Vom Nutzen der Ordensgeschichte für die Literaturwissenschaft

Volker Honemann hat einen umfangreichen Band über die Geschichte der Franziskaner-Provinz Saxonia herausgegeben

Von Michael RuppRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Rupp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Geschichte einer Ordensprovinz interessiert Literaturwissenschaftler auf den ersten Blick vielleicht nur als kulturhistorischer Hintergrund zur Beschäftigung mit geistlich fundierten Texten einer bestimmten Epoche, sie scheint das Zentrum der Literaturgeschichte nicht eigentlich zu betreffen, und die Besprechung eines solchen Bandes mag an dieser Stelle zunächst in der historischen Verortung des Oberthemas dieser Sonderausgabe seine Begründung finden. Nun sind allerdings zahlreiche mittelalterliche Texte erhalten, die im Franziskanerorden entstanden sind und als pragmatische geistliche Texte nicht nur zur religiösen Kultur des Ordens gehören, sondern als Mittel zur Unterweisung im weitesten Sinne auch außerhalb der Konvente rezipiert wurden. So hatte der Orden mit Wilhelm von Ockham, Johannes Duns Scotus, Alexander von Hales oder auch Berthold von Regensburg und Bonaventura (um nur einige zu nennen) zahlreiche Gelehrte zu bieten, die mit ihren Schriften Theologie und Glaubenskultur ihrer Zeit nachhaltig mitprägten. Daran wirkte nicht zuletzt ein System von franziskanischen Bildungshäusern und Bibliotheken mit, in dem diese ausgebildet wurden und später häufig selbst ausbildeten, wie auch viele Ordensbrüder, die deutschsprachige Schriften hinterließen, mit denen die lateinische Theologie für den Bereich volkssprachiger Katechese und Verkündigung aufbereitet werden sollte – für die Franziskaner Teil ihres Kerngeschäfts.

Gemäß des erweiterten Textbegriffs der mediävistischen Literaturwissenschaft gehören solche Schriften zu ihrem Gegenstandsbereich dazu. In dem Moment aber muss man als Literaturwissenschaftler die theologische Pragmatik und den religionsgeschichtlichen Ort solcher Texte verstehen, um sie überhaupt nur angemessen darstellen zu können. Hier kann eine kulturhistorisch ausgerichtete Darstellung der Ordensgeschichte ein absolut unverzichtbares Hilfsmittel bei der Arbeit sein, mit dem die entscheidenden Bedingungen zu Produktion und Rezeption überhaupt erst sichtbar werden. In diesem Sinne also soll der eben erschienene Band zur Geschichte der franziskanischen Provinz Saxonia aus dem Blickwinkel und durch die Brille des Literaturhistorikers besprochen werden, den der Literaturhistoriker Volker Honemann herausgegeben hat.

Ein paar wenige Worte vorweg, um eine Vorstellung vom Gegenstand zu geben: Die Bewegung des Heiligen Franz von Assisi hatte seinerzeit ganz offenbar einen Nerv getroffen; zumindest lässt sich die Geschichte des Ordens in ihren Anfängen als die des rasanten Aufstiegs einer religiösen Bewegung schreiben. Im Jahre 1210 bestätigte Papst Innozenz III. die Gemeinschaft um den Heiligen Franz von Assisi als Orden. Bereits 1221 gründete sich mit der Provinz Teutonia ein Ableger im deutschen Sprachraum, der so schnell anwuchs, dass man ihn 1230 in eine sächsische und eine rheinische Provinz aufspaltete, die ihrerseits bereits neun Jahre später geteilt wurden. Erst in jüngster Zeit, im Jahr 2010, wurden die vier auf deutschem Boden verbliebenen Provinzen wieder zu einer zusammengezogen. Die Provinz Saxonia nahm ihre bevorstehende Auflösung in der großen Teutonia zum Anlass, die eigene Geschichte in einem groß angelegten Projekt aufarbeiten zu lassen.

Das Konzept dieses Projekts umfasst insgesamt fünf Bände: an den hier besprochenen soll der im Erscheinen befindliche und von Heinz-Dieter Heimann herausgegebene Band zur Geschichte der Provinz von der Reformation bis zum Kulturkampf anschließen; bereits 2010 ist Band 3 erschienen, verantwortet von Joachim Schmied handelt er vom Kulturkampf bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts. Alle drei werden ergänzt durch einen Überblick über die Missionen (Band 4 [2013], herausgegeben von Giancarlo Collet und Johannes Meier) und eine 2012 als Band 5 erschienene Geschichte der franziskanischen Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, herausgegeben von Roland Pieper.

Der hier zu besprechende erste Band 1 beeindruckt schon alleine durch den Umfang von fast tausend Seiten, die knapp und konzise mit Informationen prall gefüllt sind. Die Anlage trägt möglichen Fragestellungen aus allen kulturgeschichtlichen Bereichen Rechnung: Nach einem einleitenden Kapitel von Bernd Schmies und Volker Honemann über die historischen Entwicklungslinien im betrachteten Zeitraum folgt ein weiteres zu den Reformbewegungen des 15. und 16. Jahrhunderts (Volker Honemann). Die anschließenden Beiträge betreffen die Wirtschaft der Konvente (Hans-Joachim Schmidt), das Termineisystem (Arend Mindermann), das Verhältnis der Klarissen und Terziarinnen zu den Männerkonventen in der Saxonia (von Reinhardt Butz) sowie die Funktion des franziskanischen Bildungswesens in Thüringen (Jana Bretschneider). In einem sehr umfassenden Kapitel behandelt Leonhard Lehmann OFMCap die franziskanische Liturgie. Hieran schließen sich mehrere Beiträge an, die von Umfang und Anspruch her bereits monographischen Charakter haben; zunächst der Überblick über die franziskanische Theologie von Johannes Schlageter OFM, dann drei Abhandlungen des Herausgebers Volker Honemann mit insgesamt über 300 Seiten zu den Bibliotheken des Ordens in der Saxonia, dem mittelalterlichen Schrifttum mit einem besonderen Fokus auf die volkssprachigen Zeugnisse (was die Aufarbeitung der lateinischen Theologie ergänzt) und zur franziskanischen Geschichtsschreibung.

Die geistlichen Texte dieser Zeit stehen oft in engem und pragmatischem Kontext zur Liturgie oder sind geprägt von bestimmten Reformbemühungen, weisen also historische Züge auf, die sich mit Hilfe dieses Buchs leicht erhellen lassen. Aber auch die Zuordnung zum ‚Mainstream‘ des Ordens ist in vielen Fällen schon ein nützlicher Befund, besonders, wenn sich dieser Mainstream regional festmachen lässt – Der Nutzen für die Literaturgeschichte wird so relativ rasch ersichtlich.

Im Folgenden seien ein paar der Beiträge exemplarisch näher betrachtet. Der Beitrag zum Verhältnis des Ordens zu den Frauenkonventen von Reinhardt Butz beginnt mit einer kompakten Einführung in die Problematik der Inkorporation von Frauengemeinschaften in die Orden auch im Blick auf Dominikaner und Zisterzienser. So wird deutlich, dass gerade in der Zeit der ersten Blüte der Franziskaner die Frauenkonvente, ihre Inkorporation und das anschließende Verhältnis zum für die Seelsorge verantwortlichen Männerkloster jeweils nur in Einzelfallstudien am Beispiel der jeweiligen Häuser zu betrachten sind. Dies wird an zehn Beispielen aufgezeigt, die über die ganze Saxonia verteilt sind.

Der Beitrag von Jana Bretschneider beleuchtet die franziskanischen Bildungseinrichtungen der Provinz, zeigt vor allem die Bemühungen auf, den Betrieb der Studienhäuser trotz Personalnot aufrecht zu halten, Bemühungen, die dennoch erfolgreich dazu führten, über die bloße Vorbereitung der Brüder auf das Studium hinaus einen partikularen Studiengang der Theologie aufbauen zu können.

Die franziskanische Theologie des Mittelalters wird von Johannes Schlageter OFM mit Schwerpunkt auf die Saxonia eingehend dargelegt. Um die Blütezeit im 15. Jahrhundert herum beschreibt er zwei hinführende und eine fortsetzende Phase anhand wichtiger Vertreter. So wird deutlich, wie der eigentlich – im Vergleich zu den Dominikanern – gar nicht so eindeutig auf Bildung ausgelegte Orden doch mit zahlreichen Gelehrten die Scholastik, den Mainstream mittelalterlicher Theologie, mitprägte, in der Provinz Saxonia vor allem vom Bildungshaus in Erfurt aus. Mit dem Niedergang der Scholastik sieht Schlageter auch ein Ende der Blüte franziskanischen theologischen Denkens, das offenbar zunächst an dieser Form des logischen Durchgründens festhalten wollte und anscheinend damit unterging.

Eine solche Studie liefert zugleich einen panoramaartigen Hintergrund zu den folgenden Beiträgen des Herausgebers, der zunächst das Bibliothekswesen der Provinz an ausgewählten Beispielen darstellt, um dann in zwei Abschnitten (von jeweils über hundert Seiten) das mittelalterliche Schrifttum der Franziskanerprovinz Saxonia darzustellen unter besonderer Berücksichtigung deutschsprachiger Zeugnisse. Die Einschränkung ist eher ein Fokus, der schon alleine dadurch berechtigt ist, dass die lateinischen Schriften letztlich im Kapitel zur Theologie angesprochen wurden. Deutschsprachige Texte, die in Orden entstanden, hatten in aller Regel zunächst den Zweck, lateinische Theologie an jene zu vermitteln, die kein Latein konnten oder – im Falle der Predigten – Muster dafür bereitzustellen, wie man das lateinische Wissen in deutsche Predigten verpacken kann. Neben den Predigten gab es selbstverständlich die Ordensregeln und so genannte erbauliche Schriften in der Volkssprache, die zur eigenen stillen Lektüre oder zum katechetischen Vortrag dienen konnten. Einen anderen Bereich stellt die Geschichtsschreibung dar, die im zweiten Kapitel zum franziskanischen Schrifttum behandelt wird. Das Panorama wird von Honemann umfassend beschrieben und aufgearbeitet, so dass man sich auch über zahlreiche sonst unbekannte Gestalten franziskanischer Schriftkultur im Zusammenhang informieren kann. Besonders hervorzuheben ist der Umstand, dass Honemann seinen Überblick mit Handschriften beginnt, die in Franziskanerkonventen hergestellt worden waren, denn gerade an den Überlieferungsträgern kann man allein die Eigenheiten der Buchkultur eines Ordens ablesen und die Erschließung der Pragmatik solcher Texte kann nur über die Überlieferungsträger letztlich geklärt werden.

Alles in allem ist das Buch ein sehr willkommenes Kompendium zur kulturhistorischen Arbeit mit Quellen und Zeugnissen aus der Provinz Saxonia des Franziskanerordens. Dazu tragen neben den Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels auch zahlreiche Anhänge bei, etwa ein Verzeichnis der Provinzialminister und -vikare sowie 12 Tabellen zur Provinzialgeschichte. Ein umfangreiches Literaturverzeichnis, ein Verzeichnis der Handschriften und Drucke sowie Register zu Orten und Personen erschließen den Band und machen ihn auch so als Kompendium nutzbar. Angenehm fällt auch auf, dass die Beiträge meist den Anschluss an die übrige Ordensgeschichte suchen und so über das darzustellende Gebiet der Ordensprovinz im engen Sinne hinausgehen. Das erhöht die Verständlichkeit, wie etwa die Einleitung zu Problemen der Inkorporation von Frauenkonventen bei Butz oder der Umstand, dass Honemann in seiner Darstellung der Predigtsammlungen und erbaulichen Schriften auch David von Augsburg oder Marquard von Lindau mit einbezieht, deren Bedeutung für die Saxonia eher gering war, die aber als prägend im gesamten Orden angesehen und daher bei der Lektüre anderer mitgedacht werden müssen.

Wollte man – als Literaturwissenschaftler – etwas kritisieren, könnte man monieren, dass man gerne noch etwas mehr über die Pragmatik der unterweisenden Schriften lesen würde, etwa über den Status der Texte deutscher Predigten zwischen Musterpredigten und Lesetexten. Doch hätte man derartige Teilinteressen generell bedienen wollen, wären wohl drei Bände diesen Umfangs für das Schrifttum alleine nötig gewesen. So ist es wesentlich angemessener, am Schluss der Besprechung noch einmal großen Respekt für die Leistung der Beiträgerinnen und Beiträger und des Herausgebers zu bekunden, die einen konzisen und äußerst informativen Band hervorgebracht hat, einen Band, der für die Erforschung der mittelalterlichen Ordens-, Kultur- und Literaturgeschichte dieser Region von großem Nutzen sein wird.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Volker Honemann (Hg.): Von den Anfängen bis zur Reformation. Geschichte der Sächsischen Franziskaner-Provinz.
Schöningh Verlag, Paderborn 2015.
978 Seiten, 168,00 EUR.
ISBN-13: 9783506769893

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