Charmanter Lebenskünstler - oder?

Anne Tyler schickt ihren Anti-Helden auf die Suche nach seinem Engel

Von Ulla BiernatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulla Biernat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich erzählt der Roman "Engel gesucht" nicht davon, wie der 30jährige Barnaby Gaitlin seinen Engel sucht, sondern wie er ihn in der älteren Bankangestellten Sophia findet - und schließlich feststellt, daß Sophia sein Engel nicht ist, ja daß er vielleicht keinen Engel braucht. 'Eigentlich', 'schließlich', 'vielleicht' - es ist schwierig, den Roman der amerikanischen Schriftstellerin Anne Tyler (*1941) inhaltlich und thematisch auf den Punkt zu bringen. Denn genau dagegen schreibt die Autorin an: das Leben ist für sie dynamisch angelegt; jeder Mensch, jeder Sachverhalt läßt sich immer aus mehreren Perspektiven betrachten, Dinge, Räume, Konstellationen verändern sich, und so bieten sich immer neue Möglichkeiten, auf sie zu reagieren.

Dafür ist die Hauptfigur des Romans ein Beispiel: Barnaby, geschieden, ohne Schulabschluß, mit krimineller Vergangenheit und immer knapp bei Kasse, arbeitet für die Bizeps-Vermietung, eine Firma, die älteren Menschen alle körperlich schweren (und weniger schweren) Arbeiten abnimmt. Doch Barnaby ist kein Idealist; eher ein charmanter Lebenskünstler, der endlich ein bürgerlich-solides Leben antreten will - aber wie? Dann, auf halber Strecke zu einem planvollen Leben: "Vielleicht war das das Geheimnis, dachte ich. Laß die Dinge auf dich zukommen, wenn und wann sie selber wollen." Also "vielleicht" eher kein Lebensplan?

Die Geschichte ist denkbar realistisch angelegt, wäre da nicht der Engel der Gaitlin-Familie: eine Person (oder unspezifisch: ein Wesen?), das im Leben jedes Gaitlins früher oder später auftaucht, dessen Leben auf wundersame (oder eingebildete?) Weise eine bestimmte Richtung, einen Sinn gibt und dann wieder verschwindet. Manchmal erscheint der Engel als eine ernstzunehmende Tatsache, dann als oft-bemühte Familien-Anekdote, dann als phantasievoller Fingerzeig auf eine magischen Realität.

Auch die Atmosphäre des Romans oszilliert zwischen solchen Polen: elegische Passagen über die Vereinsamung und den Tod von Barnabys liebenswert-exzentrischen Kunden wechseln ab mit humorvollen Charakterzeichnungen der alten Leutchen; denn die gehen mit ihren umständlich erzählten Geschichten und eingebildeten Alltagsproblemen den jungen Leuten von der Bizeps-Vermietung auf die Nerven - und stehlen ihnen die Zeit.

Anne Tyler, die 1988 für den Roman "Atemübungen" den Pulitzer-Preis erhielt, beschreibt auch in "Engel gesucht" die kleinen ironischen Wechselfälle des Lebens mit unaufdringlicher Präzision. Den schnoddrigen Ton des jungen Barnaby trifft sie ebenso wie das umständliche oder zögerliche Reden seiner "Nachrichtenkorrespondenten aus dem Land des Alters". Manchmal erscheint die Erzählweise fast zu zurückhaltend, zu still. Doch - vielleicht - macht gerade das den Reiz des Buches aus.

Titelbild

Anne Tyler: Engel gesucht.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
320 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3100800206

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