Aufgeladenes Rauschen

Fragen zum Gedicht

Von Robert GernhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Gernhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Jahrzehnt, ein Jahrhundert und ein Jahrtausend neigen sich dem Ende zu, da ist es Menschenart, zurückblickend Bilanz zu ziehen, und auch der Lyrikfreund und Gedichtekenner macht selbstredend keine Ausnahme. Einen Milleniumsrückblick auf das deutsche Gedicht habe ich bisher nicht zu Gesicht bekommen, dafür drei Jahrhundertbilanzen, von Axel Marquardt, von Rudolf Helmut Reschke sowie - last, aber auf keinen Fall least - von Harald Hartung, dessen Band "Jahrhundertgedächtnis" einen sehr verläßlichen und anregenden Lyrikspeicher des Saeculums bereitstellt.

Hier und heute freilich soll es um einen kürzeren Zeitraum gehen, um "Deutschsprachige Lyrik der neunziger Jahre". So lautet der Untertitel der Sammlung "Das verlorene Alphabet", herausgegeben von Michael Braun und Hans Thill, erschienen im Heidelberger Wunderhorn Verlag.

Die Herausgeber sind Wiederholungstäter. Im Nachwort erwähnt Braun das "Vorgängerprojekt dieser Anthologie, die Gedichtsammlung 'Punktzeit'", eine 80er-Jahre-Ernte also, die ich allerdings nicht kenne. Dafür habe ich mir vor fast zehn Jahren eine Konkurrenzunternehmung genauer angeschaut, die sich dem gleichen Zeitraum gewidmet hatte, Hans Benders Anthologie "Was sind das für Zeiten", die 1988 im Hanser Verlag erschienen ist und die mir heute aufschlußreiche erste Vergleiche sowohl zwischen der Lyrik der 80er und der 90er Jahre erlaubt wie auch zwischen zwei recht unterschiedlichen Anthologie-Konzepten.

Vorab einige Zahlen : Bender stellte auf 282 Seiten 162 Dichterinnen und Dichter zusammen, Braun und Thill bringen es auf 256 Seiten und 127 Autoren. Immerhin 51 Poeten sind in beiden Sammlungen vertreten, angefangen vom 1915 geborenen Nestor der deutschen Poesie Karl Krolow bis zu einem vergleichsweise jungen Semester wie Jan Koneffke, Jahrgang 1960 - eine Poetenschar, die eindrucksvoll belegt, daß sich Dichter und Gedichte - anders als Popmusik und Klamotten - nicht so recht ins Dezennienraster pressen lassen, schon gar nicht jene Dichter, die seit Jahrzehnten unbeirrt ihr Ding machen, Stimmen wie Ernst Jandl, geboren 1925, Oskar Pastior, geboren 1927 oder Peter Rühmkorf, geboren 1929.

Beide Anthologien gedenken der im jeweiligen Jahrzehnt verstorbenen Dichter - Bender stellt Gedichte von Ernst Meister, Nicolas Born, Peter Huchel und anderen an den Beginn seiner Sammlung, Braun und Thill beenden die ihre mit Gedichten von Heiner Müller, Hermann Lenz, Helmut Heißenbüttel und anderen. Bender wie Braun schließen ihr Nachwort mit je einem Joseph Brodsky-Zitat.

"Gedichte sind nichts anderes als ein Spiegel der Zeit" zitiert Bender und "innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums legt ein Gedicht eine enorme geistige Strecke zurück und gewährt einem oft gegen Ende eine Epiphanie oder Offenbarung" zitiert Braun - doch hier enden die Gemeinsamkeiten bereits: Während Bender die Autoren nach dem Prinzip `Alter vor Schönheit´ auftreten läßt, also schön den Geburtsjahrgängen nach, setzen Braun und Thill auf ein anspruchsvolleres und erkenntnisfördernderes Konzept: "Dabei leisten sich die Herausgeber den Luxus, die einzelnen Texte nicht nach poetischen 'Schulen' oder literarischen 'Frontlinien' zu sichten und zu sortieren, sondern nach Motivbezügen zu suchen, lyrisch-ästhetische Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den Texten aufzudecken, überraschende Korrespondenzen zu entschlüsseln. `Das verlorene Alphabet´ betreibt also - in elf Kapiteln - eine poetische Konfrontationsstrategie."

Den Widerstreit der Stimmen zu organisieren, ist den Herausgebern immer wieder recht gut gelungen - doch wie steht es um die Kriterien, nach denen sie die Stimmen ins Buch haben gelangen lassen? "`Das verlorene Alphabet´ versucht eine umfassende Bestandsaufnahme all jener poetischen Texte und Stimmen am Jahrhundertende, die sich durch ästhetischen Eigensinn und eine - stets gefährdete, fragmentierte, mitunter als schroffe Dissonanz erscheinende, gleichwohl trotzig behauptete - Schönheit auszeichnen."

Eigensinn und Schönheit - das klingt nach einer reichlich zeitentrückten, postmodern pluralistischen Ästhetik - haben denn "Avantgarde" und "Moderne" als Begriffe und Inbegriffe zeitgenössischer Dichtung abgedankt? Anfangs mag es so scheinen: "`Das verlorenen Alphabet´ lehrt dagegen die Skepsis gegenüber dem angeblichen Fortschritt in der lyrischen Materialbeherrschung. Am Ende des Jahrhunderts lauern keine poetischen Revolutionen mehr auf ihren triumphalen Auftritt; es dominieren die Reprisen, Rekonstruktionen, Übermalungen und kunstvollen Fortschreibungen", heißt es im Kapitel I des Nachworts. Im Kapitel VI freilich läßt Braun dann doch die etwas abgespeckte Avantgarde-Katze aus dem Moderne-Sack: "Lyrikgeschichte, so belehrt uns der Literaturwissenschaftler Erk Grimm (1995), ist immer auch Mediengeschichte: Die avanciertesten Verfahrensweisen der zeitgenössischen Lyrik verortet er in der `Kontaktzone zwischen Körper und Medien´, in die das lyrische Subjekt abtauche, umflossen von `polyglotten Informationsströmen´. Nicht mehr von Natur, Liebe und romantischem Gefühl sei das moderne Gedicht beseelt, sondern von Sprache und Schrift als 'spaltbarem Material'."

Da sind sie also wieder, die "avanciertesten Verfahren" ebenso wie das "moderne" Gedicht und darin, daß die Gedichte eines Thomas Kling solchen Standards am idealtypischsten entsprechen, sind sich der Literaturwissenschaftler und der Anthologist einig. Von Klings "hochaufgeladenen Texten" spricht Braun und davon, daß sie das "Flimmern und Rauschen der schönen neuen Medienwelt" registrieren - mit vier Gedichten ist Kling denn auch der neben Pastior meistvertretene Dichter der Anthologie.

1990 war Hans Magnus Enzensberger nach der Lektüre von Benders 80er Jahre-Bilanz zu einem verheerenden Urteil gekommen: Der Großteil der Gedichte sei unpolitisch, öde, harmlos, sturzbetroffen, tränentreibend dilettantisch, kritischer Kindergarten, S-Bahngefasel, irgendwo zwischen Tief- und Schwachsinn angesiedelt. Ein Verdikt, das naturgemäß nicht allen Stimmen des Buches gerecht werden wollte und konnte - immerhin gehörte auch die Hans Magnus Enzensbergers zu ihnen -, aber doch das traf, was man als den mainstream der von Bender versammelten 80er Jahre-Lyrik bezeichnen könnte.

"Mürrisches Parlando" - so hatte ich diesen personenübergreifenden, eigentlich herzlich prosaischen Redefluß seinerzeit genannt, und wenn er sich noch während der 90er hat weiterschlängeln können, dann lediglich als Rinnsal und mit Sicherheit nicht bis in die Anthologie von Braun und Thill. Durch die zieht sich ungeachtet all der Seiten- und Nebenflüsse ein mainstream ganz anderer Tönung, beileibe kein mürrisches Parlando, sondern jenes aufgeladene, hin und wieder auch nur aufgeblasene Rauschen, dem wir jetzt mal genauer zuhören wollen.

TRIFTIGE WASSER oberflach wie ein Spaten

in denen standen die Väter bis zum Hals.

- so beginnt ein Gedicht von Hans Thill, Mitherausgeber der Sammlung und Dichter dazu. Zwei Zeilen von insgesamt sechzehn, die Sie sogleich zur Gänze hören werden, zuvor aber wollen wir uns kurz über den Anfang beugen, um uns auf den Rest einzustimmen.

TRIFTIGE WASSER oberflach wie ein Spaten

in denen standen die Väter bis zum Hals.

Zwei auf den ersten Blick dunkle Zeilen. "Triftig", so lese ich in Hermann Pauls "Deutschem Wörterbuch", kann dreierlei bedeuten "einsichtig", "überzeugend", seltener auch: "auf dem Wasser treibend". Einsichtiges, überzeugendes, auf dem Wasser treibendes Wasser - alles nicht so furchtbar triftig, belassen wir es bei der Einsicht, daß das Wort "triftig" im Zusammenhang mit Wasser hier nicht wortwörtlich, sondern eher rauschhaft zu nehmen ist, "triften" mag mitschwingen, bairisch für "flößen", "Drift" kann herausgehört werden, norddeutsch für "Strömung". Diese rauschenden Wasser nun sind "oberflach wie ein Spaten" - anfangs hielt ich dieses "ober" für eine etwas kapriziöse Steigerungsform, eine Umschreibung für "sehr flache Wasser", doch dann entschied ich mich angesichts der Tatsache, daß sehr flache Wasser auch ungewöhnlich kleine Väter bedeutet hätten - "in denen standen die Väter bis zum Hals" - für eine andere Deutung, die, daß Thill aus dem Substantiv "Oberfläche" das neologistische Adjektiv "oberflach" abgeleitet hat.

"Oberflach wie ein Spaten"- ein Vergleich, der verwundern mag, da die Wasseroberfläche immer, der Spaten jedoch nur in seiner Eigenschaft als Grabspaten flach ist, schon der Pflanzspaten ist leicht gerundet, so daß der Vergleich nach den Gesetzen der Logik hätte umgekehrt lauten müssen "Triftige Spaten oberflach wie ein Wasser"- so, wie man zwar davon reden kann, daß der Briefträger blitzschnell um die Ecke biegt, jedoch nicht davon, daß der Blitz briefträgerschnell vom Himmel zuckt, aber nochmals: In diesen oberflachen Wassern geht es nicht um oberflächliche Verständlichkeit, die läuft spätestens dann auf platten Grund, wenn wir das Gedicht vollständig zu Gehör bekommen nämlich: jetzt!

TRIFTIGE WASSER oberflach wie ein Spaten

in denen standen die Väter bis zum Hals.

Jedes Runzeln war ein kleiner Tod fehlte

es an Heizmaterial fiel die Zeugung aus. So

waren wir schon im Feuchten verschüttet

bevor es uns geben sollte. So nickten wir

ein noch bevor es uns gab.

Bei sinkendem Pegel Kopfstand der Wasser:

wir mit Bricketts Gezeugten wurden in unseren

Schlaf gepreßt. Sterben bringen Glück?

Täuschende Wasser schmeckten bitter und

weckten uns auf. One man one vote? In bib-

lischem Alter schnappte man wörtlich nach

des Großvaters hängender Frucht. Glaubwürdige

Wasser aus denen noch das exakte Plätschern

der Ahnen seufzte: sachliches Naß.

Ein sechzehnzeiliges Gedicht, die Zeilen meist fünfhebig, seltener vierhebig, einmal dreihebig. Kein hörbares Metrum, kein erkennbarer Vers, keine sichtbare Strophe strukturiert das Gebilde, das besorgen all jene Wasser, die in unterschiedlichen, stets alogischen Zusammenhängen auftauchen: "Kopfstand der Wasser", "täuschende Wasser", "glaubwürdige Wasser [...] sachliches Nass" schließlich. Doch nicht nur von "Wasser" ist häufiger die Rede, auch von "Vätern", "Zeugung" und "Schlaf" spricht da ein mit Bricketts gezeugtes lyrisches Wir. schon hat das lyriklesende Ich seinen Frieden mit den dahinplätschernden Fragwürdigkeiten gemacht, da schrecken ihn direkte Fragen auf, teils grelle Kalauer -"sterben bringen Glück?"-, teils unbeantwortete Fangfragen aus der anglo-amerikanischen Verfassungsgeschichte, "One man one vote?" - : da heißt es Fassung bewahren, will man halbwegs trockenen Fußes über "Großvaters hängende Frucht" und das "exakte Plätschern der Ahnen" zum rettenden Gedichtende gelangen, nur noch rasch das "sachliche Nass" durchquert: Geschafft!

Hans Thill ist Jahrgang 1954, und so wie er dichten viele der 50er und 60er-Jahrgänge, so wie sein Gedicht sehen viele Gedichte im "Verlorenen Alphabet" aus, so wie sein Gedicht hören sich viele Gedichte dieser Anthologie an. Zum Aussehen der Gedichte: Linksbündige, unterschiedlich lange Zeilen, wahlweise im Blocksatz, reihen sich ohne Leerzeile aneinander solange das Gedicht dauert. Durchgehende Kleinschreibung, seit den 50ern über Jahrzehnte Beleg unbedingt moderner Gesinnung, tritt nunmehr selten auf, dafür verwirrt in vielen Gedichten eine, sagen wir mal, schwankende Zeichensetzung samt zweideutiger, die grammatikalischen Bezüge verwischender Schreibweisen. Manchmal, so auch bei Thill, fehlen beispielsweise satzbeendende Punkte, was zur Folge hat, daß der neue Satz mitten in der Gedichtzeile kleingeschrieben anhebt, was für punktuelles Rätselraten sorgt.

Der Form nach ist das mainstream-Gedicht der 90er also so etwas wie eine lyrische Dauerwurst, die je nach Füllmasse mal kürzer, mal länger ausfällt. Die idealtypische Füllmasse wiederum enthält ebenfalls mainstream-Ingredienzen, man nehme: litaneihaft eingesetztes Wortmaterial, Neologismen, Wortspiele, fremdsprachliche Einschlüsse - beispielhaft verbindet drei der vier Bestandteile der Titel des Gedichtbands von Brigitte Oleschinsky "Your passport is not guilty" - und verrühre das solange, bis erkennbare Sprach- und Sinnbezüge völlig in einem meist dunklen, oft zähen, stets schwer deutbaren Zusammenhang aufgehen.

1990 hatte ich versucht, das von mir konstatierte "durchgehende mürrische Parlando" dadurch zu belegen, daß ich Sätze und Absätze aus vier Gedichten von einer Dichterin und drei Dichtern so aneinanderhängte, daß das neuentstandene Gedicht - so meine Behauptung - weder Kleb- noch gar Bruchstellen aufwies.

Noch grün, die dürftige

Heimat, Deutschland

im Herbst, säuberlich

aufgeräumt wie immer.

Jetzt werden Ping Pong Tische

ins Freie gezogen

weiße Gartenmöbel

auf den Rasen gesetzt

Ein rosiges Licht über den Banktürmen

und Spatzen schwätzen an den Pfützen

Von weitem erkennen

einander Emigranten

Unterm Efeu Modergeruch

Wie sich Gras

über die Kindergräber wellt.

Dies ist ein Gedicht aus Strophen und Zeilen von Peter Hamm, Michael Buselmeier, Ursula Krechel, wieder Hamm und abermals Buselmeier. Zehn Jahre später stellt sich die Frage erneut: Läßt sich aus den Gedichten der vorliegenden Anthologie ein ähnlich werk- und personenübergreifendes 90er-Jahre-Gedicht destillieren bzw. zusammenkneten?

Aber ja, aber gern, aber gleich - und das aus zwei Gründen. Der erste hat mit dem Konzept der 90er-Jahre-mainstream-Lyrik zu tun: Da das Rauschen sich um so höher auflädt, je mehr Sprachebenen und Sprechweisen eingespeist werden, kommt jedes Collagieren und Kombinieren dem angestrebten Zweck entgegen. Mußte Thomas Kling in seinen Gedichten der Anthologie noch selbsttätig Seekarten und Sprachkarten mischen, Privatsprache und Bibelton, Lehrbuchexzerpte und Sprachklebe, so besorgen die Mischung nun und vollautomatisch Schere und Kleber. Zweitens kommt das Konzept der Anthologie dem entgegen, der sich an einer solchen Collage versucht: Da das Buch sich darum bemüht, themenverwandte Gedichte miteinander korrespondieren zu lassen, mußte ich die Bestandteile meines Zusammenschnitts nicht lange zusammensuchen - ich fand sie auf den Seiten 147 und 148.

Rund um Hans Thills Gedicht nämlich gruppieren sich dort weitere vaterdurchsetzte Texte von Dieter M. Gräf, Jahrgang 1960, Sabine Techel, Jahrgang 1953, und Hansjörg Schertenleib, Jahrgang 1957; und einer der vielen möglichen Zusammenschnitte aus diesem Material, nämlich der aus vier aneinandergereihten Gedichtanfängen hört sich so an:

Speisen trifft der Vater, er lebt weiter:

im Messer, die sich auf weißem Tuch

ständig opfernde Mutter, sie dehnt

TRIFTIGE WASSER oberflach wie ein Spaten

in denen standen die Väter bis zum Hals.

Jedes Runzeln war ein kleiner Tod fehlte

Vater, du darfst nicht gegangen sein es

ist jetzt zuviel Frau im Haus. Überall Rohre

Von hinten her gestanzt Teil um Teil,

wird an den Müttern noch gearbeitet.

Soviel zu den avanciertesten Positionen der 90er-Jahre-Lyrik, die, das sei kurz angemerkt, denen nicht unähnlich sind, die ein Benn seit den 20ern postulierte und praktizierte - nun noch ein Wort zu Schönheit und Eigensinn.

Sie sind, das sei den Herausgebern hoch angerechnet, überall in der Anthologie zu finden, sowohl bei mainstream-Dichtern, wie auch, naturgemäß häufiger und gehäufter, bei jenen, welche die Nebenarme des 90er-Jahre-Lyrik-Deltas befahren und erkunden. Eigensinnig beharren Enzensberger, Jandl und Rühmkorf darauf, daß in Sachen Spruchdichtung, Lehrgedicht und Lied das letzte Wort noch nicht gesprochen worden ist. Schön eigensinnig stapft Thomas Rosenlöcher in festem Jambenschritt durch frischgefallenen Schnee. Eigensinnig und ganz schön unverblümt reden Volker Braun, Kerstin Hensel, und Karl Mickel von sich und dem, was ihnen vor und nach dem Zusammenbruch der DDR widerfahren ist. Eigensinn und Handwerkskunst beweisen Franz Josef Czernin und Heiner Müller, die die ehrwürdige Sonettform sowohl erfüllen, wie auch ihre Inhalte erweitern. Eigensinnig meldet sich sogar hier und da im meist sehr getragenen Chor der Dichtervogelschar jener verwegene Sänger zu Wort, den die Ornithologen "Spötter" nennen: Karl Krolow, Steffen Jacobs und Oskar Pastior singen in Benn-Daktylen, Durs Grünbein stimmt einen "Biologischen Walzer" an und Adolf Endler erhebt eine schön witzige Klage, die so anfängt:

Resumé

Bis heute kein einziger Seepapagei in meinen vielen Gedichten

(stattdessen schon wieder ´n Dutzend grüne Fadennudeln im Bart):

auch dem Sabberlatz nicht das ärmste Denkmal gesetzt in Vers oder Prosa,

so wenig wie der Elbe-Schiffahrt oder der Karpfenernte bei Peitz.

Wie sie weitergeht? Das bitte ich im "Verlorenen Alphabet" nachzulesen, da hier und jetzt das allerletzte Wort jemand haben soll, der seit Jahren schön entspannt und eigensinnig rauschfrei von dem redet, was er am besten kennt, von sich selber. So auch in dieser Antholgie der 90er-Jahre-Lyrik, so auch zum hochaufgeladenen Thema

Stiefelklang

Stiefel höre ich wie Schuhe als etwas Selbstverständliches.

Arme Leute gibt es immer weniger,

die sie hören auf Treppen

und hören donnernde Geschosse mit

oder des Feldwebels Stimme:

Vorwärts!

Angst

hab ich nur,

daß mir aus Versehen einer

auf den weichen Lederschuh tritt,

weil ich als Sonnengucker

mit Brille immer leicht geblendet bin.

Ich habe in guten Zeiten gelebt

und war nie im Krieg,

ich hör keine Schüsse beim Stiefelklang.

Titelbild

Hans Bender (Hg.): Was sind das für Zeiten. Deutschsprachige Gedichte der achtziger Jahre.
Carl Hanser Verlag, München/Wien 1988.
282 Seiten,
ISBN-10: 3446152970

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Michael Braun / Hans Thill: Das verlorene Alphabet.
Verlag Das Wunderhorn, Frankfurt 1998.
256 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3884231391

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