Die Leichtfertigkeit des 'guten Lebens'

Bettina Dessaus und Bernulf Kanitscheiders allzu praktischer Entwurf einer hedonistischen Lebensgestaltung

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zugegeben, wir haben so unsere Schwierigkeiten, wenn man uns so erhabene Gefühle wie Liebe und Zuneigung aus der Wirkungsweise der Pheromone erklärt oder sie auf Hormonaktivitäten zurückführt. Empfindliche Gemüter mag die Sorge um philosophische Probleme wie das der Verantwortlichkeit oder das der Selbstbestimmung bewegen. Und doch ist hier Vorsicht geboten. Dass wir eine Dekodierung der evolutionären und biologischen Determinanten des Luststrebens als eine Einschränkung unserer Autonomie empfinden, mag möglicherweise unser Selbstbild als eines freien Vernunftwesens erschüttern, ändert aber nicht das geringste an der Tatsache, dass Empfindungen wie Lust und Glück, Schmerz und Angst auf physiologischen Zuständen unseres Gehirns beruhen und von ihrem stofflichen Träger unablösbar sind.

Hervorhebenswert ist an Bettina Dessaus und Bernulf Kanitscheiders Buch "Von Lust und Freude", dass die Autoren die innerhalb der so genannten "Reduktionismusdebatte" gegen die naturalistische Deutung unserer Gefühle erhobenen Einwände keineswegs ausklammern. Sie zeigen vielmehr, dass die biochemische Entschlüsselung der natürlichen Grundlagen unseres Erlebens nicht gleichbedeutend sein muss mit ihrer deprimierenden Entzauberung. Warum sollte die Erlebnisqualität einer Lustempfindung durch den Aufweis der an ihrem Zustandekommen beteiligten Faktoren auch geschmälert werden? Das Gegenteil ist der Fall: Gerade die somatische Reduktion könnte Chancen und Möglichkeiten eines selbstbestimmteren Umgangs mit der Lust eröffnen.

Hierfür bietet das Buch zahlreiche Anhaltspunkte. Nach umfangreichen Exkursen in die Philosophiegeschichte erforschen die Autoren die Hochstimmungen, wie wir sie bei riskanten Sportarten oder sexuellen Abenteuern verspüren. Weitere Kapitel widmen sich dem literarischen und musikalischen Kunstgenuss, der intellektuellen Wahrheitssuche sowie der lustvollen Enthemmung durch die Einnahme psychoaktiver Substanzen. Als nicht minder 'natürlich' und von dem einzigen Wunsch nach Steigerung des Erlebens beseelt entpuppen sich sodann polygame Neigungen, Homo- und Bierotik. Auf ihre hedonistische Verwertbarkeit hin befragt werden ferner Cyberkultur, Selbstversklavung und diverse Formen offener Paarbeziehungen.

Desto weiter man jedoch blättert, umso mehr beginnt das Buch einer Beispielsammlung zu ähneln, die lediglich auflistet, auf welch vielfältige Weise wir das vorhandene Erlebnispotential erweitern können. Natürlich können wir uns zur Aufbesserung der eigenen Glücksbilanz in Geselligkeit begeben. Natürlich können wir eine Vielzahl von Freunden um uns versammeln, mit denen wir dann sicherer, angenehmer und sorgenfreier leben. Und natürlich können wir auch erlesene Speisen zu uns nehmen oder hochprozentigen Getränken zusprechen - nicht zuletzt um deren gemeinschaftsbildender und die Kreativität befördernder Wirkungen willen. Um Anregungen für ein mehr oder weniger autistisches Auskosten immer neuer Genüsse sind die Autoren nicht verlegen, aber warum sollten wir diesen Aufforderungen Folge leisten?

Wir sollten es gar nicht, wenigstens nicht unter den vorliegenden Umständen. Kanitscheider und Dessau mangelt es an einer philosophisch anspruchsvollen Theorie der Lust, die plausibel machen könnte, dass das, was wir da empfinden und genießen, nicht nur ein kontingenter Reflex unserer 'natürlichen' Triebe ist, sondern überdies ein als richtig und sinnvoll erkanntes Verhalten. Ist es philosophisch wirklich belanglos, ob wir Vergnügen angesichts eines mit großer Kunstfertigkeit hergestellten Gemäldes empfinden oder angesichts des Geflimmers auf einem Computerbildschirm? Ist es unbedenklich, dass ein nicht unerheblicher Teil der Menschheit in bitterster Armut lebt, während der aufgeklärte Hedonist den "passiven Luxus" eines Brillantkolliers gegen den "aktiven Luxus" eines hochpreisigen Sportgeräts eintauscht? Der hier angedeutete emanzipatorisch-kritische Impuls fehlt "Lust und Freude". Mögen die lautstark erhobenen Protestrufe gegen eine restriktive Sexualmoral uns auch noch so sehr in den Ohren klingen, am Horizont zeichnet sich keine Utopie einer "nicht-repressiven Sublimierung" (Marcuse) ab.

Weit mehr als die vermeintlich originelle Wiederbelebung eines zu Unrecht totgeschwiegenen "Kellerkind[es] der Philosophie" scheint mir der nassforsch praktizierte Hedonismus ein Symptom der von der Soziologie so genannten 'Eventkultur' zu sein. In der gegenwärtigen Gesellschaft, so lehrt Gerhard Schulze, erhebt sich das Gefühl, vormals nur eine Begleiterscheinung objektiver Inhalte (Kunst, Religion), zum einzigen Bezugspunkt. Entscheidend ist heute nicht mehr, ob ein Gegebenes im gesellschaftlichen Diskurs für vernünftig oder wahr erachtet wird, sondern in welcher Form es (als Kunsterlebnis, als religiöse Empfindung) an die eigenen Rezeptoren "anschlußfähig" wird. Wenn es stimmt, dass die Glückstechniken der Hedonik Bestandteil dieses Kontextes sind, werden sie sich über kurz oder lang in der Suche nach immer neuen Reizen erschöpft haben.

Da im soziologischen Deutungskontext zugleich das Aufrücken innerer Befindlichkeiten und spontaner Wünsche zur obersten Instanz als eine Form nachmetaphysischer Selbstapotheose beschrieben ist, gehen Dessau und Kanitscheider fehl, wenn sie ihren Entwurf als Denkanstoß für eine "säkulare Lebensgestaltung" verstehen. Das Buch richtet sich ausdrücklich an eine Leserschaft, die "den Sprung in den Glauben rational nicht verantworten" kann, d. h. in ihrer Lebensführung ganz ohne den Rückhalt weltüberschreitender metaphysischer Ansätze auskommen möchte. Weit gefehlt!, möchte man ausrufen. Die hedonistische Erhöhung des eigenen Lebens zur Gottheit bei gleichzeitigem Verzicht auf überindividuelle Orientierungsvorgaben - das ist so unmetaphysisch nicht.

Mit all dem soll aber nicht etwa gesagt sein, dass "Von Lust und Freude" auf die Einbeziehung normativer Fundamente völlig verzichtet. Rechtfertigungen für sein Tun und Lassen sind auch vom Hedoniker einzufordern, wenn das Primat von Lust und Vergnügen nicht in einen rationalen Egoismus einmünden soll. Dessau und Kanitscheider bedienen sich des auf John Stewart Mill zurückgehenden "Permissivitätsprinzips", wobei sich jedoch, wie angedeutet, das im Utilitarismus angelegte 'Sozialprinzip' tendenziell verflüchtigt. Ein Indiz dafür ist, dass das Buch stärker auf Phänomene partnerschaftlicher Gunst und Missgunst (z. B. Eifersucht) eingeht, die politisch-gesellschaftliche Dimension genussvoller Euphorisierung jedoch nur am Rande erwähnt.

Das Permissivitätsprinzip bzw. das Prinzip der minimalen Restriktion besagt, "dass alle Begrenzungen des naturwüchsigen Luststrebens durch die Angabe guter Gründe untermauert werden müssen". Weniger akademisch: Man muss den ererbten Programmen ihren Lauf lassen, solange dies ohne erkennbaren Schaden möglich ist. Permissivität ist eine ethische Minimalforderung, mittels derer prinzipienethischen Überdrehtheiten entgegengesteuert werden soll. Zugleich überbrückt sie die logisch unüberwindbare Kluft zwischen der deskriptiven Komponente (menschliche Natur) und der präskriptiven Komponente (Vorschriften). Im vorliegenden Zusammenhang einer strikt materialistischen Glückslehre entbehrt Permissivität aber jedes politischen Sinns. Vielmehr scheint sie einen alten philosophischen Topos wiederzubeleben, wonach das Natürliche zugleich auch das sittlich Gute ist.

Vielleicht muß man Dessaus und Kanitscheiders Entwurf weiterdenken und radikalisieren, um seine Unredlichkeit zu erkennen. Hörte man auf die Natur, so geschähe folgendes: Unbegründbare Restriktionen des Trieblebens verschwänden, Intoleranz verwandelte sich in Toleranz, die zuvor aufgrund ihrer Neigungen marginalisierten 'Perversen' würden freundlich in den Schoß der Gesellschaft aufgenommen. Zum Schluß öffnete sich von unsichtbarer Hand die Tür zu einem "möglichst kategorienlose(n) Reich erotischer Freiheiten". Das aber ist, wie jeder wird zugestehen müssen, zu schön, um wahr zu sein.

Titelbild

Bettina Dessau / Bernulf Kanitscheider: Von Lust und Freude. Gedanken zu einer hedonistischen Lebensorientierung.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. / Leipzig 2000.
295 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 3458342583

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