Warum Mozart nicht in China war

"Schattenboxen" von Jörn Thiel ist wie ein Drache, der nicht steigen will

Von Benjamin SpechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benjamin Specht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Buch zum Film - fast jeder kennt es als schlechten, leicht bekömmlichen Abklatsch. Nach der Lektüre ist die Erwartung an das Buch, das Lebendige des Films einzufangen, meistens nicht erfüllt. Der Film wäre besser ohne Buch geblieben. Jörn Thiel versucht in seinem neuen Roman "Schattenboxen - Eine Chinareise per musica" einmal einen anderen Weg zu gehen. Er schreibt ein Buch zum Film, ohne dass es einen Film zum Vergleich gäbe.

Der Ich-Erzähler, Dokumentarfilmer wie der Autor selbst, bekommt den Auftrag, den alternden Geigenvirtuosen Hellicht Grün auf einer Konzertreise durch das China am Beginn der 80er Jahre zu begleiten. Er soll eine Dokumentation mit dem Titel 'Mozart in China' drehen. Für den Juden Grün, der im Kindesalter aus Deutschland nach China floh und dort sein Talent perfektionierte, wird die Reise eine Begegnung mit den Stätten seiner Vergangenheit. Die chinesische Dolmetscherin Li ist die große Liebe seines Lebens. Vor Jahrzehnten musste er sie in Rotchina zurücklassen. Das Wiedersehen verläuft natürlich nicht ohne Komplikationen. Das Filmteam lernt auf der Reise durch die wichtigsten chinesischen Städte wie Peking, Shanghai, Kanton, Hongkong und Harbin einen angespannten Künstler kennen, der vor seinem persönlichen und - seit einem Hörsturz - auch musikalischen Ende steht. Die Ängste seiner Flucht, die Grün noch immer quälen, sieht er personifiziert in dem Nazi-Musikkritiker Merk. Dieser ist Schuld am Tod von Grüns Vater und musste wegen der Entnazifizierung untertauchen.

Thiel variiert mit "Schattenboxen" das Thema aller Künstlerromane - der Künstler und das Leben. Doch ist es nicht die absolute Kunst, die den Künstler Grün im Leben scheitern lässt, sondern die Kunst will nicht mehr gelingen, weil das Leben sein Recht fordert. Der Roman läuft auf sein dramatisches Finale zu. Das alles ist eingebettet in eine exotische Kulisse, die mit der europäischen Musik zunächst kontrastieren, aber schließlich harmonieren soll: eben Mozart in China.

Aber genauso wenig, wie Mozart in China war, wird das hochgesteckte Ziel des Buches erreicht. Nachdem die Handlungslinien bestimmt sind, wird der Roman immer wirrer und unwahrscheinlicher, was sich schlecht verträgt mit seinem dokumentarischen Anliegen. Trauriger Höhepunkt in dieser Hinsicht sind die Enttarnungen des Shanghaier Musikkritikers Krem als Merk und einer begabten Viola-Studentin als Grüns Tochter, von der er nichts wusste. Hier driftet die Handlung ins Plakative ab. Dazu kommt, dass dem Autor mehrere logische Fehler unterlaufen: Warum sucht Merk die persönliche Begegnung mit Grün, wo er doch nichts mehr fürchtet als seine Enttarnung? Warum wird er erst bei dem Versuch, die millionenschwere Amati Grüns zu stehlen, gefasst, kann im nächsten Kapitel aber wieder als freier Mann intrigieren? Warum glaubt er durch den Diebstahl der Geige seiner Enttarnung entgehen zu können? Warum wundert sich Lis Arbeitskollege Tsiang nicht darüber, dass diese ihr Zimmer nach chinesischer Sitte für Grün hochzeitlich geschmückt hat? Und schließlich: Warum mussten die guten Ansätze des Romans durch solche Brüche und inhaltliche Plattitüden in den Hintergrund gerückt werden? Warum hat der Autor nicht auf sie verzichtet und eine weniger aktionsreiche, aber dafür dem Thema angemessenere Handlung entworfen?

Jörn Thiels Sachkenntnis in den Bereichen der klassischen Musik und des Dokumentarfilmens ist unbestritten; seine Kenntnis von China nicht. Es gerät einiges durcheinander: Die chinesischen Figuren des Buches verhalten sich wie Europäer, der ehemalige Außenhandelsstützpunkt Kanton, geprägt von westlicher Architektur und Kultur, ist sicherlich nicht die "chinesischste Stadt Chinas" und Mao Zedongs Witwe hieß nicht Frau Mao, sondern Frau Jiang. China bleibt Kulisse, in die der Ich-Erzähler nicht tiefer eindringt, auch wenn er dies vermitteln möchte.

Stilistisch verfällt der Autor oft der literarischen Unsitte, dem Leser seine Motivik zu erklären. So wird zum Beispiel ein Rennhund in Hongkong zu Tode gehetzt. Anstatt jedoch dieses Motiv wirken zu lassen, kommentiert der Ich-Erzähler: "War das Verenden [...] für den Musiker ein Menetekel?" Solche Gedankenverknüpfungen sollten besser dem aufmerksamen Leser überlassen bleiben. Als das Filmteam den Schatten eines Heißluftballons beobachtet, fragt der Erzähler: "Wie hätte wohl Chamisso, der Vater des schattenlosen Schlehmil, dieses Motiv bearbeitet?" Beide Informationen - zum einen, dass es sich bei dem Schatten um ein Motiv handelt und zum anderen, dass Chamisso der Schöpfer Schlehmils ist - könnten entfallen.

Wiederholt berichtet der Ich-Erzähler von Vorkommnissen, von denen er gar nichts wissen kann, weil er nicht dabei war. So kommt es, dass der Standort des Erzählers ständig wechselt: einmal streng außenperspektivisch als erinnertes Ich und ein anderes Mal (ohne erzähltechnische Notwendigkeit) auktorial alle Handlungen und Gefühle der Figuren überschauend. Der Ich-Erzähler spricht manchmal umgangssprachlich als eine der beteiligten Figuren, manchmal aber auch geformt, stellenweise überfrachtet, wie es einem kommentierenden erinnernden Ich entsprechen würde. Der häufige stilistische Wechsel zwischen diesen beiden Erzählweisen folgt keinem ersichtlichen Schema und scheint beliebig.

Das alles lässt die starke Seite des Romans leider nur zu oft in den Hintergrund treten. Die Beschreibungen der Musik und die Gedanken zu Komponisten wie Mozart und Schumann sind meist hochinteressant und originell. Das Hauptmotiv des Buches, das Schattenboxen, erklärt der Ich-Erzähler nicht bis zum bitteren Ende, so dass es seine Schönheit und Vieldeutigkeit bewahren kann. Das Schattenboxen steht nicht nur für Grüns Kampf mit den Schatten der Vergangenheit, sondern wird wie das Drachen steigen lassen zur Chiffre für die richtige Balance von Leben und Kunst. Der Drache (die Kunst, das andere Ich) darf sich frei entfalten, das Leben oder der Mensch am unteren Ende der Drachenschnur verliert aber nicht die Kontrolle und gibt einen festen Rahmen vor, damit der Drache nicht fällt. Insofern ist auch die Hauptfigur Hellicht Grün gelungen, denn er wird zum Abbild eines Menschen, der aus dieser Balance geraten ist. Außerdem ist das Buch - besonders im letzten Teil - reich an Reflexionen über die Abbildung von Realität im Film, über das Zusammenspiel von Bild und Ton, das im besten Fall einer Art Hochzeit gleicht. Hier wird deutlich, dass man es mit einem intelligenten Autoren zu tun hat, der nur eben ein besserer Dokumentarfilmer als Schriftsteller ist. Vielleicht hätte es besser zu Jörn Thiel gepasst, anstatt ein "Buch zum Film" zu schreiben, den Dokumentarfilm über das Schattenboxen wirklich zu drehen. Der Film wäre sicherlich gelungen.


Titelbild

Jörn Thiel: Schattenboxen. Eine Chinareise per musica. Roman.
Schardt Verlag, Oldenburg 2000.
330 Seiten, 16,40 EUR.
ISBN-10: 3933584760

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