Jahr der Freiheit – Jahr der Illusionen und Niederlagen

Der Historiker Simon Hall schreibt eine Weltgeschichte des Jahres 1956

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verglichen mit den Ereignissen in anderen Regionen der Welt wirkte Deutschland wie eine Oase der Ruhe. Das Jahr 1956 hatte hier wenig Aufregendes zu bieten. Bundesrepublik und DDR hatten sich häuslich eingerichtet an der Nahtstelle zwischen den Blöcken, darauf hoffend, dass der kalte Krieg nicht irgendwann umschlagen würde in einen heißen. In beiden Staaten betrieb man die Remilitarisierung und holte die ersten Soldaten in die Kasernen der neuen Streitkräfte, ein Zeichen der Normalisierung insofern, als die Siegermächte in Ost und West ihren ehemaligen Gegnern Raum zur Integration in die jeweiligen Nachkriegskoalitionen gewährten. Die bundesdeutsche Gesellschaft erfreute sich an den Früchten des wirtschaftlichen Aufschwungs, ein gewisser Hang zum Biedermeier war unverkennbar. Mit Frankreich wurde vereinbart, dass die Saar wieder in den deutschen Staatsverband eingegliedert werden sollte, das Amtsgericht Berchtesgaden ließ Adolf Hitler unwiderruflich für tot erklären, und bereits im Jahr zuvor hatte Kanzler Adenauer bei seinem Besuch in Moskau diplomatische Beziehungen mit der UdSSR vereinbart und die Rückführung der letzten Kriegsgefangenen erreicht: all dies untrügliche Hinweise darauf, dass man im Begriff stand, die Schatten der braunen Vergangenheit abzuschütteln und den vielerorts herbeigesehnten Schlussstrich zu ziehen. Der Auschwitzprozess und die bohrenden Fragen der 68er-Studenten an ihre Väter und Mütter waren noch relativ weit entfernt.

Es ist also kein Zufall, dass Deutschland in den welthistorischen Betrachtungen des britischen Historikers Simon Hall nur am Rande erwähnt wird, als Akteur von Bedeutung  keinen Platz findet. 1956 gilt dem Autor als Jahr entscheidender, in die Zukunft gerichteter Umbrüche. Es ist eine „Welt im Aufstand“, die er portraitiert; die Erzählung lehnt sich an die Jahreszeiten an: Winter, Frühling, Sommer und Herbst, letzterer die Peripetie, an der die Entwicklungen sich hier ins Positive, dort ins Negative wenden. Entrollt wird ein Bilderbogen in 21 Folgen. Sie werfen Schlaglichter, sind knapp und mit Sinn für Dramaturgie konzipiert, werden präsentiert in flüssiger, lesbarer Prosa, darin den Traditionen einer angelsächsischen Geschichtsschreibung verpflichtet, deren Ehrgeiz sich nicht darin erschöpft, drei oder vier Fachkollegen anzusprechen, die ohnehin schon alles wissen, sondern die danach trachtet, ein breites, nicht notwendig akademisches, aber historisch interessiertes Publikum zu fesseln und zu belehren.

Beherrschendes, die einzelnen Episoden verbindendes Thema des Buches ist die Freiheit, oder genauer: der Kampf um verlorene und verweigerte Freiheiten. Dies betrifft die westliche ebenso wie die östliche Hemisphäre, ist in mancher Hinsicht Nachwirkung des Weltkriegs, erschüttert die älteren Kolonialreiche ebenso wie die mitteleuropäischen Vorfeldstaaten des sowjetmarxistischen Kommunismus. Der Bogen, den der Autor spannt, reicht von den USA über Kuba, Algerien, Zypern, den Suez-Kanal bis nach Polen und Ungarn. Die Konstellationen, aus denen die geschilderten Ereignisse erwachsen, sind jeweils unterschiedlich, wurzeln nicht in gemeinsamer, die Kontinente überwölbender Ideologie, wohl aber sind sie mehrheitlich geprägt vom Erwachen oder der Wiederentdeckung der Nation beziehungsweise von den Vorstellungen, die man sich davon macht, und der politischen Erwartungen, die sich daran knüpfen. Der Nationalismus, der im 19. Jahrhundert seinen Siegeszug angetreten hatte, entpuppt sich um die Mitte des 20. Jahrhunderts immer noch als mächtige, ganze Völker entflammende oder doch bestimmte Milieus stimulierende, zu revolutionärer Aktion vorantreibende Kraft.

Die davon betroffenen machtpolitischen Zentren waren Moskau, Washington, Paris und London. Im Ostblock wurden Unzufriedenheit und Veränderungswillen in der Bevölkerung teils bestätigt, teils befeuert durch den XX. Parteitag der KPdSU, auf dem Nikita Chruschtschow, der erste Sekretär der Partei, über Josef Stalin und den von ihm verkörperten Personenkult hinter verschlossenen Türen Scherbengericht hielt, das Herrschaftsmonopol der Bolschewiki und das System der Diktatur jedoch nicht antastete. Damit waren die Grenzen für die anschließenden Reformbemühungen markiert, die weithin als ‚Entstalinisierung‘ ausgerufen wurden. Der „Versuch, das Projekt Sowjetunion gründlich zu erneuern“, resümiert Hall, sei nur „bedingt erfolgreich“ gewesen. Aber schon dies reichte aus, um die alte Funktionärselite in Schockstarre zu versetzen, in Posen, Warschau und Budapest überdies die Leute auf die Straße zu treiben. In Polen kehrte der zuvor in die Wüste geschickte Władisław Gomułka zurück, verhieß einen eigenständigen Weg zum Sozialismus und entspannte die Situation durch sozial- und kirchenpolitische Zugeständnisse. Ungleich dramatischer, vor allem blutiger verlief die Entwicklung in Ungarn, wo es einen Moment lang schien, als könne sich die revolutionäre Bewegung mit dem zuvor als Abweichler exkommunizierten Ministerpräsident Imre Nagy an der Spitze behaupten. Die Führung der Sowjetunion kam nach anfänglichem Zögern jedoch rasch zu der Überzeugung, dass die Situation außer Kontrolle geraten war, und schickte Truppen, die im November den Aufstand binnen weniger Tage niederschlugen. Das Ergebnis war, so paradox das klingen mag, zum einen brutale Repression und Verfolgung, zum andern der – ein gewisses Maß an Wohlhabenheit evozierende – ‚Gulaschkommunismus‘ unter János Kádár.

Parallel zu den Vorgängen in Ungarn, aber nicht ursächlich mit ihnen verknüpft, verwickelten sich Frankreich, das Vereinigte Königreich und Israel in einen Krieg mit Ägypten, um, wie es hieß, die internationale Kontrolle über den von Präsident Gamal Abdel Nasser verstaatlichten Suez-Kanal wiederzuerlangen. Weil diese Aktion in der Weltöffentlichkeit scharfe Proteste erntete, vor allem aber die USA auf schnellstmöglichen Rückzug drängten, endete das Abenteuer einigermaßen unrühmlich und lenkte die Aufmerksamkeit weg von der Krise in Ungarn. Im Blick auf die globalen Ordnungssysteme hatte damit der Zerfall der europäischen Kolonialreiche, einhergehend mit einer empfindlichen Schwächung Frankreichs und Großbritanniens, einen irreversiblen Punkt erreicht. Bestätigt wurde der Prozess durch die 1957 vollzogene Unabhängigkeit Ghanas, und auch in Zypern entzündete sich an der Forderung der Griechen nach Vereinigung mit dem Mutterland ein Konflikt, den die Briten nicht einzudämmen vermochten. Ähnliche, für die machtpolitischen Balancen der Nachkriegsepoche allerdings weit schwerwiegendere Konflikte prägten die Lage in Algerien. Hier tobte über Jahre hinweg ein von Terror und Gegenterror bestimmter Kolonialkrieg, in dem die Franzosen mit massivem Truppeneinsatz 1956 zunächst die Oberhand behielten – ein, wie Hall urteilt, „Pyrrhussieg“, denn das Land vermochten sie ebenso wenig zu befrieden wie ihre Herrschaftsansprüche zu stabilisieren. 1962, als Algerien in die Unabhängigkeit entlassen wurde, hatte die von beiden Seiten geübte Gewalt „schätzungsweise 18 000 französische Soldaten, mehrere Tausend europäische Zivilisten und mindestens 30 000 algerische Muslime“ das Leben gekostet.

Während hier die Götterdämmerung der europäischen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien heraufzog, ging es in den Südstaaten der USA um Gleichberechtigung, um die vollen Bürgerrechte für die Afroamerikaner, um die Aufhebung eines Regimes der Apartheid, das tief im Alltag der weißen wie der schwarzen Bevölkerung verankert war. Das heißt, im Land der Freiheit, in dem das Streben nach individueller Entfaltung und individuellem Glück Verfassungsrang hat, wurde eben dies einer zahlenmäßig starken Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern vorenthalten. Die Auseinandersetzungen kulminierten im Januar 1956 mit einem Bombenattentat auf das Haus des Predigers Martin Luther King in Montgomery, der Hauptstadt des Bundesstaates Alabama. King war einer der Wortführer des Protests gegen die dort rigoros gehandhabte Rassentrennung in den Bussen, was freilich nur ein Element in den Praktiken einer vielfältigen Diskriminierung war. Der Konflikt wurde entschieden durch ein Urteil des Obersten Gerichts, der Kampf gegen die Segregation in den Bussen war, wie der Autor abschließend konstatiert, „ein entscheidender Moment im Freiheitskampf der Afroamerikaner“ und enthielt „bereits sämtliche Elemente für den späteren Erfolg der Bewegung“, als da waren: „starke lokale Führung“, Gewaltlosigkeit, Kings Charisma, auch die suggestive Behauptung, dass die Aufhebung der Rassentrennung eine „patriotische Waffe im Kalten Krieg“ sei.

Sich auf ein Jahr zu konzentrieren und auf diese Weise die Vergangenheit zu verdichten, ist legitim, zumal dann, wenn wie in diesem Fall, da wo nötig, Vor- und Nachgeschichte jeweils mitgeliefert wird. Das beugt dem Eindruck vor, als könne die Historie in zwölf Monate eingeschlossen werden. Den Charakter einer Zäsur wird man den Geschehnissen von 1956 nicht absprechen können. In vielen Regionen der Welt markiert das Jahr den Auftakt für das Begehren nach Souveränität, Selbstverantwortung und einem Mehr an Handlungsräumen. Das gilt auch dann, wenn nicht nur Erfolge, sondern auch Illusionen, vergebliche Hoffnungen und Niederlagen zu verzeichnen sind. Gewiss, die weltpolitischen Linien, die unmittelbar nach Kriegsende gezogen worden waren, wurden nicht prinzipiell verschoben, aber es zeigte sich, dass sie nicht in Stein gemeißelt, sondern durchaus flüssig waren oder flüssig gemacht werden konnten. Nicht jeder wird die geschilderten Vorgänge so wie der Autor in einen inneren Zusammenhang bringen wollen, aber einer der damals Beteiligten, nämlich der Reverend Martin Luther King, hat ihn im Januar 1957, auf das vergangene Jahr zurück blickend, ausdrücklich beschworen. Auf der „ganzen Welt“ würden die Menschen „rebellieren“, hob er hervor: „Die Bemühungen um Unabhängigkeit in Afrika, Ungarns Todeskampf gegen den Kommunismus und das entschiedene Drängen der amerikanischen Schwarzen, als Bürger erster Klasse anerkannt zu werden, sind untrennbar miteinander verbunden.“

Titelbild

Simon Hall: 1956. Welt im Aufstand.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016.
478 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783608948592

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