Atmosphären von ängstlicher Erwartung

Zwei Romane des amerikanischen Alptraums Don DeLillo

Von Uwe WittstockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Uwe Wittstock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

DeLillo ist heute Amerikas Lieblingsalptraum. Das hätte noch vor wenigen Jahren kaum einer erwartet, er selbst am wenigsten. Denn die Leser haben lange nichts von ihm wissen wollen. Seit 1971 veröffentlichte er acht Romane, die ihm die Bewunderung der Rezensenten eintrugen, aber nur geringe Auflagen erzielten. Erfolg beim Publikum bescherte ihm erst "Sieben Sekunden", ein sowohl erzählerisches wie dokumentarisches Meisterwerk, das, virtuos auf der Grenze zwischen Imagination und Realität balancierend, die Verschwörung gegen John F. Kennedy vergegenwärtigt. Verblüfft und nicht ohne Sorge sah sich der homme de lettres DeLillo zum literarischen Star befördert, dessen Bücher in Drugstores zwischen Krimis und Sagas gehandelt werden.

Nach dem Erscheinen von "Mao II", seinem zehnten Roman, wurde er in den Vereinigten Staaten endgültig kanonisiert. Er erhielt den PEN/Faulkner Award und auch besonnene Kritiker ließen sich zu seltenen Fanfarenstößen hinreißen: "Niemand schreibt eine bessere Prosa als Mr. DeLillo", hieß es in der "New York Times" und die "Washington Post" erklärte ihn zu "dem führenden Romancier" des Landes. Zudem meldete sich Thomas Pynchon, einer der großen Verborgenen der amerikanischen Literatur, zu Wort und nannte den neuen Roman zärtlich "eine Schönheit", dessen Sprachkraft und kühne Visionen einzigartig seien.

Pynchons Lob ist von besonderem Wert und auch Witz. Denn "Mao II" erzählt die Geschichte eines Schriftstellers namens Bill Gray, der wie Pynchon versteckt lebt. Er gibt keine Interviews, läßt sich nicht fotografieren und hält seine Adresse geheim. Die Totalverweigerung fördert seine Popularität: Seine Romane entwickeln sich zu Kultbüchern, und er selbst wird zur mythischen Figur, um die sich werbeträchtige Legenden ranken.

Aber "Mao II" ist kein Schlüsselroman. Es geht DeLillo nicht um den Einzelfall Pynchon, sondern um grundsätzliche - und mitunter tödliche - Absurditäten unserer Mediengesellschaft. Deshalb hat er seiner Hauptfigur ebenso Züge von dem bilderfeindlichen Einsiedler J. D. Salinger und von sich selbst verliehen - auch DeLillo lebt sehr zurückgezogen: "Es hat mir immer gefallen, relativ obskur zu sein. Es gehört zu mir, gehört zu meinen Büchern".

Doch Schutz vor der Öffentlichkeit, daran läßt dieser Roman keinen Zweifel, ist heute nicht einmal um den Preis des völligen Rückzugs aus der Öffentlichkeit zu haben. Seit Bill Gray untertauchte, fühlt er sich gejagt und lebt in ständiger, leicht paranoider Furcht vor Entdeckung. Er ist eine Geisel seines Ruhms geworden, ein Opfer der terroristischen Neugier unserer Zeit. Mehr noch: Scott und Karen - ein junges Paar, das ihm dabei hilft, sich abzuschirmen - haben für ihn Verhaltensregel erdacht, die ihn vor unerwünschter Publicity schützen sollen. Doch diese Regeln nehmen, ebenso wie die beiden Helfer, die deren Einhaltung eifersüchtig überwachen, ihrerseits terroristische Züge an.

Noch aus einem zweiten Grund hat sich Grays Klausur als Fehlschlag erwiesen: Sein Opus magnum an dem er über zwanzig Jahre in der Abgeschiedenheit arbeitete, ist inzwischen zwar fertig - aber gründlich mißraten. (Auch darin kann, wer will, eine Anspielung auf Pynchon sehen: Nach der Publikation von "Die Enden der Parabel" hüllte er sich siebzehn Jahre in Schweigen, bevor er 1989 den von vielen Kritikern skeptisch beurteilten Roman "Vineland" veröffentlichte.) Besessen von dem Wunsch, einen perfekten Text zu schreiben, hat Gray sein Talent ruiniert. Statt sich auf seinen literarischen Instinkt zu verlassen, feilte er so lange an dem Buch, bis es jedes Leben verlor. Nun spielt er mit dem Gedanken, es nie zu veröffentlichen.

Kein Wunder also, daß Gray aus der selbstgewählten Verbannung ausbrechen möchte. Um das zudringliche Interesse der Medien zu befriedigen, lädt er eine Fotografin ein, ihn zu porträtieren. Er hofft, durch die Publikation der Bilder "den Monolith abzureißen", zu dem er im Bewußtsein seiner Leser erstarrt ist. Außerdem läßt er sich zu einem spektakulären Auftritt für ein Autoren-Komitee überreden: Er soll auf einer Pressekonferenz in London Gedichte eines jungen Schweizer Lyrikers vorlesen, den eine arabische Terrororganisation entführt und in Beirut versteckt hat.

DeLillo macht aus diesem kurzen Ausflug seines Helden in den internationalen Literaturbetrieb eine schwarze Komödie voller böser Wahrheiten und sarkastischer Pointen. Minuziös führt er das Zusammenspiel zwischen Engagement und Eitelkeit der Schriftsteller vor, zwischen Sensationslust der Journalisten und Publizitätsgier der Verbrecher.

Die Kidnapper nämlich haben keine andere Forderung als die, weltweit wahrgenommen zu werden. Da auch das Autoren-Komitee noch nicht so bekannt ist, wie es gern sein möchte, kommen beide Seiten überein, die Pressekonferenz zum globalen Nachrichten-Ereignis zu machen: Zeitgleich mit der Londoner Veranstaltung wollen die Entführer in Beirut vor laufenden Fernsehkameras ihren Gefangenen freigeben. Doch der Sprengstoffanschlag einer konkurrierenden Terrorgruppe vereitelt das Vorhaben. Da durch die Explosion niemand verletzt wird, erregt der Vorfall bedauerlicherweise kein Aufsehen. Aber ein Experte weiß Rat: "Bis auf weiteres seid ihr Unpersonen, Opfer ohne Publikum. Werdet getötet, dann nimmt man euch vielleicht zur Kenntnis".

Die Freude des Komitees an der guten Sache ist nach diesem Vorfall merklich geringer. Gray dagegen erweist sich als hartnäckig. Aus Abenteuerlust und verzweifeltem Überdruß, vor allem aber aus dem unbezähmbaren Wunsch, seinen gescheiterten Roman möglichst weit hinter sich zu lassen, versucht er mit den Entführern direkt in Kontakt zu treten. Er macht sich über Athen und Zypern auf den Weg nach Beirut, richtet auf der Reise halb zufällig, halb willentlich seine Gesundheit zugrunde und stirbt schließlich still, ohne Spuren zu hinterlassen in den Wirren des Bürgerkriegs.

Zum Erstaunlichsten an DeLillos Roman gehört, wie einfach und zugleich vielschichtig er ist. Man muß ihn ein kleines literarisches Wunderwerk nennen, das Präzision mit Mehrdeutigkeit vereint. Wer will, kann ihn als Politthriller lesen, als Künstlernovelle oder auch als Gesellschaftsroman des Medienzeitalters. Neben all dem ist er aber auch eine originelle, sehr amerikanische Variation des ebenso alten wie postmodernen Mythos vom verlorenen Buch und vom verschollenen Schriftsteller (also vom Verschwinden des Sinnzusammenhangs und der Sinnstifter). In den letzten Jahren haben sich von Umberto Eco bis Christoph Ransmayr einige Autoren diesem Motiv gewidmet. Doch selten wurde es so lebendig und klug präsentiert wie in "Mao II" - und wohl noch nie so spannend und so zeitnah.

Die Genauigkeit, mit der DeLillo die Gegenwart einfängt, ist gespenstisch. Er schreckt nicht zurück vor den Horror-Meldungen, die uns die Tageschau allabendlich ins Haus spült. Doch strickt er aus ihnen keine platte Betroffenheits-Prosa, sondern verwandelt sie, ohne ihnen etwas von ihrer aktuellen Brisanz zu nehmen, zu Bausteinen einer zeitlosen Romanwelt, die auf Egoismus, Gier und Gewalt gründet. DeLillo dramatisiert im besten Sinne des Wortes: Jede Form von Macht oder Zwang mutiert bei ihm zu systematischem Terror - und wird so zur Kenntlichkeit entstellt. Seine Leidenschaft gilt den sozialen Mechanismen der Vernichtung, zu denen er insbesondere die Medienindustrie zählt.

Der ausgebrannte Bill Gray rechnet im Namen der Schriftsteller ab mit der Gesellschaft, in der er lebt. Für ihn sind es der Überfluß an Waren und Informationen, die Sucht nach Wiederholung und billigem Vergnügen, kurz: Fernsehen und Vermassung, die der Literatur ihre Aura und ihren Einfluß geraubt haben. Ein derart übersättigtes Land sei nicht mehr durch Bücher, sondern nur noch durch Bomben zum Aufhorchen zu bringen. An die Stelle der Romanciers, so glaubt er, sind die Terroristen getreten: "Vor Jahren habe ich es noch für möglich gehalten, daß ein Schriftsteller das Wesen der Kultur verändern könne. Jetzt haben Bombenbastler und Schießwütige dieses Territorium besetzt. Sie überfallen das menschliche Bewußtsein [...] Katastrophenmeldungen sind die einzigen Geschichten, die die Leute brauchen."

Solcher drastischer Sätze wegen wird DeLillo von deutschen Kritikern gern als Prophet der Postmoderne auf den Schild gehoben. In der Tat erinnern Thesen wie die von der geheimen Verwandtschaft zwischen Autoren und Gewalttätern an Jean Baudrillards Behauptung, der Terror sei heute "unser Theater der Grausamkeit". Dennoch leistet man DeLillo einen Bärendienst, wenn man ihn zum Gesellschaftstheoretiker à la mode stilisiert. Er predigt nicht, sondern er registriert. Was ihn reizt, sind Konflikte und deren oft absurde Konsequenzen. Deshalb konfrontiert er Grays Ansichten stets mit den entsprechenden Gegenansichten. Der Roman verfügt, wie die Realität, über keine Gebrauchsanleitung; er zeigt Wege, nicht Wegweiser.

Zuallererst nämlich ist DeLillo ein begnadeter Erzähler. Er verliert sich nicht in abstrakten Ideen, seine Sprache bleibt immer sinnlich und konkret. Nur wenige Worte genügen ihm, um komplexe Szenen oder differenzierte Charaktere lebendig werden zu lassen, und wenn er über seine Heimat New York schreibt, glaubt man, die Stadt hören und riechen zu können. Auch das Geschick, mit dem DeLillos die Gefühle seines Publikums zu lenken versteht, ist beeindruckend. Er verbreitet eine Atmosphäre von ängstlicher Erwartung, von filmreifem Suspense, die den Leser Seite um Seite durch das Buch treibt. Vor allem die Fernsehbilder erregter Menschenmengen im China Maos oder während der Beerdigung Chomeinis, die in die Handlung des Romans eingeblendet werden, rufen ein dumpfes Unbehagen hervor, das lange nachwirkt. Nur eine von Panzern bewachte Hochzeit in Beirut gewährt auf den letzten Seiten einen Hoffnungsschimmer: Aber es ist nicht das kleine kitschige Glück zwischen Trümmern, an das DeLillo damit erinnert, sondern an das unbelehrbare humane Glücksverlangen.

Schon im Prolog des Romans findet sich allerdings ein groteskes Gegenstück zu diesem schönen Finale: eine Massenhochzeit, zu der in den siebziger Jahren Tausende von Anhängern der Mun-Sekte durch ihren Anführer gezwungen wurden. DeLillo demonstriert an ihr die zerstörerische Macht der Wiederholung: Die sonst ordnungs- und sinnstiftenden Heiratszeremonie wird allein durch ihre schier endlose Vervielfältigung entwertet und zum Spektakel degradiert.

Ähnliches gilt für die Kunst unserer Zeit, was Andy Warhol wohl als erster begriffen und zynisch für seine serielle Ästhetik genutzt hat. Sein erklärtes Ziel war es, möglichst simple Arbeiten zu produzieren, da subtilere Gemälde in der täglichen Flut von Fotografien und Filmen ohnehin nicht mehr angemessen betrachtet werden. Seine Bilder wurden deshalb zu Reklametafeln: einprägsam, unbegrenzt nachdruckbar - und völlig substanzlos. Den künstlerischen Inhalt ersetzte er durch die Gesetze der Werbung und des Massenerfolgs. Folgerichtig benutzte er als Vorlagen für seine Porträts - wie jene Graphik "Mao II", auf die DeLillos Titel anspielt - mit Vorliebe Fotos von Prominenten, die durch millionenfache Reproduktion bereits zu Stereotypen verblaßt waren und also jede individuelle Aussagekraft eingebüßt hatten.

Zugegeben, "Mao II" ist ein bedrohliches Buch - aber trotzdem ein Lesevergnügen. Seine strenge Architektur, seine genau kalkulierten inneren Parallelen zeugen von einem Kunstverstand, der den Schrecken nicht verharmlosen, sondern in eine Form bringen und also faßbar machen will. Einer chaotischen Welt hält Don DeLillo einen brillant gebauten Roman entgegen. "In der Antike", schrieb er in "Sieben Sekunden", "inszenierten die Menschen Scheinschlachten, um den Stürmen der Natur etwas entgegenzusetzen und ihre Angst vor den Göttern zu verringern, die sich im Himmel bekriegten". "Mao II" zählt meines Erachtens zu den besten Scheinschlachten, die in den letzten Jahren geschlagen wurden.

Titelbild

Don DeLillo: Mao II. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1992.
303 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3462022105

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Don DeLillo: Sieben Sekunden. Deutsch von Hans Hermann.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1993.
573 Seiten, 7,60 EUR.
ISBN-10: 3499131706

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