Die Ingredienzien der Sprache

Steven Pinker untersucht Wörter und Regeln

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unregelmäßige Verben, jeder weiß es, bedeuten eine große Fehlerquelle in Spracherwerb und Sprachpraxis. Diese Wörter machen zwar nur einen sehr geringen Anteil des mentalen Lexikons aus, doch prägen sie sich nur sehr schwer ein. Sie stehen unter dem Verdacht, unökonomisch zu sein, weil sie sich dem einfachen Regel-Mechanismus, mit dem gewöhnlich Verben konjugiert werden, nicht fügen und jeden Benutzer zwingen, sie gezielt zu lernen: springen, sprang, gesprungen. Im Englischen existieren etwa 180 Einträge mit unregelmäßigen Verben, denen Tausende regulärer Verbformen gegenüberstehen; im Deutschen ist es nicht viel anders. Die regelmäßigen Verben hingegen machen es dem Sprecher einfach: sie können, selbst wenn sie ihm noch nicht geläufig sind, aus der Regel abgeleitet werden. Sie erfordern nur einen Bruchteil der kognitiven Kapazität, die man für die Speicherung und Aktivierung der unregelmäßigen Verbformen aufwenden muss. Alle Neuschöpfungen, darunter die onomatopoetischen Lehnwörter, können ad hoc richtig flektiert werden, weil sie immer regelmäßig und niemals unregelmäßig sind.

Es gibt auch andere Formen und Wörter, die irregulär sind und die uns das Leben schwer machen. Die Frage ist, ob das irgendetwas "bedeuten" muss, ob es irgendeine Bewandtnis mit ihnen hat, oder ob sie bloß sprachgeschichtliche Gründe haben und sich als Relikte überwundener Konventionen, als Ableitungen von Eigennamen, als Übertragungsfehler gar erklären lassen. Denn wenn sie nichts bedeuteten, wenn sie funktionslos wären, dann könnte man sie behutsam durch regelmäßige Formen ersetzen. Vielleicht ist dies nur deshalb noch nicht geschehen, weil die irregulären Verben (im Englischen to be, have, do, say, make, go, take, come, see und get) die häufigste Frequenz haben. In siebzig Prozent aller Fälle, in denen ein Verb benutzt wird, ist es ein unregelmäßiges.

Wenn es vielleicht auch kein Verlust wäre, die irregulären Verbformen zu beseitigen, so wäre es aufgrund ihrer Frequenz doch ein schwieriges Unterfangen. Anlass also genug, um nach ihrer Bedeutung, ihrem Sinn zu fragen, nach der Funktion, die uns womöglich erkennen lässt, wie Sprache im Kopf entsteht, wie Sprache entstanden ist und wie Denken und Sprache sich wechselseitig bedingen.

Steven Pinker steht mit seinen Büchern in einer Forschungstradition. Zu den einflussreichsten Namen ihrer jüngeren Geschichte gehören Burrhus Frederic Skinner, Noam Chomsky und Stephen Jay Gould. Sie beschäftigten sich mit Fragen, denen schon in Platons "Kratylos" nachgegangen wurde: erfährt "jedes Ding die seiner Natur zukommende richtige Benennung" oder entspringen Namen einer Konvention? Diese Alternative zeitigte denkgeschichtlich Folgen, wie man weiß, denn seither streiten zwei Schulen, der Rationalismus und der Empirismus darüber, wie der menschliche Geist beschaffen sei. Der Rationalismus behauptet, kurz gesagt, dass der menschliche Geist von Geburt an im wesentlichen strukturiert und ausgebildet sei. Der Empirismus und seine radikale Variante, der Behaviorismus, vertreten hingegen die Auffassung, dass der menschliche Geist unstrukturiert und leer sei. Als Doyen des Behaviorismus gilt der amerikanische Verhaltensforscher B. F. Skinner, als sein Gegner der Linguist Noam Chomsky. Chomsky vertritt die Auffassung, dass der Behaviorismus weder die Präzision noch die Rasanz erklären könne, mit der Kinder zum Spracherwerb befähigt sind.

Noam Chomsky, der Schöpfer der generativen Transformationsgrammatik, wurde zum Hauptvertreter des Rationalismus. Pinker ist zwar Chomsky-Schüler, doch ist die Renaissance des Behaviorismus seit den achtziger Jahren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Der bis dato weltanschaulich weit abgeschlagene Behaviorismus konnte Mitte der achtziger Jahre wieder an Boden gewinnen, weil die unerhörten Rechenleistungen neuer Computergenerationen seine Thesen zu stützen schienen. Seither wird der Streit von Rationalismus und Behaviorismus auf dem Felde der irregulären Verbformen ausgetragen. Steven Pinker bewegt sich kompetent auf den Feldern der Computer-Linguistik, der künstlichen Intelligenz, der Experimentalpsychologie und des Spracherwerbs bei Kindern. Es scheint sein Ehrgeiz zu sein, die wesentlichen Grundideen von Behaviorismus und Rationalismus miteinander auszusöhnen und einen Jahrhunderte langen Streit zu beenden.

Im Zentrum dieses Vorhabens steht seine Wörter- und Regeln-Theorie, die Aspekte beider Schulen in sich vereinigt. Pinker beschreibt Wörter und Regeln als zwei mentale Teilsysteme, die jeweils das Ihre zum richtigen Sprachgebrauch beitragen: die Past-tense-Formen werden bei der regelmäßigen Konjugation durch die Regel bestimmt, während die Past-tense-Formen der unregelmäßigen Verben durch das Lexikon bestimmt werden, also memoriert werden müssen. Pinker vertritt darüber hinaus die Ansicht, dass beide Gruppen, die kleinere der unregelmäßigen Verben und die größere der regelmäßigen, in unterschiedlichen Teilen des Gehirns gespeichert bzw. gebildet werden. Dies erlaubt ihm wiederum die Folgerung, dass der menschliche Geist beides sei: strukturiert, insofern er bestimmte Bereiche des Gehirns für bestimmte Operationen reserviere, und leer, insofern er jedem (kindlichen) Lerner gestatte, sich eine beliebige Sprache mit ihren Wörtern und Regeln einzuprägen. Dem Behaviorismus wird dadurch Genüge getan, dass allen regelmäßigen Verbformen eine zugrunde liegende logische Struktur zugebilligt wird und sie quasi unbewusst und automatisch "errechnet" werden können, dem Rationalismus dadurch, dass die unregelmäßigen Verben das Merkmal der Erlernbarkeit bekommen und Aspekte des selbstbewussten, kreativen menschlichen Geistes sichtbar machen, die ihn vom bloßen Algorhythmus anderer Lebensformen unterscheiden. Die unregelmäßigen Verben sind genauso wie die regelmäßigen Grundelemente der Sprache, welche die Effektivität der Regeln mit der Variabilität der Wörter (und vice versa) auf einzigartige Weise kombiniert.

Steven Pinker ist der zur Zeit populärste Psycholinguist, seine Bücher ("Der Sprachinstinkt", 1996; "Wie das Denken im Kopf entsteht", 1998) liegen in allen Weltsprachen vor, sind vergleichsweise anschaulich und populär geschrieben und lösen in der akademischen Welt heftige Debatten aus, zielen jedoch auf ein breiteres Publikum und vermitteln auch dem Laien Basiswissen über die Bedingungen seiner Sprachkompetenz. In seinem jüngsten Buch wirbt Pinker für die Idee, dass unsere Sprache auf eine biologische Prädisposition zählen kann und dass das menschliche Gehirn für Sprache optimiert ist.

Titelbild

Steven Pinker: Wörter und Regeln. Die Natur der Sprache.
Übersetzt aus dem Englischen von Martina von Wiese.
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg/ Berlin 2000.
478 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3827402972

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