Der Frosch und die Bierflasche

Zizeks Frage nach der Nächstenliebe im postmodernen Zeitalter

Von Benjamin Marius SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benjamin Marius Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer Slavoj Zizek live erlebt hat, weiß, daß dieser Denker ein intellektueller Vulkan ist, dessen Eruptionen an psychoanalytischem Witz, philosophischen Apercus, ideologischen Obszönitäten, populären Anekdoten, kritischen Paradoxien, lustvollen Widersprüchen, überraschenden Umkehrungen nur mühsam das verbergen, was wirklich skandalös ist: daß er ein ungemein ernstzunehmender Denker mit echten und fundierten Argumenten ist. So wie Zizeks Liveauftritte den Eindruck vermitteln, nur leicht formalisierte Ausschnitte aus einem beständigen Strom von Argumentationen und Reflexionen zu sein, der ein gesamtes Leben als intellektuelles Abenteuer trägt, so befällt einen auch bei seinem geschriebenen Werk gelegentlich die Furcht, ob zwei Buchdeckel und ein Titel genug sein mögen, eine solche performative Überfülle zu umfassen. Im Gegensatz zu so manchen anderen Erzeugnissen wissenschaftlicher Publikationstätigkeit, bei dem einen eher das Grauen der Langeweile angähnt angesichts des Versuches, anderthalb Argumente über dreihundertfünfzig Seiten auszudünnen, schraubt Zizek als Ideen-DJ die arguments per minute auf einen derart schwindelerregend faszinierenden Wert hinauf, daß die Idee des intellektuell Erhabenen sich förmlich aufdrängt.

Der cantus firmus von Zizeks neuestem Buch, das Nikolaus G. Schneider kundig und flüssig aus dem Englischen übertragen hat, besteht darin, die postmoderne Situation unter dem Aspekt ihrer spezifischen Verschränkung von Genuß und Gesetz zu betrachten. Der Titel "Liebe Deinen Nächsten? Nein, Danke!" nimmt die Forderung eines früheren Buchtitels auf, in dem es hieß "Liebe Dein Symptom!" Die Pointe besteht darin, daß die (postmoderne, tolerante, liberale, multikulturalistische) Variante, den Nächsten zu lieben, eine phantasmatische Konstruktion anbietet, die es ermöglicht, die Begegnung mit dem Symptom als dem traumatischen, fremden Kern in mir zu vermeiden, zu umgehen, zu überspielen. All diesen ideologisch geprägten, phantasmatischen Formen des Leugnens, Vermeidens, Ausweichens hält Zizek unerbittlich das Ziel der Psychoanalyse entgegen, welches darin besteht, die Phantasie zu durchqueren (la traversée du phantasme) und zum Kern des Genießens vorzudringen, dessen symptomatische Formation die Konsistenz des Subjektes erhält. Andererseits aber kann man die Absage an "Liebe Deinen Nächsten!" auch so verstehen, daß eine wirkliche Begegnung mit dem Nächsten jenseits der Schutzphantasien, die ihn verkennend konstituieren, eine Begegnung mit dem realen Kern des Genießens wäre, welches ihn ausmacht, und daß diese Begegnung einfach zu schockierend, abstoßend, überwältigend wäre. Zizek diskutiert diesen Aspekt unter dem Begriff des "entsublimierten Nächsten", dessen übergroße Nähe seinen erhabenen Status unterminieren würde: Statt der sublimen Person als Objekt meiner Nächstenliebe finde ich die reale Präsenz dieses Nächsten vor, einen ekelerregenden, Schleim und Exkremente absondernden Haufen aus Fleisch und Blut.

Doch hiermit sind wir schon mitten im Argument dieses erstaunlichen Buches, das in Analogie zur klassischen Sonatenform aus vier "Sätzen" besteht: Teil I, "Assai sostenuto. Allegro: Kant mit (oder gegen) Sade", beschäftigt sich mit dem Problem einer "Reduzierung des Nächsten auf den Status eines Gegenstandes, den es zugunsten der eigenen jouissance rücksichtslos auszubeuten gilt", und sucht dann "die Gründe für die Möglichkeit der libidinösen Perversion in der konstitutiven Reflexivität des Triebes im Gegensatz zum animalischen Instinkt". Der zweite Teil, "Allegro di molto: Der Nächste als ein Ding", lokalisiert die Wurzeln unserer Intoleranz gegenüber dem Nächsten in dem eben angedeuteten Sachverhalt, "daß der Andere für uns das ist, was Freud als 'das Ding' bezeichnet hat - die Verkörperung einer traumatischen, unerträglichen jouissance, die vom Schutzschirm der Phantasien zugleich evoziert und verhüllt wird". Im dritten Satz mit dem Titel "Adagio sostenuto: 'Der große Andere existiert nicht'" setzt Zizek die wachsende postmoderne Intoleranz mit dem "Niedergang dessen, was Lacan als 'den großen Anderen' bezeichnet", in Beziehung mit dem Niedergang der "Ordnung der symbolischen Effizienz, die den Rahmen für die 'friedliche Koexistenz' zwischen Subjekten bildet". Der vierte Satz, "Andantino. Allegretto: Ist der Cyberspace die letzte Form des Fetischismus?", steuert zwischen der Scylla des Cyberspace-Pessimismus ('das Ende des kritischen autonomen Individuums') und der Charybdis seiner postmodernen Feier als "Ort der Befreiung von den Zwängen der ödipalen patriarchalischen Logik der Sozialisation" einen dritten Weg und schlägt vor, das emanzipatorische Potential des Cyberspace darin zu suchen, "daß man in ihm jene grundsätzlichen Phantasien externalisieren und so eine gewisse Distanz zu ihnen gewinnen kann, die für die Koordinaten unserer jouissance verantwortlich sind".

Gegenüber der These von Adorno/Horkheimer, daß Sade die radikale Wahrheit hinter Kant sei, versteht Zizek in der Lektüre Lacans, daß Kants moralisches Gesetz nicht mit dem Über-Ich identifiziert werden kann. Und das bedeutet, daß Sade vielmehr das artikuliert, was passiert, wenn das Subjekt die wahre Strenge der Kantschen Ethik verrät, weil sie nämlich dem Subjekt verbietet, die Position des Objekt-Instruments der jouissance des Anderen einzunehmen. Kant schließt also die Perversion solcher Ideologien aus, die es dem Subjekt erlauben, sich als Instrument einer höheren Notwendigkeit zu verstehen: "Es gibt keine Entschuldigung für die Erfüllung der eigenen Pflicht!" Das Subjekt ist schuldig, wenn es die 'objektive Notwendigkeit' annimmt, indem es genießt, was ihm von außen auferlegt wird.

Von hier aus gelingt der Sprung zu meta-psychologischen Überlegungen: zum Ur-Masochismus als Inszenierung von Leiden für einen Dritten, für den großen Anderen, um sich über die Leere der eigenen Existenz als Subjekt, ja um sich über die Nicht-Existenz, den Mangel an Sein des Subjektes hinwegzutäuschen. Als Ent-Bindung bezeichnet Zizek die Geste der ontologischen Entgleisung, deren anderer Name Subjektivität ist: Das Subjekt ist ein Abgrund der Freiheit, eine Geste der Abkoppelung aus der Ordnung des Seins, eine Nicht-Existenz, die eine Lücke in die Ordnung des Seins reißt. Subjektivität ist ein Modus der Reflexivität im Sinne eines negativen Selbstbezugs, der mit der Reflexivität des Begehrens in direktem Zusammenhang steht: Während der Trieb pervers ist, weil er in genau jener Bewegung, mit der die Befriedigung unterdrückt werden soll, Befriedigung findet, ist das Begehren hysterisch aufgrund seiner reflexiven Umkehrung der Unmöglichkeit, das Begehren zu befriedigen, in das Begehren nach Nicht-Befriedigung.

Das Nachzeichnen von Zizeks Argumente in dieser Form begeht allerdings einen entscheidenden Fehler. Es vernachlässigt Zizeks Exzeß, das Überborden seiner Gedanken und Assoziationen, den Prozeß, mit dem die Beispiele ihren Status als Illustrationen eines abstrakten Argumentes verlieren und Eigenständigkeit gewinnen. So zieht Zizek beispielsweise beiläufig einen Analogiefaden von der Sadeschen Fundmentalphantasie des ätherischen Körpers des Opfers, der sich endlos foltern läßt, ohne seine Schönheit zu verlieren, zu den endlosen Martyrien und zur Wiederauferstehung der Comicfiguren Tom und Jerry, und beides liefert die libidinöse Begründung für das Kantsche Postulat der Unsterblichkeit der Seele. Oder er erklärt die Logik des Opfers als raffinierte Form, die Kastration (welche als Verlust von etwas, das man nie besessen hat, definiert wird) zu leugnen, um so zu tun, als besäße ich den verborgenen Schatz, der mich zum liebenswerten Objekt macht. Oder er provoziert die liberale Debatte des Themas sexueller Belästigung, indem er zeigt, warum es keinen Sex ohne ein Element der Belästigung gibt. Oder er analysiert die doppelte ideologische Mystifikation in Camerons "Titanic", daß erstens die Havarie mit dem Eisberg die wahre libidinöse Katastrophe des Scheiterns der Liebesbegegnung an Klassenunterschieden verbirgt, daß aber andererseits der Klassenunterschied für das Scheitern verantwortlich gemacht wird, verbirgt die Tatsache, daß sexuelle Beziehung a priori zum Scheitern verurteilt ist.

Warum aber ist die sexuelle Beziehung von vorneherein zum Scheitern verurteilt? Weil das schöne liebende Paar in Wirklichkeit wie ein Frosch ist, der eine Bierflasche umarmt. Mit dieser Pointe endet das Buch: Die Frau träumt von der Verwandlung des männlichen Sexualpartners in eine volle phallische Präsenz, der Mann von der Reduzierung des weiblichen Sexualpartners auf den Status eines Partialobjektes. Frau und Frosch, Mann und Bierflasche - das geht, aber zwischen Mann und Frau, ca ne vas pas. Authentische intersubjektive Begegnung jenseits solcher Phantasierahmen hingegen, so die These des zweiten Teils des Buches, geschieht nur dann, wenn ich dem Anderen im Augenblick seiner oder ihrer jouissance begegne. Es ist dieses Durchgreifen auf die Ebene der jouissance als des realen Kerns, der über jegliche Realität hinausgeht, als des Exzesses, der von symbolischen und imaginären Formationen nie gänzlich verdeckt und eingefangen werden kann, es ist diese Aufmerksamkeit auf das reale Genießen im Verhältnis zum Gesetz und zu den Phantasien, die Zizek als psychoanalytischen Ideologiekritiker auszeichnen. So kritisiert er beispielsweise Hannah Arendts These von der Banalität des Bösen durch den Hinweis, daß die damit angesprochene rein symbolische bürokratische Logik des Massenmordens durch zwei weitere Komponenten ergänzt werden muß: durch den imaginären Schutzschirm aus Befriedigungen und Mythen, die dem Subjekt die Abstandnahme zum Grauen ermöglichen, und durch das Reale der perversen jouissance der Taten - pervers deshalb, weil die Bürokratisierung selbst eine Quelle zusätzlicher jouissance darstellte. Auch Goldhagens These, daß Hitlers "willige Vollstrecker" eine Wahl hatten, ergänzt er durch den Hinweis, daß die Nazis selbst den Holocaust als ein schmutziges, obszönes Geheimnis behandelten, als eine lustbereitende, pseudo-bachtinsche karnevaleske Aktivität, und daß genau darin ihre Schuld liegt: Der subtile Zwang einer zumindest teilweise erzwungenen Wahl entbindet nicht von der Schuld, sondern verantwortlich ist man, sofern man die Tat genießt. Immer wieder geht es Zizek um genau dieses, ob an der Frage der Unterscheidung zwischen faschistischer Paranoia und stalinistischer Perversion oder dem Problem ethnischer Säuberungen, ob bei Hamlet und Ophelia oder bei Robert und Clara Schumann, ob bei Heinrich von Kleists Legende "Die heilige Cäcilie" oder Charles Russells Film "Die Maske": Es geht ihm darum, durch die ideologischen, phantasmatischen Masken der Schönheit durchzugreifen und den wirklichen Nächsten als die amorphe, rohe Masse Fleisch zu zeigen, als Stück des Realen, als Häßlichkeit, die sich jeder phantasmatischen Konstruktion von Realität entzieht, als jouissance traumatisch-exzessiver Lust.

Von diesen Überlegungen, daß die traumatische Wirkung der jouissance eine entscheidende Rolle bei der Begegnung mit dem Nächsten spielt, geht Zizek auf die Frage über, wie die jouissance und ihr Verbot für die Etablierung gesellschaftlicher Bande wichtig wird. Dies bedeutet, die postmoderne Situation vor dem Hintergrund der These vom Untergang des Ödipus, also der paternalen symbolischen Autorität, zu analysieren. Zentral ist hier das Argument, daß das Verbot der jouissance nur gleichsam ein Trick ist, um ihre inhärente Unmöglichkeit zu verdecken. Wenn das ödipale Verbot und damit die Distanz zum Genießen über die Etablierung eines symbolischen Gesetzes nicht mehr funktioniert, dann kommt es notwendig zu der heute allenthalben zu konstatierenden Rückkehr von "Ur-Vater" Figuren, vom totalitären Führer bis hin zu sexuell belästigenden Vätern. Zizek zeichnet die drei Vaterbilder nach, die bei Freud angelegt sind: die Vaterfigur in der Konstellation des Ödipus-Komplexes, in dem der Vater die Mutter wirklich besitzt und der Vatermord den Status eines unbewußten Begehrens hat, dann das Bild des Vaters in 'Totem und Tabu', gemäß der erst durch den Vatermord der tote Vater als Verkörperung des symbolischen Gesetzes wiederkehrt, schließlich die Variante aus 'Der Mann Moses', wonach der betrogene und getötete Vater nicht der obszöne Ur-Vater in seinem realen Genießen ist, sondern die rationale, symbolische Autorität verkörpernde Figur. Von hier aus geht es nun um symbolische Wirksamkeit, um Clintons Lüge, bevor und nachdem sie vom großen Anderen (Starr-Report) registriert wurde, um das Grab Christi und die Kultur der Klage, bevor die eigentliche Auseinandersetzung dieses dritten Teils angeschnitten wird: Zizeks Fehde mit den Theoretikern der Risikogesellschaft (Beck, Giddens). Einerseits macht Zizek den Marxismus stark, indem er das Phänomen der reflexiven Modernisierung vor dem Hintergrund der kapitalistischen Dynamik liest: Das Entstehen der globalen Reflexivität, des Regimes reiner Realabstraktionen beruht auf dem Realen der unerbittlichen, triebhaften Logik des Kapitalismus. Andererseits sieht Zizek psychoanalytisch, daß die universalisierte Reflexivität in direktem Zusammenhang mit dem Rückzug des großen Anderen und der symbolischen Wirksamkeit steht, weil diese auf einem Minimum an nicht-reflektierter Akzeptanz der symbolischen Institutionen beruhen. Statt des traditionellen, verbietenden symbolischen Vaters haben wir es heute mit Verkörperungen des Über-Ich zu tun, dessen Imperative des "Genieße!" und des "Sei du selbst!" einen radikalen narzißtischen Hedonismus bedeuten, in dessen Folge das Genießen immer stärker externalisiert wird. Extreme Individualisierung schlägt um in ihr Gegenteil: extreme Identitätskrise im Verlust symbolischer Wirksamkeit.

Im letzten Teil seines Buches weitet Zizek die Frage nach dem Untergang des Ödipus auf die Problematik des Cyberspace aus (nicht ohne u.a. vorher Gott als das ultimative Tamagotchi entlarvt zu haben). Er zeigt die beiden gängigen Argumente: Einerseits heißt es, Cyberspace als Ende des Ödipus führe zu einer Welt von Individuen, die zu einer präsymbolischen psychotischen Immersion regredieren und jede symbolische Distanz, jede kritische Reflexion, jede Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Realität und Simulation verlieren (Baudrillard, Virilio). Andererseits heißt es, Cyberspace führe in eine Welt multipler Perversionen, die es erlaube, sich aus der Umklammerung durch das patriarchalische Gesetz zu befreien und sich zu unendlich formbaren sexuellen und sozialen Identitäten fortzuentwickeln. Zizek hält dem entgegen, daß Cyberspace zwar post-ödipal sei im Hinblick auf Ödipus qua mythische Erzählung, nicht aber im Hinblick auf Ödipus als formale Struktur des Verbotes und der Vermittlung. Statt der Visionen universalisierter Psychose und multipler Perversion schlägt Zizek vor, das hysterische und befreiende Potential des Cyberspace darin zu suchen, daß darin eine neue Ästhetik und ein neues Lebensgefühl ihre technologische Entsprechung finden, in denen es darum geht, alle möglichen narrativen Möglichkeiten zu erschöpfen, alle möglichen Permutationen einer Matrix durchzuprobieren, um so eine traversée du phantasme zu erreichen - denn dann müssen wir uns der zugrundeliegenden fundamentalen Phantasie in ihrer nicht-sublimierten Form stellen. Erst in der Unmöglichkeit der Symbolisierung oder dialektischen Vermittlung wird es möglich sein, auf die "leidenschaftlichen Bindungen" (Butler) durchzugreifen, die an das Reale rühren. Und dann stellt sich die Ausgangsfrage radikal neu: "Liebe Deinen Nächsten?"

Titelbild

Slavoj Žižek: Liebe deinen Nächsten? Nein, danke!
Verlag Volk & Welt, München 1999.
348 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3353011560

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch