Revolutionstouristen, Gelehrte und Ergriffene

Uwe Hentschel zum gattungsgeschichtlichen Wandel des Reiseberichts am Ende des 18. Jahrhunderts

Von Tilman FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tilman Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Paradigmawechsel" - dieses Zauberwort ermöglicht es innerhalb des unaufhaltbaren Flusses der geschichtlichen Zeit, Markierungen jenseits der datierbaren Ereignisgeschichte zu setzen, die gleichermaßen Ende und Anfang einer Entwicklung bezeichnen. In der Gattungsgeschichte der deutschsprachigen Reisebeschreibung wird ein solcher einmütig für das letzte Viertel des 18. Jahrhunderts postuliert. Dieser Auffassung schließt sich auch Uwe Hentschel im ersten Beitrag seiner "Studien zur Reiseliteratur am Ausgang des 18. Jahrhunderts" an und skizziert dort die wesentlichen Aspekte dieses Übergangs. Demnach vollzieht sich zu dieser Zeit eine Verschiebung "von der gelehrten, enzyklopädisch-wissenschaftlichen, zur subjektiv-literarischen Beschreibungsform" innerhalb dieser Textsorte und begründet fortan das so charakteristische Spannungsverhältnis zwischen der früheren faktizistischen Sach- und Gegenstandsorientierung und der neu hinzugetretenen, auch unterhaltenden Subjektbezogenheit auf das Erleben der Schreibenden. Hentschel leitet diesen Prozess vor allem aus sich verändernden Publikumsinteressen ab. Nicht mehr nur eine gelehrte, sondern eine inzwischen allgemein interessierte Lese-Öffentlichkeit will informiert werden über die Erfahrungen der Reisenden. Und nicht nur das: sie sollen ferner in ihrer Präsentation der Unterhaltung dienen, zum identifikatorischen Nacherleben diejenigen einladen, denen das Reisen selbst (noch) nicht möglich ist; und sie sollen durch ihre diskursive Verarbeitung von Wirklichkeit Orientierungshilfe sein in einer zunehmend komplexer werdenden Welt. Subjektivierung, Ästhetisierung (bis hin zum Status des Kunstwerks) und Politisierung sind demnach die drei Schlagwörter, mit denen sich der "Paradigmawechsel" fassen lässt.

Die eingangs entwickelten Thesen werden von Hentschel in den folgenden zehn Aufsätzen an verschiedenen Gegenständen expliziert. Das Ganze verhält sich wie ein Thema zu seiner Durchführung; die zu Beginn gezogenen Konturen werden jetzt detail- und kenntnisreich ausgefüllt. Forderte Hentschel in seiner Einleitung zur Behebung des Desiderats einer verbindlichen Gattungsgeschichtsschreibung des Reiseberichts "eine sinnstiftende Begrenzung auf eine durchgehende, einheitliche Betrachtungsebene", um endlich Ordnung in die vielfältigen Zugangsmöglichkeiten zum Material zu bringen, so hält er sich selbst konsequent an die gewählte literaturwissenschaftliche Ausrichtung. Dabei kann er deren Stärken in etlichen seiner Beiträge souverän aufzeigen. Auch wenn man weiß, dass acht der elf Aufsätze in den 90er Jahren bereits in verschiedenen Zeitschriften und Sammelbänden erstmals erschienen sind, tut dies der Kohärenz des vorgelegten Bandes keinerlei Abbruch.

Der literarische Charakter von Reisebeschreibungen, die Wirklichkeit eben nicht abbilden, sondern von den Schreibenden entsprechend gestaltet präsentieren, wird von Hentschel durchgängig transparent und nachvollziehbar gemacht. So vergleicht er die unterschiedlichen Darstellungsmodi in Joachim Heinrich Campes berühmten "Briefen aus Paris" mit dessen eigener Reisebeschreibung der Parisreise, die Campe für ein jugendliches Publikum im Rahmen seiner pädagogischen Publikationen geschrieben hat. Hentschel bestimmt die jeweilige Wahl der Mittel in ihrem Verhältnis zur didaktisch-politischen Intention des Autors. Oder er schildert den unbeholfenen Versuch des Gegenaufklärers August von Göchhausen, sich die Darstellungsformen der populären aufklärerischen Wanderliteratur anzuverwandeln, um so das Genre für seine politischen Zwecke umzufunktionalisieren. Am beeindruckendsten ist in diesem Zusammenhang der materialgesättigte Beitrag zu den Schilderungen des Rheinfalls bei Schaffhausen. Über fast hundert Jahre hinweg zeigt Hentschel hier das Wechselverhältnis zwischen einer Vertextung von erhabener Naturerfahrung und den rasch sich verhärtenden Gattungs- und Beschreibungstraditionen. Diese determinieren alle weiteren Darstellungen des Rheinfalls und präfigurieren die Erwartungen der Reisenden so weit, dass dem Kanon der Metaphern und Wortschablonen rasch die automatisierten und eingeübten Reaktionsmuster der Besucher entsprechen.

Derart gelungene literaturgeschichtliche Analysen stimmen wohlwollend gegenüber einigen anderen Aufsätzen des Bandes, die zwar eine Fülle an neuem, bislang kaum berücksichtigtem Material verarbeiten, aber dabei nicht selten eine Synthese vermissen lassen. Besonders auffällig ist dies bei der Schilderung der Wahrnehmung und Bewertung der Mainzer Republik durch deutsche Reisende und bei der Darstellung Böhmens im 18. und 19. Jahrhundert. Mit Einschränkungen gilt dies auch noch für den typologisierenden Vergleich der Kriegsberichterstattung über die Koalitionskriege in den 1790er Jahren und das Deutschlandbild dreier deutscher Revolutionstouristen auf dem Weg nach Frankreich. Der in der Reiseliteraturforschung so beliebte und auch vom Verfasser wiederholt bemühte Begriff des "Bildes" erweist sich in seiner homogenisierenden Statik angesichts der vorgelegten Beispiele als recht unzutreffend. Aus der additiven Reihung unterschiedlichster Positionen, wie sie bei einem politisch so brisanten Thema wie der Französischen Revolution ja auch nicht anders zu erwarten sind, geht aber immerhin hervor, dass die Reisebeschreibung als Gattung ein bevorzugter Ort öffentlicher Meinungsbildung und der interessierten Aufarbeitung von Informationen gewesen ist; die Gattung - und darauf kommt es Hentschel an - bediente sich spezifischer darstellerischer Mittel, um so meist implizite, wirkungsästhetische Ziele zu verfolgen. Wie und vor allem auf welcher Grundlage darüber hinaus der Verfasser nach dem Befund der literarisch geprägten Wirklichkeitskonstruktion und -vermittlung den Wahrheitsgehalt der von ihm betrachteten Texte stellenweise qualifiziert und dabei Verfälschungen und Verzerrungen der Wirklichkeit moniert, bleibt weitgehend undurchsichtig und lässt seine Ausführungen punktuell eigentümlich schillernd geraten.

Georg Foster war ein Reisender, der wirkungsästhetische Intentionen schon früh theoretisiert, in zahlreichen Rezensionen daran anknüpfende gattungspoetische Überlegungen thematisiert und in seinen eigenen Reisebeschreibungen schließlich umzusetzen versucht hat. Ihm widmet Hentschel zwei konzise Beiträge: Der eine stellt die Übersetzungstätigkeit Forsters anhand einer erfolgreichen Reihe von Reiseberichten in der Vossischen Verlagsbuchhandlung vor. Selbst in diesem umkämpften Segment des Buchhandels bemühte sich Forster um eine Realisierung seines Volksbildungskonzepts mittels Literatur, wie es der andere Beitrag herausarbeitet. Politische Emanzipation und individuelle Vervollkommnung sind die geschichtsphilosophisch und naturrechtlich fundierten Ziele von Forsters Literaturprogramm; dementsprechend strukturiert er sein Material: unterhaltende Elemente sollen die Leser erreichen, und eine transparente Urteilsfindung des Autors soll ihnen zur Erkenntnis von Zusammenhängen verhelfen. Eine Ästhetik der Einfühlung und Identifikation ist hier unauflöslich verknüpft mit dem Bestreben, aufklärerisch zu wirken. Hentschel vermag durch sein ausgreifendes Kontextwissen zu zeigen, dass neben solchen elaborierten und wegweisenden Überlegungen, die Vorstellungen zur Gattung und die eigene Textpraxis beispielsweise eines Goethe gattungsgeschichtlich dann nicht nur nicht bedeutend, sondern keinesfalls paradigmatisch gewesen sind. So kann Hentschel hartnäckig kolportierte Forschungspositionen widerlegen.

Wurde oben gesagt, der Auftaktaufsatz und das Folgende verhalte sich wie Thema und Durchführung, so ist diese These abschließend zu ergänzen. Das schon im zweiten Beitrag eingeführte Seitenthema nämlich lautet Georg Forster. Dass dessen wirkungsästhetische Konzeption auch vom Autor geteilt wird, zeigt sich an zahlreichen seiner wertenden Urteile und an einigen Mängeln der betrachteten Texte. Wie sein Kantor favorisiert auch Hentschel die gelungene Mischung aus der rein gelehrt-statistischen Darstellungsform und dem beständig vom Trivialen und Oberflächlichen bedrohten subjektiv-empfindsamen Berichtstyp in operativer Funktion. Immer ist es der Grad an aufklärerischer Wirkung auf den Leser, an geglückter Wahrheitsvermittlung, der fokussiert wird. Diese Parteinahme geschieht behutsam und mag den Verfechtern eines historistischen Unbeteiligtseins, die Hentschel im übrigen durch die bewältigte Materialfülle und Genauigkeit seiner Präsentation hinreichend zufriedenstellen dürfte, kritikwürdig erscheinen - unsympathisch ist sie nicht.

Titelbild

Uwe Hentschel: Studien zur Reiseliteratur am Ausgang des 18. Jahrhunderts.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
284 Seiten, 42,90 EUR.
ISBN-10: 3631342861

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