Wechselspiel zweier Spannungspole

Steven Pinker über die wunderbare Welt der unregelmäßigen Verben

Von Jan WesterhoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Westerhoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verschaffte man sich vor Jahren nur einen flüchtigen Überblick über die linguistische Fachliteratur, so hätte man angenommen, dass die Linguistik eine Disziplin sei, in der es unmöglich ist, Bücher zu schreiben, die neue Forschungsergebnisse präsentieren, sich flüssig lesen lassen, auch noch an ein Massenpublikum gewendet sind und zu regelrechten Bestsellern werden. Dies galt bis zum Auftreten des Phänomens Steven Pinker. Dem Professor für Psychologie am Massachusetts Institute of Technology, dessen Forschungsschwerpunkt auf dem Schnittfeld von Linguistik, Kognitionspsychologie und Evolutionsbiologie liegt, gelang hierzulande mit seinem Buch "Der Sprachinstinkt" der Sprung in die Hände und Bücherregale auch derjenigen, die sich sonst wohl weniger für Sprachforschung begeistern konnten. Nach seinem zweiten, mehr kognitionspsychologisch ausgerichteten Buch "Wie das Denken im Kopf entsteht" wendet sich Pinker nun in seinem soeben auf Deutsch erschienenen Werk "Wörter und Regeln. Die Natur der Sprache" wieder der Linguistik zu.

Im Gegensatz zu den vorhergehenden Titeln beschränkt sich dieser auf ein sprachliches Phänomen, das aus einer Vielzahl von Blickwinkeln untersucht wird. Hierbei handelt es sich um das sonst recht trocken erscheinende Problem unregelmäßiger Verben. Dies bildet die Grundlage für die jeden Sprachschüler zur Verzweiflung treibende Frage, nämlich: "Wie kommt es, dass ein großer Teil der Verben der meisten Sprachen durch ein paar leicht zu erlernende Regeln gebildet werden kann (wie z. B. eilen - eilte - geeilt, lieben - liebte - geliebt, weben - webte - gewebt) während einige andere, zu allem Unglück meist auch noch besonders häufige Verben solchen Regeln Hohn sprechen?" Wir sagen: sprechen - sprach - gesprochen, aber nicht sprechen - sprechte - gesprecht, sehen - sah - gesehen, aber nicht sehen - sehte - geseht, blasen - blies - geblasen, aber nicht blasen - blaste - geblast. Wäre es nicht viel einfacher, wenn eine Regel gleich für alle Verben gelten würde? Was ist der Grund für diese scheinbar unnütze Komplexität?

Pinker geht davon aus, dass unsere Sprachfähigkeit sich im Wechselspiel zweier Spannungspole entwickelt. Einen bilden die Wörter, die in unserem Gedächtnis gespeicherte Information über Form und Bedeutung von Ausdrücken. Den anderen Teil bilden die Regeln, also die Fähigkeit, Wörter zu modifizieren und zu grammatischen Komplexen zusammen zu fügen. Während regelmäßige Verben zwar den Wörter-Teil des Gehirns weniger belasten (weil eben nicht jede Form einzeln gelernt werden muß), zahlt der Sprecher einen Preis in Form verringerter Verarbeitungsgeschwindigkeit - jede Anwendung einer Regel verlangt nämlich neuronal Rechenkapazität und kostet damit Zeit; etwas, was sich gerade bei häufigen, oft eingesetzten Wörtern als Nachteil erweisen würde.

Die Fülle der sprachlichen Phänomene, auf die diese Unterscheidung ein Licht wirft, ist enorm: von der Entwicklung der kindlichen Grammatik über die Frage, warum Neologismen normalerweise regelmäßig gebildet werden (faxen - faxte - gefaxt, mailen - mailte - gemailt) bis zu so wichtigen Problemen, ob der korrekte Plural von computer mouse nun mice oder mouses ist, warum man "Opel Kadetts", aber nicht "Opel Kadetten" sagt, oder warum der Plural von Scheck Schecks, der von Fleck aber nicht Flecks ist - alle diese Fragen diskutiert Pinker und zeigt ihre neurolinguistische Verbindung mit der Existenz unregelmäßiger Verben auf.

Der Hauptschwerpunkt des Buches liegt (auch in seiner deutschen Übersetzung) auf der Diskussion des Englischen (mit der Ausnahme der Kapitel 7 und 8, die sich ausführlich den "Schrecken der deutschen Sprache" und ihrem Übermaß an Unregelmäßigkeiten widmen). Die meisten englischen Beispielwörter und -sätze werden nicht übersetzt oder durch deutsche Äquivalente substituiert - dies hätte wohl auch entweder in einer völlig unlesbaren Fassung oder einer durchgehenden Neukonzeption des Buches geendet. Die Übersetzerin fügt allerdings einen Appendix mit den häufigsten englischen Beispielwörtern bei, so dass auch des Englischen Unkundige den größtmöglichen Nutzen aus Pinkers Buch ziehen können.

Titelbild

Steven Pinker: Wörter und Regeln. Die Natur der Sprache.
Übersetzt aus dem Englischen von Martina von Wiese.
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg/ Berlin 2000.
478 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3827402972

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