In die Seinslehre gehen, um alles zu sagen

Über Walle Sayers Sammlung von Kurztexten „Was in die Streichholzschachtel paßte“

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Meister der kleinen Form, als Epiker des Augenblicks, als Künstler aphoristischer Notate und lakonisch verdichteter Pointen hat sich der 1960 in der Nähe der württembergischen Stadt Rottenburg geborene Lyriker Walle Sayer längst einen Namen gemacht, etwa mit seinem Gedichtband „Strohhalm, Stützbalken“.

Mit „Was in die Streichholzschachtel paßte“ beweist der Autor, um es gleich vorweg zu sagen, erneut jene Meisterschaft, ‚hochkomplexe Romane in zehn bis zwanzig Zeilen‘ zu verfassen, wie Michael Krüger an Sayer einmal rühmte. Oder wie unter dem Notat „Fahneneid“ bei Sayer vermerkt: „Wie wenig es brauchte, um alles zu sagen.“ So sind auch die in neun Kapitel unterteilten „Feinarbeiten“ ähnlich der Texte des in Wangen auf der Höri lebenden drei Jahrzehnte älteren und im Alemannischen tief verwurzelten Maler-Dichters Bruno Epple eine Dankes-Andacht ans Dasein.

„Was in die Streichholzschachtel paßte“ versammelt Texte, die sich der Frage verdanken: „Aber was ist das, was da ist, was du siehst, was sich zeigt“, wie es eingangs im ersten Text „Photographisch“ heißt. Die Sayerʼsche Poetik in nuce enthält die Notiz „Zeitungsausschnitte sammeln“ mit dem Satz: „Jeden einzelnen Tag in die Seinslehre gehen.“

Sayers „Seinslehre“ eröffnet in wenigen Zeilen eine ganze Welt: „Was mithin fehlt, wenn nichts fehlt, formuliert sich im Raritätenkabinett der Kleinanzeigen, wo Einzelzimmerhöhlen angeboten werden, eine Nebenbeschäftigung als Hauptberuf, Wunderheilerin und Alleinunterhalter Kästchennachbarn sind, die Altersangaben in Klammern stehen, eine vereinzelte Stirnlampe das Hellichte ersehnt.“ Oder wenn er unter der Überschrift „kleinformatig“ notiert: „Oberschwäbische Landschaften. Öl auf Karton. […] Sieben auf elf Zentimeter reichen aus, die Welt zu vergegenwärtigen, bevor sie sich auflöst in der Schneestille, im nebligen Hauch über gefrorener Erde.“ Man muss nicht, aber man kann an die Bilder Jakob Bräckles denken, wenn man Sayers Notate, Aphorismen und Pointen liest. Es sind, wie bei Bräckle „Seelenlandschaften im Postkartenformat“, wie Arnold Stadler in seinem großen Bräckle-Essay „Auf dem Weg nach Winterreute“ kongenial bemerkt. Es ist „Aufgehobenes“ im besten Hegelʼschen Sinne und „Aufgelesenes“. So zeigen auf poetisch eindringliche Weise Sayers Texte, „daß selbst die Schwermut ihre Südseite hat“, wenn der Notierende festhält: „Meine Aufrichtigkeit, sie schwindelt den Lügendetektor mit der Wahrheit an“.

Titelbild

Walle Sayer: Was in die Streichholzschachtel paßte. Feinarbeiten.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2016.
127 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783863514112

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