähler zu seiner Leserschaft, doch „weltfremd“ nicht. Es geht ihm aber auch nicht um ein wie auch immer geartetes ,großes Ganzes‘, selbst wenn der Romantitel deutlich an Musils „Mann ohne Eigenschaften“ erinnert, der die Weltgeschichte an der Peripherie, an den Rändern statt im Zentrum verortet. Ganz im Gegenteil: Nichts ist groß an diesem Buch, nicht einmal der Berg, von dem aus man sich in den Tod stürzt. Wer aus einem Tiroler „Schattenloch“ kommt, als Kind gedemütigt wurde, als Karateschüler, Schriftsteller und Liebhaber versagt, dabei seltsam konturlos, kraftlos, einsam bleibt, hat nicht einmal das Recht auf ein „erbärmliches, pathetisches Scheitern“.

Vielleicht hätte man sich als LeserIn den einen oder anderen Gegenimpuls gewünscht, hätte dem Unglücksexperten bei seinem detaillierten Bericht über die eigene Unzulänglichkeit die eine oder anderen narzisstische Schummelei gegönnt, auch die (wenigen) Dialoge hätten eine Spur pointierter sein können. Doch wenn man dann das letzte Drittel des Romans liest, begreift man, warum genau das nicht möglich ist. Wie Platzgumer hier das Scheitern einer kleinen, ganz privaten Gegenwelt schildert, den Tod einer nahezu minimalistischen Utopie, noch dazu als einen völlig überflüssigen, sinnlosen, ja dummen und leicht zu verhindernden Tod, dann wird klar, was diesem Gerold Ebner am meisten fehlt, nämlich Verantwortung. „Ich schiebe Ihnen die Verantwortung zu“, sagt er am Ende seiner Aufzeichnungen zu seinen LeserInnen. Der Protagonist übernimmt keine Verantwortung für die Schattenwelt, aus der er kommt und aus der er sich – im Gegensatz zu Hansi Platzgrummer – nicht befreien kann, er hat keinen Anteil an der Hölle der Provinz. Es falle ihm schwer, sich in „unsere Mitmenschen hineinzudenken“. Doch hält man sich vor Augen, um was für Zeitgenossen es sich dabei handelt (am Ende des Romans präsentiert Platzgumer ein ganzes Horrorkabinett an rassistischen, autistischen, irrsinnigen Kotzbrocken), versteht man sehr gut, welche Last der Ich-Erzähler beim Sprung über den Rand letztlich von sich wirft.

Titelbild

Hans Platzgumer: Am Rand. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016.
208 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783552057692

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