Erinnerungsarbeit nach der Wiedervereinigung

Jürgen Beckers Roman "Aus der Geschichte der Trennungen”

Von Waldemar FrommRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Fromm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem ersten Roman "Aus der Geschichte der Trennungen" greift der vor allem als Lyriker bekannt gewordene Jürgen Becker auf den Protagonisten seiner 1997 erschienenen Erzählung "Der fehlende Rest" zurück. Die Kritik hat bereits damals darauf hingewiesen, dass hinter Jörn Winter ein Alter Ego des Autors zu vermuten sei. Dies legen nicht nur die Parallelen zwischen Jörns und Beckers Leben nahe - 1939 übersiedeln beide siebenjährig mit der Familie aus dem Rheinland nach Erfurt, 1947 ziehen sie nach Köln -, sondern auch ein kleines Prosastück, das Becker 1995 in "Sinn und Form" veröffentlicht hat. Dort heißt es: "den Jungen, der ich damals war, nennen wir jetzt Jörn".

Als Alter Ego muss man auch den Erzähler verstehen, der anonym bleibt und dem Leser die Gedanken, Erinnerungen und Wahrnehmungen Jörns indirekt mitteilt. Die Notwendigkeit seines Erscheinens hat offenbar damit zu tun, dass eine Distanz zum Mitgeteilten aufgebaut werden soll. Man kann das angesichts des Erzählten psychologisch verstehen: Der Abstand wird notwendig, um die persönlichen und politischen Trennungen vorsichtig in den Blick zu nehmen, denn die Einschnitte, von denen der Roman erzählt, sind gewaltig gewesen: das wiederholte Verlassen einer vertraut gewordenen Umgebung, die Trennung der Eltern, der vermutliche Selbstmord der Mutter, der Raubmord an der Stiefmutter, die Teilung Deutschlands nach 1945. In kurzer Zeit zerfällt das meiste von dem, was einem Kind das Gefühl der Vertrautheit mit der Welt hätte geben können.

Der Roman ist der Bericht einer einwöchigen Reise in die neuen Bundesländer an die Erinnerungsorte und Kindheitsstätten des Erzählers, die ihn nach Erfurt führt, an den Schwieloch-See bei Cottbus, in das Seebad Prora auf Rügen, an den Niederen Fläming, nach Jüterborg sowie in das (Künstler-)Dorf Wiepersdorf. Die Reise wird in Form eines Gespräches wiedergegeben, sie ist wie eine talking cure arrangiert: assoziativ und mit Überlagerungen von Gegenwärtigem und Vergangenem. In gewisser Weise fängt der Roman ein zugrunde liegendes Trauma in der psychoanalytischen Form seiner Bewältigung auf.

Der Roman teilt den Aufenthalt 1990 und, durch Rückerinnerungen, die Zeit des Umzugs nach Erfurt 1939 bis zur Rückkehr ins Rheinland 1947 mit. Auf der Ebene von Erzählzeit und erzählter Zeit beginnen beide Handlungsstränge mit Reisen, wobei der Autor die Reise in die Gegenwart der ostdeutschen Länder als Reise in die eigene Geschichte imaginiert. Man kann zwar kritisieren, dass er von der ehemaligen DDR äußerst sparsam und von sich durchaus üppig erzählt, würde dann aber die individuellen Voraussetzungen der Auswirkungen der Wiedervereinigung nicht entschieden ernst nehmen. Der Autor schildert seine Gegenwart in ihrer Durchlässigkeit für das Vergangene, wobei die Erinnerungen an die Orte der Kindheit den überwiegenden Teil des Romans ausmachen. Diese dem Roman zugrunde liegende Erinnerungspoetik inszeniert die Annäherung von West und Ost als Erinnerungsarbeit an einer gemeinsamen Vorvergangenheit, wobei sich der Autor des Problems einer authentischen Darstellung bewusst bleibt: Erinnerungen, die sich einer späteren, der erinnerten Zeit erst folgenden Beurteilung entziehen, sind nur schwer zu haben, erst recht, wenn sie die Erinnerungen eines Kindes sind. Dennoch wird die kollektive Geschichte unter den Voraussetzungen der individuellen Geschichte lesbar: "Ich spürte, dass hier etwas in mir aufbrach, in meiner ganz eigenen Geschichte, die mir wie durchgerissen und gespalten und irgendwann versiegelt und verblockt vorkam".

Die Wende 1989 ermöglicht durch den konkreten Bezug zu den Kindheitsstätten Anschlussmöglichkeiten für das erinnernde Bewusstsein. Dieses Angewiesensein auf den direkten Kontakt ist ebenso psychologisch wie geschichtlich aufschlussreich, sofern die aufgesuchten Orte erst nach der Wende Erinnerungsenergie freisetzen können. Warum, so ließe sich fragen, war ein solches Erinnerungsbuch vor der Wende nicht möglich? Die Orte, Häuser oder Landschaften blieben doch dieselben. Der Roman erörtert diese Frage nicht ausdrücklich. Dennoch lässt sich anhand der individuellen Geschichte der größere Rahmen der Zeitgeschichte erkennen. Die Gegenwart wird erst durch bestimmte 'Bewusstseinsfilter' durchlässig für das Vergangene. Einen Filter bildet das Verschwinden der sozialistischen Patina auf den Dingen und Landschaften. Man könnte auch sagen: Dem Erzähler ist nach dem Weggang aus Erfurt 1947 ins Rheinland von der Zeitgeschichte die Unmittelbarkeit und Kontinuität der Lebensgeschichte entwendet worden. Die Freigabe der Orte, Landschaften und Dinge für die Erinnerung durch die Wende ermöglicht im Augenblick des Übergangs den Anschluss an die verloren geglaubte Erinnerungslandschaft.

Der Erzähler sucht mit Jörn nach den unbewerteten Erinnerungsbildern, die sich der späteren, der erinnerten Zeit folgenden Beurteilung entziehen. In kreisenden Erinnerungsbewegungen wird nach dem Ausgangspunkt einer Verletzung gefahndet, um von dort aus die Lebens- und Zeitgeschichte neu zu erzählen. Dieses Vorgehen gleicht der psychoanalytischen Therapiepraxis, sofern ihr daran gelegen ist, Tabus im Augenblick ihrer Entstehung in den Blick zu nehmen, um die Tabuisierung zu überwinden. So gelesen, beginnt der Roman eine Antwort auf die Frage zu formulieren, warum Jörn nach 1947 "das Land jenseits der Grenze nicht mehr betreten" wollte. Es ist der Beginn einer Suche nach dem roten Faden in der Geschichte der Trennungen.

Ein kleines Streiflicht über den Himmel als Projektions- und Imaginationsfläche führt diese Grundstruktur vor: "Jörn ließ das Geschehen auf dem Flugplatz und in der Luft nicht aus den Augen, zugleich erzählte er immer weiter, und dabei schien es, als ginge in seinem Kopf die Gegenwart, wie er sie augenblicklich wahrnahm, neben den vergangenen Zeiten einher, von denen er erzählte. Mitunter war es so, als bringe ihn eine Wahrnehmung auf die Spur zu einer Erinnerung hin, und dann konnte es sein, dass sich zwischen der Erinnerung und dem gegenwärtigen Augenblick eine Beziehung zu erkennen gab. Aber nicht immer waren solche Korrespondenzen offenkundig, meistens entstanden sie auf vage, unbestimmte Weise, ohne dass ein unmittelbarer Zusammenhang sie erklärte. Was denkst du jetzt? Was soll ich schon denken, sagte Jörn, ich versuche so etwas wie ein Netz zu knüpfen, aber immer hängen ein paar Enden ins Leere hinein."

Die Scheu der Hauptfigur im Kontakt mit den Menschen Ostdeutschlands kündet grundsätzlich von Unbewältigtem. In einer Einstellung, die viel besser als jede Zusammenfassung anzeigen kann, wo die Probleme der Annäherung von Ost- und Westdeutschen für den Erzähler liegen, heißt es: "Ich sehe den Leuten zu, ich versuche, ihnen ins Gesicht zu schauen, aber dann weiß ich eben nicht, ob ich überhaupt so etwas wie ein Recht habe, die Leute nach ihrem Leben, ihren Verhältnissen, ihren Vergangenheiten zu befragen. [...] Wie leicht könnte sich ein Zwischenton mit einmischen, der nach Mitleid, Vorhaltungen, besserem Wissen klingt. Zwischen uns liegt etwas wie ein Nebel, der alles unscharf macht, eine Zone der Fremdheit, die von der Geschichte zurückgelassen worden ist, und das Trennende dabei sind eben die unterschiedlichen Erfahrungen. Mitunter denke ich, diese Zone ist gar nicht da, ich rede sie mir bloß ein. Aber ich weiß, ich komme aus anderen Jahrzehnten als die Leute hier... nur wenn Demuth und ich zusammensitzen und feststellen, dass wir vom gleichen Jahrgang sind, wenn er anfängt von der Kindheit zu erzählen [...] dann bewegen sich zwei Leben wieder aufeinander zu, dann berühren sich Gemeinsamkeiten, die dann ein Schnitt trennte, eine Grenze, jahrzehntelang." Das Kommunikationsproblem basiert mit anderen Worten darauf, dass die Geschichte auf allen Seiten Verletzungen zurückgelassen hat, die einen vertrauteren Ton zur gemeinsamen Verarbeitung notwendig machten, als er nach vierzig Jahren getrennter Entwicklung möglich ist. In einer Landschaft zwischen Trauma und Tabu suchen die Gesprächsteilnehmer vorsichtig nach einem gangbaren Weg aus der fremden Vertrautheit miteinander.

Jürgen Beckers "Geschichte der Trennungen" bezieht ihre Überzeugungskraft nicht nur aus den mitgeteilten Erlebnissen. Das erzählte 'Schicksal' dürfte der Erzähler mit vielen Menschen seiner Generation teilen, man kennt es auch von vielen, eher traurig verlaufenden Abendgesellschaften, an denen über die Auswanderung von Deutschland nach Deutschland nach dem Krieg gesprochen worden ist. Überzeugend sind die Beschreibungen der Folgen einer solchen 'Auswanderung' ins eigene Land und das raffinierte Textgewebe, mit dem diese Folgen - übrigens fast nie psychologisch gedeutet - mitgeteilt werden. Der Roman zeigt die Wende als Beginn einer Erinnerungsbewegung, nicht als das Ende des DDR-Systems. Er teilt den Anfang einer gemeinsamen Verarbeitung der deutschen Vergangenheit mit. Er beginnt konsequent mit den Anlässen der Teilung. Sein vielleicht wichtigster Satz lautet: "Jetzt ist der Krieg vorbei".

Titelbild

Jürgen Becker: Aus der Geschichte der Trennungen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
336 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3518410601

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