Das abweichende Weib und andere Normalitätskonstrukte seit der Aufklärung

Neuerscheinungen von Maren Lorenz, Thomas Rolf, Joseph Sandler, Anna Ursula Dreher und Norbert Bolz über Vorstellungen von Normalität oder Gesundheit

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die kulturellen Konstrukte dessen, was normal und was abweichend ist, sind mit Definitionen über Gesundheit und Krankheit eng verknüpft. Das normative Selbstverständnis moderner Kulturen ist von solchen Konstrukten und Definitionen in erheblichem Maße geprägt. „Die Norm wird zum Kriterium, nach dem die Individuen sortiert werden. Sobald sich eine Normgesellschaft entwickelt, wird die Medizin, die ja die Wissenschaft vom Normalen und Pathologischen ist, zur Königin der Wissenschaft.“ Das konstatierte in den siebziger Jahren Michel Foucault. Der Einfluß seiner Schriften zu dem Themenbereich auf die Kulturwissenschaften scheint heute ungebrochen. Jürgen Links vor zwei Jahren erschienener diskursanalytischer „Versuch über den Normalismus“ (siehe die Rezension dazu in dieser Ausgabe) ist ebenso maßgeblich von Foucault geprägt wie zwei eben erst publizierte Bücher: Das eine beginnt, das andere endet mit Ausführungen zu Foucault. Das eine stammt von der Historikerin Maren Lorenz und trägt den Titel „Kriminelle Körper – Gestörte Gemüter“ und beschreibt, so der Untertitel, „Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung“. Das andere ist der Versuch, Bedeutungen des philosophischen Begriffs „Normalität“ in Schriften von William James, Edmund Husserl, Sigmund Freud, Jean-Paul Sartre und eben Michel Foucault zu rekonstruieren.

Maren Lorenz präsentiert eine Fülle von gerichtsmedizinischen Fallgeschichten aus dem 17. und vor allem aus dem 18. Jahrhundert als erstrangige Quellen für eine Geschichtsschreibung des Alltagslebens und der Mentalitäten. In Anknüpfung an noch junge Forschungstraditionen der Mentalitätsgeschichte, der Historischen Anthropologie und des New Historicism sieht sie in diesen Quellen eine Möglichkeit, auch „Emotionen, Sinneserfahrungen, Denkmuster und Selbstbilder“ der Vergangenheit zum Forschungsgegenstand zu machen. Wovon sich Freud in den „Studien zur Hysterie“ eigentümlich berührt zeigte, nämlich daß die „Krankengeschichten“, die er schrieb, „wie Novellen zu lesen“ seien und ohne das „Gepräge der Wissenschaftlichkeit“ eine „Art von Einsicht in den Hergang des Leidens“ ermöglichten, war schon im Jahrhundert der Aufklärung ein vertrautes Phänomen. „Die Struktur der Quellen macht deutlich“, so stellt Maren Lorenz fest, „daß die angebliche Neuartigkeit der Freudschen psychoanalytischen Technik (Krankheitsbericht als Behandlungsbericht, Kasuistik als literarische Form, Bericht als wissenschaftliches Beweismaterial) bereits schon viel früher entwickelt wurde als angenommen.“

Die von Maren Lorenz über dreihundert Seiten hinweg ausführlich wiedergegebenen und zitierten Fallgeschichten handeln, verteilt auf die Kapitel „Körper vor Gericht“ und „Seelen vor Gericht“, von Impotenz und Unfruchtbarkeit, unehelichen Schwangerschaften, Abtreibungen und Kindsmord, Vergewaltigungen, Selbstmordversuchen, Hexerei, Trunksucht, Melancholie oder Raserei. Die geschilderten Fälle werfen in der Tat ein erhellendes Licht auf die normativen Konstruktionen der damaligen Gesellschaft.

In welche Widersprüche sich die Normierungen der Individuen in Gerichtsmedizin und Psychiatrie bisweilen verwickelten, zeigt Lorenz unter anderem an der Sexualmoral für das weibliche Geschlecht. Zirkulierte einerseits ein diätetischer und therapeutischer Diskurs, „der regelmäßigen Beischlaf unabdingbar für die Gesundheit von Frauen hielt“, die hysterieanfällig waren, so wurde andererseit die Sexualität unverheirateter Frauen pathologisiert. Im Zusammenhang damit stand die männliche „Angst vor der weiblichen Ausdauer“. „Jedem aufmerksamen Beobachter war schließlich bekannt, daß eine Frau – anders als ein Mann – durch den Beischlaf nicht ’schlaff‘ wurde, ob es ihr gleich hundert mal an einem Tage gethan würde, so ermüdet es sie zwar, aber zu ersättigen vermöchte es sie nicht‘. Solange jedoch das sexuell schwächere Geschlecht als anatomische und ethische Norm fungierte, an der sich das per se abweichende Weib messen lassen mußte, war jegliche nicht der Fortpflanzung gewidmete sexuelle Äußerung von Frauen zwangsläufig als Erkrankung zu lesen.“

Die Stärken dieses Buches liegen sicher nicht in seiner theoretischen und methodologischen Grundlegung. In seinen kulturkonstruktivistischen Perspektiven bleibt es mit seiner Einschätzung der Quellen als authentische Zeugnisse damaligen Gefühlslebens gelegentlich inkonsequent. Was die literaturwissenschaftliche Aufklärungsforschung zu dem Thema seit mehr als zwanzig Jahren beigetragen hat, übersieht die Historikerin weitgehend. Doch mit der sprechenden Fülle an gerichtsmedizinischem Quellenmaterial gibt sie so anschauliche wie erhellende Einblicke in die aufklärerische Allianz von Medizin und Moral sowie über die sich damals neu formierenden Techniken zur Normierung der Körper und der Seelen. Die Ergebnisse leiten einmal mehr zur Skepsis gegenüber dem „geisteswissenschaftlichen Hohelied der Errungenschaften der Aufklärung“ an. Denn: „Wer im medizinisch installierten Filter hängenblieb, hatte teilweise sogar weniger Spiel- und Schonraum als in der – nicht zu romantisierenden, aber immerhin an der christlichen Barmherzigkeit als eigenständigem nichtutilitaristischem Wert orientierten – katholischen Welt des Mittelalters.“

Daß gut hundert Jahre nach den von Lorenz präsentierten Fallgeschichten mit der psychoanalytischen Aufklärung über Sexualität nicht unbedingt deren Befreiung von einer repressiven Moral verbunden war, sondern neue Formen normierender Kontrolle über das moderne Subjekt geschaffen wurden, darauf hatte wiederum Foucault in „Sexualität und Wahrheit“ verwiesen. Indem Thomas Rolf in einem Kapitel seines Buches den Begriff der „Normalität“ bei Freud zu rekonstruieren versucht, geht er auch auf die normativen Implikationen der Psychoanalyse ein. In den Klärungen der verschiedenen Verwendungsweisen des Normalitätsbegriffs hat Rolfs Buch auch sonst erhebliche Verdienste. Im alltäglichen Wortgebrauch bedeutet Normalität so viel wie „Durchschnittlichkeit, Gewöhnlichkeit, Üblichkeit, Regelmäßigkeit, körperliche oder geistige Gesundheit sowie Reibungslosigkeit oder Funktionalität“. Unter all diesen möglichen Bedeutungskomponenten das jeweils Gemeinte zu erkennen ist oft nicht leicht. Hatte Jürgen Link schon eindringlich gefordert, zwischen Normalität und Normativität strikt zu unterscheiden, so verweist auch Rolf nachdrücklich auf die zweideutige Vermischung von deskriptiven und normativen Bedeutungsmerkmalen des Begriffs. „Das Normale beschreibt einerseits einen faktischen Zustand, also eine Tatsache, andererseits einen angestrebten Idealzustand“. Daß sich im Reden oder Schreiben über Normalität Aussagen über Tatsachen und Aussagen über Wünschenswertes, also über das Sein und über das Sollen, so oft verwischen, macht die rhetorische Attraktivität des Begriffs zur Durchsetzung sozialer Normen und Werte aus. Sätze wie „So verhält sich kein normaler Mensch“ oder „Das ist ja anormal“ beziehen ihren normativen Orientierungs- oder Disziplinierungseffekt aus dem Anspruch auf empirische Wahrheit.

In dem instruktiven Kapitel über Freud zeigt Rolf allerdings, daß der psychoanalytische Nomalitätsbegriff solchen Normierungsstrategien tendenziell zuwiderläuft. Freud hat dazu beigetragen, die vormals vielfach strikt gezogenen Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit wieder zu verflüssigen. Zwar haben seine Werke keine ausdrückliche Normalitätstheorie entwickelt, doch lassen sich seine Vorstellungen über die strukturelle Identität von Normalem und Pathologischem aus vielen verstreuten Äußerungen rekonstruieren. „Jeder Normale“, so schrieb er an einer Stelle, sei „eben nur durchschnittlich normal, sein Ich nähert sich dem des Psychotikers in dem oder jenem Stück, in größerem oder geringerem Ausmaß“. Wie der Schritt „vom Liebhaber zum Lustmörder“ sei der Übergang zwischen Normalität und Abnormität nicht so unwahrscheinlich, wie es den meisten scheint. Eine „ganz scharfe Grenzscheide zwischen Normalität und Pathologischem“ gebe es nicht. Vertraute Bewußtseinszustände wie Trauer, Verliebtheit oder der Traum seien „Normalvorbilder krankhafter Affektionen“.

Wo das Pathologische nicht grundsätzlich vom Gesunden unterschieden wird, sondern nur dessen karikaturähnlich verzerrte Übertreibung ist, kann es zur erstrangigen Erkenntnisquelle werden. In pathologischen Zuständen scheint Normales zur besseren Kenntlichkeit entstellt und verfremdet. Das vehemente Interesse der Psychoanalyse wie der modernen Literatur am Pathologischen ist nicht zuletzt dadurch motiviert. Die Psychopathologie dient nach Freud vor allem auch dem Zweck, bewußtseinstheoretisch relevante „Verhältnisse kenntlich zu machen, die in der Realität verdeckt geblieben sind“.

Auch die psychoanalytischenVorstellungen von Krankheit und Gesundheit haben natürlich ihre normativen Implikationen. Über den Freudschen Imperativ „Wo Es war, soll Ich werden“ ist viel gestritten worden. Er darf, so betont Rolf, „keinesfalls im Sinne der Elimination, sondern allenfalls als Aufforderung zur Transformation des Unbewußten in Bewußtes verstanden werden“. Die psychoanalytischen Vorstellungen von Gesundheit und damit auch die Zielvorstellungen psychoanalytischer Behandlung haben mittlerweile allerdings eine eigene Geschichte. Der Wandel der Ziele macht einen wichtigen Teil der Geschichte der Psychoanalyse aus. Davon handelt das 1996 in englischer und jetzt auch in deutscher Sprache erschienene Buch des lange Jahre in London lehrenden und praktizierenden Psychoanalytikers Joseph Sandlers (er starb 1998) und der Analytikerin Anna Ursula Dreher. Das Buch mag vor allem Psychoanalytikern zur Selbstreflexion ihrer therapeutischen Tätigkeit dienen, doch ist es zugleich auch ein Stück Kulturgeschichte der sich im Zeichen von Gesundheit und Krankheit wandelnden Werte und Normen im 20. Jahrhundert.

Es sei klar, „daß Freud ein Konzept von Normalität im Kopf“ hatte, wenn er über Behandlungsziele nachdachte. Doch habe er gravierende Zweifel an der Erreichbarkeit solcher Ziele gehegt. Er selbst schrieb: „Man darf aber dabei nicht vergessen, daß ein solcher Idealzustand auch beim normalen Menschen nicht besteht, und daß man nur selten in die Lage kommen kann, die Behandlung annähernd so weit zu treiben. So wie Gesundheit und Krankheit nicht prinzipiell geschieden sind, sondern nur durch eine praktisch bestimmbare Summationsgrenze gehindert sind.“ Dieser therapeutische Pessimismus (man könnte allerdings auch von Bescheidenheit reden) läßt sich auch als Warnung verstehen, den Patienten und die Therapie zu überfordern, durch zu hohe Erwartungen zu große Enttäuschungen zu riskieren, also Gesundheit als Wert und Krankheit als Unwert zu hoch anzusetzen.

Gegen Ende des Jahrhunderts lassen sich nach Sandler und Dreher verbindliche Vorstellungen über die Behandlungsziele der Psychoanalyse nicht mehr ausmachen. Deren Pluralität ist so groß wie die gegenwärtige Pluralität kultureller Normen und Werte. So hat auch die Entwicklung der Psychoanalyse Anteil an postmodernen Zurückweisungen von Einheitsoptionen und geschlossenen Systemen.

Eine geradezu programmatisch postmoderne Bekenntnisschrift zum Thema Norm und Normabweichung hat Norbert Bolz vorgelegt. Sie trägt den so paradoxen wie polemischen Titel „Die Konformisten des Andersseins“ und faßt mit ihm die These zusammen, daß in bestimmten kulturellen Milieus Normalität keineswegs hochgewertet wird, sondern individualisierende Abweichungen von der Norm in einem derartigen Maße gesucht werden, daß sie selbst geradezu zur Norm werden. „Es ist unter soziologischen Beobachtern der westlichen Welt heute unstrittig, daß wir in einer funktional differenzierten Gesellschaft leben. Und das bedeutet eben für jeden Menschen: ich bin wie jeder andere jedermann. Das ist schwer zu ertragen, und begierig greift man deshalb Angebote der Identität und Einmaligkeit auf. Die Individualitätswerte kompensieren wachsende Abhängigkeit und Ersetzbarkeit. Das Ziel dieser Individualität ist aber das aller allgemeinste: anders als alle anderen zu sein. Wir haben es hier also mit einer verfänglichen Spielart der Sei-spontan-Paradoxie zu tun: Weiche vom Gewohnten ab!“

Daß die Abweichung vom Gewohnten selbst zur Gewohnheit werden kann, wird von Bolz zutreffend gesehen und beschrieben. Doch was ist damit beabsichtigt? Das Buch trägt den Untertitel „Ende der Kritik“, und was von ihm einmal mehr verabschiedet wird, ist der Typus des kritischen Intellektuellen. Die Linksintellektuellen sind die „Konformisten des Andersseins“, die Bolz meint. Abgesehen davon, daß es sie so, wie sie von Bolz als Popanze seiner Polemik beschrieben werden, kaum noch gibt (wer hantiert zum Beispiel heute noch mit dem Begiffspaar „affirmativ“ und „kritisch“?), ist das Niveau, auf dem Bolz ihnen hämisch zu Leibe rückt, oft kläglich. „Konsens ist Nonsens“ – mit flotten Sprüchen wie diesem ist ihnen jedenfalls nicht überzeugend beizukommen. „Andy Warhol hatte recht: Die Welt ist schön, wo es McDonalds gibt. Jetzt ist auch Moskau schön.“ Die Alternativen zum linksintellektuellen Milieu, zu denen sich Bolz bekennt, nehmen nicht unbedingt für ihn ein. Neben Carl Schmitt beruft er sich auf Harald Schmidt: „Die Harald Schmidt Show beweist, daß es intelligenten Unsinn gibt – und ein Lachen, das ein Denken ist.“

Kritisches Denken macht einfach keinen Spaß. Bolz beruft sich mit dieser Einschätzung auch auf Freud. Er kennt dessen Einsicht, daß kritisches Denken mit Anstrengung verbunden ist und daß es lustvoll sein kann, sich von dieser Anstrengung zu befreien. Freud nannte diesen Vorgang „Aufwandsersparnis“. Der Ermattung von den Anstrengungen kritischen Denkens setzt Bolz die Erholung entgegen. Erschöpft von der „Akkordarbeit am Projekt der Moderne“ haben wir Entspannung verdient. Und diese gewinnen wir, wenn wir endlich das, was ist, zu bejahen lernen, statt es ständig kritisch zu hinterfragen. Das zumindest legt Bolz nahe.

„Alle Kreter lügen“, sagt der Kreter. Das berühmte Paradox läßt sich abwandeln: Kritiker sind Konformisten, kritisiert Bolz. Aus dieser Paradoxie der Normiertheit von Normabweichungen kann sich Bolz auch nicht durch die Unterscheidung von „Konformisten des Andersseins“ und „Nonkonformisten des Andersseins“ befreien. Dem Rezensenten bleibt die Aufgabe, bei der Beurteilung solcher Bücher ein gewisses Argumentationsniveau zur Norm zu erheben. Doch da schneidet Bolz im Vergleich zu manchen seiner Gegner schlecht ab. Und auch wenn man noch Originalitätsnormen verhaftet ist, kommt das Buch nicht gut weg. Das ist die Postmoderne der achtziger Jahre, die uns am Ende der neunziger Jahre noch einmal präsentiert wird.

Titelbild

Joseph Sandler / Anna Ursula Dreher: Was wollen die Psychoanalytiker? Das Problem der Ziele in der psychoanalytischen Behandlung.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1996.
253 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3608919015

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Norbert Bolz: Die Konformisten des Andersseins.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
160 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3770533682

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Maren Lorenz: Kriminelle Körper-Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung.
Hamburger Edition, Hamburg 1999.
ca. 450, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3930908441

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Thomas Rolf: Normalität. Ein philosophischer Grundbegriff des 20. Jahrhunderts.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
322 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3770533917

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