Lyrik und Moral

Über Charles Baudelaires „A celle qui est trop gaie“

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Bekanntlich befand man Charles Baudelaire, nachdem am 20. August 1857 über die Unmoral der Fleurs du Mal vor Gericht verhandelt worden war, tatsächlich für schuldig – anders als Gustave Flaubert, der von den Vorwürfen gegen seinen Roman Madame Bovary im selben Jahr freigesprochen worden war. Heute tendieren wir dazu, den Stimmen beizupflichten, die schon damals die Prüderie der Sittenpolizei für engstirnig und lächerlich erachteten. So verglich etwa der Politiker Émile Deschanel den Prozess gegen Baudelaire spöttisch mit den Maßnahmen des Kultusministers de Nieuwerkerke, der die ‚Nacktheit‘ antiker Statuen mit Weinblättern hatte bedecken lassen.[1]

Das Ausmaß des Skandals, den die Fleurs du Mal bei ihrer Erstpublikation ausgelöst haben, scheint rückblickend vor allem über den Zustand der zeitgenössischen Gesellschaft Baudelaires Aufschluss zu geben. In andauernder Sorge vor erneuten revolutionären Bestrebungen ihrer Untertanen war die Regierung des Second Empire in erster Linie an der Restauration und Stabilisierung ihrer sozialen Struktur gelegen. Nackte Körper und die Thematisierung von Sexualität konnten da schnell als Entfesselung der menschlichen Natur und damit Bedrohung der Ordnung erscheinen. Wenn darüber hinaus noch die sexuellen Neigungen des Menschen wie bei Baudelaire in all ihrer chaotischen Vielfalt Darstellung fand, musste dem mit entschiedener Ablehnung begegnet werden. An den verbotenen Gedichten empörte besonders das Thema weiblicher Homosexualität.

Zahlreiche Rezeptionsquellen verweisen unerwartet ausdrücklich auf diese Angst vor sozialer Instabilität: „Ce sont là les jeux des peuples qui ont renoncé à la vie publique“[2], schrieb der Publizist Auguste Vermorel über die von ihm als solche bezeichnete „Schule schändlicher Lyrik“. Baudelaire ernannte er dabei selbstverständlich zu deren Hauptvertreter. Ernest Pinard, der Staatsanwalt im Moralismusprozess, räumte in seiner Anklagerede ein, auch die alten Meister hätten in ihrer Kunst wohl manche Schande abgebildet – dennoch: „Ils avaient le respecte de la vie sociale.“[3] Bedrohlich warnt er vor den „conséquences du désordre“.[4]

Heute würden wir wohl sagen, dass Ängste dieser Art kaum von Baudelaires Lyrik selbst ausgelöst worden sind, sondern vielmehr von den freiheitlichen Bestrebungen einer sich allmählich demokratisierenden Bevölkerung. Zuallererst existierten sie in den Köpfen der politischen Machthaber. Dennoch war die Kunst Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht in der Weise autonom, dass sie ihre Inhalte nicht auch ideologisch hätte rechtfertigen müssen. In diesem Sinne war Baudelaire ganz bestimmt kein zufälliges Opfer staatlicher Zensurmaßnahmen. Vielmehr war sein Schreiben ein bewusst revolutionärer Akt. Denn obgleich der Skandal nur wenig über Baudelaires Lyrik aussagt, so erfahren wir doch andersherum aus den Gedichten selbst eine ganze Menge über den Skandal. Beispielhaft soll aus dieser Perspektive eines jener sechs Gedichte näher betrachtet werden, deren zukünftiger Abdruck 1857 gerichtlich verboten wurde:

A celle qui est trop gaie

Ta tête, ton geste, ton air
Sont beaux comme un beau paysage;
Le rire joue en ton visage
Comme un vent frais dans un ciel clair.

Le passant chagrin que tu frôles
Est ébloui par la santé
Qui jaillit comme une clarté
De tes bras et de tes épaules.

Les retentissantes couleurs
Dont tu parsèmes tes toilettes
Jettent dans l‘esprit des poètes
L‘image d’un ballet de fleurs.

Ces robes folles sont l’emblème
De ton esprit bariolé ;
Folle dont je suis affolé,
Je te hais autant que je t’aime!

Quelquefois dans un beau jardin
Où je traînais mon atonie,
J’ai senti, comme une ironie,
Le soleil déchirer mon sein ;

Et le printemps et la verdure
Ont tant humilié mon cœur,
Que j’ai puni sur une fleur
L’insolence de la Nature.

Ainsi je voudrais, une nuit,
Quand l’heure des voluptés sonne,
Vers les trésors de ta personne,
Comme un lâche, ramper sans bruit,

Pour châtier ta chair joyeuse,
Pour meurtrir ton sein pardonné,
Et faire à ton flanc étonné
Une blessure large et creuse,

Et, vertigineuse douceur!
A travers ces lèvres nouvelles,
Plus éclatantes et plus belles,
T’infuser mon venin, ma sœur!

Auf vordergründiger Ebene scheint das Gedicht Zeugnis von der Zerrissenheit eines lyrischen Ichs abzulegen, das sich von der Schönheit und Lebendigkeit der adressierten Frau einerseits angezogen, angesichts der eigenen Melancholie und Lebensunlust („chagrin“, „atonie“) andererseits in einer Weise gekränkt fühlt, die in ihm sadistische Gewaltphantasien auslöst. Seine Wünsche, ihr „Fleisch zu züchtigen“ („châtier ta chair“), ihre „Brust zu geißeln“ („meurtrir ton sein“) und ihr sein „Gift einzuflößen“ („t’infuser mon venin“) wurden vor Gericht als Legitimationen von Mord und Vergewaltigung interpretiert. Die Drastik der beschriebenen Szenen ist dem Gedicht nicht abzusprechen. Sind sie zwar sicher nicht als Aufrufe zu Gewalthandlungen zu verstehen, so eröffnen sie dennoch auf heftige Weise einen alternativen ethischen Raum, eine abweichende Moral, und sollen auf durchaus aggressive Weise Schaden anrichten: weniger wörtlich verstanden an einer konkreten Person als an einem normativen Sittengerüst und einer festgefahrenen Kunsttradition.

Die erste Strophe beginnt wie ein klassisches Liebesgedicht mit einem Lob der äußerlichen Attraktivität und Grazie der Frau und dem drei Mal bekräftigten Vergleich ihres schönen Aussehens mit einer harmonischen Landschaft. Ihr Kleid wird in Vers 12 mit einem Blütenrausch („ballet de fleurs“) assoziiert. Die dramatische Exklamation am Ende der vierten Strophe („Je te hais autant que je t’aime!“) markiert die Zäsur, die den Liebreiz der ersten Strophen von der Zerstörungswut trennt, welche ihm dann brüsk entgegengestellt wird. Wenn jetzt das Symbol der Blume wieder aufgenommen wird, so um es zu vernichten. Die Mischung aus Liebe und Hass gilt nicht der Frau in Person, sondern dem in der ersten Strophe evozierten Liebestopos und der idealisierenden, harmonisierenden Tradition der Liebeslyrik; eine „violence done to the cliché of the romantic view of nature”.[5] Im Gedicht werden also traditionelle literarische Normen bewusst aufgerufen und aufgenommen, um sie in einem zweiten Schritt zu destruieren.

Diese eher literarhistorisch verstandene Absetzbewegung gilt ebenso für den Bereich der Moral. Mehrmals wird die Frau zu Beginn mit Klarheit („ciel clair“; „clarté“), Leben („vent frais“), Gesundheit („santé) und Freude („rire“; „esprit bariolé“) in Verbindung gebracht. In der trennenden vierten Strophe tritt der Klarheit und Gesundheit, die auch als Normkonformität und Stabilität gedeutet werden können, die dreifache Verwendung des Wortes Wahn („folie“) entgegen. Der zweite Ausruf des Gedichts in der ersten Zeile der letzten Strophe („Et, vertigineuse douceur!“) macht diese Entwicklung noch deutlicher, die als Sieg der Irrationalität, des Chaos und Deliriums erscheint. Wie in vielen anderen Gedichten Baudelaires findet sich auch in diesem ein auffallend juristisches Vokabular, ist von strafen („punir“), züchtigen („châtier“) und vergeben („pardonner“) die Rede – als sei dem lyrischen Ich daran gelegen, ein eigenes Moralverständnis für seine Gedanken zu beanspruchen. Doch welches Moralverständnis könnte das sein?

Von der Akzentuierung der adressierten Person in der ersten Zeile durch dreifache Verwendung des Possessivpronomens „dein“ bis zu der genau entgegengesetzten Betonung des lyrischen Ichs in der letzten Zeile durch doppeltes „mein“ vollzieht sich ein Übergang von der visuellen Wahrnehmung der Frau in die Gedankenwelt des Lyrikers. Schon im elften Vers wird der „esprit des poètes“ als jener Ort angegeben, an dem sich eine Verwandlung des Kleides in ein Blütenballett vollzieht. Auch die Gewalt, die der erschrockenen Frau angetan wird, findet nur im Geist des lyrischen Ichs statt.

So werden im Verlauf des Gedichts Bilder und Gedanken entfesselt und befreit. Höhepunkt ist ein wahrlich verrückter Rausch, der jedoch explizit als Idee, ja als Fiktion eines Dichters markiert ist. Die Moral des Wahnsinns ist in bewusster Bezugnahme und Abgrenzung vom bürgerlichen Sittenverständnis entwickelt und wird allein durch ihre Literarizität legitimiert. Gerade durch die Gleichzeitigkeit einerseits expliziter Verweise – auf literarische Tradition und die Moral seiner Umwelt – und andererseits radikaler Gegenentwürfe auf beiden Gebieten konnte Baudelaires Lyrik die Epoche der Moderne einläuten und für die Literatur ganz generell zum Befreiungsschlag werden. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, die Tatsache, dass 1857 Gedichte vor Gericht verurteilt wurden, heute schwer verständlich und geradezu lächerlich erscheinen zu lassen.

Anmerkungen:

[1] „Ceux qui ne comprennent rien à l’art ni à la morale mettent des feuilles de vigne aux statues, chose archi-bête et archi-indécente, et font le procès à ces fleurs du mal“. Émile Deschanel: L’anatomie d’une âme dévastée. In: André Guyaux (Hrsg.): Baudelaire. Un demi-siècle de lectures des Fleurs du mal (1855-1905). Paris 2007, S. 215-216, hier S.215.

[2] Auguste Vermorel: L’École malsaine en poésie [Extrait]. In: André Guyaux (Hrsg.): Baudelaire. Un demi-siècle de lectures des Fleurs du mal (1855-1905). Paris 2007, S. 309-313, hier S. 313.

[3] Ernest Pinard : Réquisitoire, jeudi 20 août 1857. In: André Guyaux (Hrsg.): Baudelaire. Un demi-siècle de lectures des Fleurs du mal (1855-1905). Paris 2007, S. 217-223, hier S. 222.

[4] Ebd., S. 221.

[5] Charles D. Minahen: Irony and Violence in Baudelaire’s „À celle qui est trop gaie“. In: Symposium. A quarterly journal in modern literatures 62/1 ( 2008), S. 3-15, hier S. 7.

Übersetzungen:

von Terese Robinson

An sie, die allzufroh

Dein Haupt, dein Blick, dein Gang
Sind schön wie die schönsten Auen,
Wie frischer Wind im Blauen
Spielt Lachen dir um Augen, Mund und Wang

Der Gram, der dein Auge feuchtet,
An jener Kraft zerbricht,
Die hell wie klares Licht
Von deinen Armen, deinen Schultern leuchtet.

Die Farben in grellem Glanz,
Die dein Gewand bedecken,
In Dichters Geist erwecken.
Ein Bild von lieblich leichtem Blumentanz.

Die tollen Kleider passen
Zur Tollheit, deren Macht
Mich so zum Narren macht,
Dass ich dich glühend lieben muss und hassen.

Oft wenn im lichten Park
Ich schleppe meine Qualen,
Fühl‘ ich die Sonnenstrahlen
Wie Hohn mir brennen tief in Hirn und Mark.

So schwer ins Herz mich trafen
Des Frühlings Glanz und Glut,
Dass ich in heisser Wut
Auf Blumen schlug, um die Natur zu strafen.

So möcht‘ ich einst zur Nacht,
Wenn der Wollust Stunden klingen,
Zu deinen Schätzen dringen,
Ein Feigling zu dir kriechen stumm und sacht.

Dich züchtigen, du Gesunde,
Zerpressen deine Brust,
Ins blühende Fleisch voll Lust
Dir schlagen eine breite, tiefe Wunde.

Und – Wollust unerhört! –
Durch dieser Lippen Reine
Giess‘ ich das süsse, feine,
Mein schändlich Gift, das, Schwester, dich zerstört.

(Charles Baudelaire: Ausgewählte Werke. Die Blumen des Bösen. Herausgegeben von Franz Blei. Ins Deutsche übertragen von Terese Robinson. München, Georg Müller Verlag 1925)

Einige Übersetzungen ins Englische sind auf der Seite http://fleursdumal.org/poem/138 zugänglich, Links zu Übersetzungen in Englisch, Griechisch, Italienisch, Rumänisch, Spanisch und Türkisch auf einer Seite bei http://lyricstranslate.com.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz