Die Kämpfe einer neuen Epoche

Volker Braun skizziert die globalisierte Welt

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer oberflächlich liest, mag Resignation in Volker Brauns neuer Prosa finden: "Wie gesagt, es war alles probiert. Erfindungen, Pläne, Kriege. Unerhörte Verwirklichungen, Vernichtungen. Man hatte, auf allen Kontinenten, alle Ideen verbraucht. Man hatte Worte gehabt, die nichts mehr galten: revolución in Mexiko, socialismo in Peru, es war immer Kapitalismus gewesen. In Russland hat man sich noch eine Epoche weiter geträumt und gedroschen. Globalisierung, dem Glauben hing man jetzt an. Man war nie und nirgends auf den Grund gekommen, der umzuwälzen war."

Mit diesen Worten lässt Braun den neunzigjährigen brasilianischen Architekten Borges das vergangene Jahrhundert resümieren. Und tatsächlich steht in jeder der drei äußerst konzentrierten Erzählungen ein gealterter Mann im Zentrum, der desillusioniert auf seine linke Vergangenheit zurückblickt - und jeder von ihnen ist auch in sich zerrissen.

Borges etwa tritt in die Handlung, indem er den bettelnden Straßenjungen Jorge aufliest, in seine Wohnung bringt, dort mit Essen und Kleidung versorgt und sich entschließt, dem Kind die Welt von Bildung und Wissen zu eröffnen. So soll Jorge lernen, für seine Interessen zu kämpfen. Eine lobenswerte Entscheidung, sollte man meinen; zudem tritt Borges nicht als mitleidiger Engel auf, der von oben herab Gnade verteilt, sondern stellt seine Handlung explizit als politisch dar: Er warnt Jorge vor bloßem Reformismus; und stehlende, damit energisch handelnde Straßenkinder sind in seinen Augen den nur demütig bittenden überlegen.

Aber: Seine eigene Wohnung, die eines Privilegierten, ist mit mehreren eisernen Türen vor Dieben gesichert. Jorge erfährt stundenlang nicht, was mit ihm geschehen soll und lebt für diese Zeit in der Angst, als Strichjunge missbraucht zu werden. Borges beschäftigt Männer, die er pseudodemokratisch als "Mitarbeiter" bezeichnet, für ihn "rechtschaffene Kreaturen", von denen er gleichzeitig denkt: "Von ihnen war nichts zu fürchten und zu erwarten. Ihnen konnte er sich nicht verständlich machen." Ein schwarzes Hausmädchen steht ihm ebenso zur Verfügung wie eine Prostituierte in einem Stadtteil, dessen Verelendung er dem neoliberalen Präsidenten Cardoso vorwirft: "Diese gierige Stunde verlängerte sein Leben. Aber es war ein Spiel, für das man bezahlte. Sie bestimmten den Einsatz, aber nicht die Regel. ARM UND REICH, es war die Regel der Welt."

Moralische Entschuldigung für individuelles Fehlverhalten also, der Trick, die eigene Tat zum Einzelfall der Regel zu verniedlichen? Vielleicht. Aber, da die gegenseitigen Interessen geklärt sind: "Eine so faire Ehe hatte er nie geführt." Und da ist außerdem die Gier nach Leben, nach Erleben, die den uralten Borges als so viel vitaler erscheinen lässt als seine bloß funktionierenden Mitarbeiter.

Jedem billigen Moralismus ist in Brauns präzise herausgearbeiteter Konstellation der Boden entzogen; Borges ist widersprüchlich nicht, indem er gute und schlechte Seiten hat, sondern indem in einer Einheit von Widersprüchen alle Aspekte sich bedingen: die Vitalität, durch hierarchische Sexualität verbildlicht und verwirklicht, ist untrennbar von der Wertung, dass aktives Stehlen besser als passives Betteln sei; sie ist eben die Energie, die Jorge zum Objekt der Pläne Borges' macht. Und als Reicher, obgleich er den Diebstahl fordert, braucht Borges die eisernen Türen, die ihn von der Außenwelt abschließen. Wie von jeher, begnügt sich Braun nicht mit simplen Lösungen, sondern arbeitet das Konflikthafte heraus, das erst Geschichte wieder in Bewegung bringen kann.

Privilegiert ist auch der römische Professor Giorgio Badini in der ersten Erzählung. Akademisch erfolgreich, konnte er das in seiner Kindheit von außen bewunderte Landgut kaufen, und sein einst armer Vater, dann "der glücklichste Mann", mauerte ihm die Terrasse neu. Freilich kam Badini mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder sein Thema, "la rivoluzione", abhanden. Inmitten der paradiesischen Natur richtet er sich nun mit seiner Frau Lucia ein. Dann aber werden Giorgio und Lucia mit Gjergj und Luisa konfrontiert, jungen albanischen Flüchtlingen, die in das Idyll einbrechen und für das Ehepaar gleichzeitig Störung, erotische Attraktion und zukünftiges Hauspersonal darstellen.

Beide Erzählungen enden mitten im Satz, in einer Situation, in der Gewalt unmittelbar droht: Gjergj und Luisa dringen in das Zimmer ein, in dem das bereits verletzte Ehepaar verharrt; Borges ist hilflos der Bande von Straßenjungen ausgesetzt, die Jorge in seine Wohnung führt. Dennoch geht es nicht um dumpfe Brutalität fremder Unterprivilegierter, die Braun seinen linken Protagonisten entgegenstellt. Im Gegenteil: Schon die Namensähnlichkeiten verweisen darauf, dass die jungen Eindringlinge ihren möglichen Opfern in vieler Hinsicht gleichen. Der Vitalität Borges' entspricht diejenige Jorges, der sich nicht mit den Geschenken seines Wohltäters begnügen will, sondern für sich und seine Gruppe Besitz erkämpft. Die in sich gebrochene Alterssinnlichkeit der Badinis ist verwandt mit der offenen Erotik der Flüchtlinge; deren fester Wille, sich eine Existenz in dem Land zu erkämpfen, das sie abschieben will, erinnert an den tatsächlichen Aufstieg Giorgio Badinis, der individuell zu Wohlstand gelangt ist. Am offensten erscheint die Parallelität der Generationen, die sich deshalb und dennoch bekämpfen, im mittleren Text: Der Ingenieur Sachar Baschkin hat Großes geleistet beim Eisenbahnbau in Sibirien, doch wird er in der Marktwirtschaft nicht länger gebraucht. Gestrandet irgendwo neben der neuen Strecke, lebt er mit seiner Frau in einem verrottenden Bauwagen und hängt doch noch an sinnvoller Ordnung. So will er seinen randalierenden Neffen bei der Miliz abliefern und zwingt ihn mit vorgehaltener Waffe auf den Weg. Auf einen Weg, auf dem Baschkin auch über sich selbst Gericht hält und erkennt, dass er selbst zum unnützen Menschen geworden ist. Am Ende hebt er die Hand mit der Waffe - ungewiss bleibt, ob er schießen wird und auf wen.

Dreimal betont Braun, dass die Geschichte offen ist; der doppelsinnige Titel seiner berühmten "Unvollendeten Geschichte" von 1974 könnte auch über den neuen Erzählungen stehen. Die Gestaltung aber übertrifft vielleicht noch das frühere Werk: Brauns Prosa ist in allen drei Texten äußerst verdichtet. Nirgends steht ein Satz, der nicht seine Funktion hätte, und nirgends verselbständigt sich ein beziehungsloses Motiv. Dennoch handelt es sich um alles andere als um hermetische Gedankenkonstrukte. Mit einem einzigen Satz, der die Perspektive seiner trotz allem lebenszugewandten Protagonisten umreißt, vermag Braun mehr Sinnlichkeit zu vermitteln als manch anderer Autor, der mit seitenlangen Beschreibungen Plastizität doch verfehlt. Die Vielfalt der Bezüge zwingt der Leser in kein Raster, legt ihn nicht fest, sondern eröffnet ihm stets neue Durchblicke. Was sprachlich genau erfasst ist, behält trotzdem seine Rätsel. Offen bleibt dabei, was das "Wirklichgewollte" ist, von dem der Titel spricht.

Genau besehen resignieren am Ende nicht einmal Brauns Protagonisten, so ernüchtert sie auch auf die Hoffnungen des vergangenen Jahrhunderts zurückblicken. Borges bleibt immerhin die Frage nach dem "Grund, der umzuwälzen war". Worum handelt es sich? Um die Arbeit, hätte Braun früher geantwortet. Heute dürfte er eine andere Lösung suchen; keine einzige der Figuren steht im Produktionsprozess, und die Mehrzahl ist im Verlauf der Globalisierung aus normalen sozialen Bezügen herausgefallen. Doch solange die gesellschaftlichen Hierarchien bleiben, ist die Suche nach dem Ansatzpunkt einer grundlegenden Umwälzung nicht beendet. Brauns luzide Beschreibungen dessen, was am Ende des einen Jahrhunderts ist, sind Ansatzpunkt für die Kämpfe des nächsten.

Titelbild

Volker Braun: Das Wirklichgewollte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
55 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3518411705

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