Psychobiologie der Angst

Günter Tembrocks Naturgeschichte des 'ängstlichen' Affekts

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn das Wort "Angst" im Titel einer verhaltensbiologischen Studie auftaucht, dann gerät der Autor zwangsläufig in Erklärungsnot. Ihm droht der allgegenwärtige Vorwurf des Biologismus. Inwiefern ist eine Bezeichnung, die den Humanwissenschaften entstammt und in der Psychologie und Medizin fachbezogen definiert ist, überhaupt biologisch bestimmbar? Günter Tembrock, Professor für Verhaltensbiologie an der Universität Berlin, sucht in seiner "Naturgeschichte" der Angst nach Antworten, die nicht nur den Zoologen und experimentell arbeitenden Biologen befriedigen sollen, sondern darüber hinaus auch für Angehörige anderer Fakultäten verwertbar sind.

Gefühle sind immer mit körperlichen Vorgängen korreliert, auch wenn sie aus diesen nicht immer hinreichend erklärt werden können. Beim verängstigten Geschöpf, das hat die Neurobiologie herausgefunden, steigen Blutdruck und Atemfrequenz, das Herz beginnt schneller zu schlagen. Ein Alarmsystem wird aktiviert, "anxiogene" Substanzen wie Laktat oder Neurotransmitter durchfluten den Körper. Verschwindet der Angstauslöser, so leiten wir, vermittelt über verschiedene Stufen der Bewertung der Reizsituation, einen Bewältigungsprozess ein. Eine krankhaft-pathogene Angst tritt auf, wenn Bedrohungssituationen falsch eingeschätzt werden oder das Alarmsignal im Kopf nicht mehr abklingt.

Aus der Sicht der Verhaltensbiologie ist die Angst vor gesundheitlichen oder lebensbedrohenden Gefährdungen ein durchaus sinnvolles Verhalten. Nicht nur, dass sie das Individuum vor Beeinträchtigungen schützt - in der Evolution wirkt sie als Antrieb, den Menschen mit einer großen Bandbreite von Durchschnittsqualitäten auszustatten. Da Ängste aber keineswegs nur einen Zuwachs an Erkenntnisgewinn und Kultur schaffen, sondern das Erklimmen höherer Kulturstufen seinerseits eine Quelle für neue Störungen unserer Befindlichkeit ist, ist die Überwindung ursprünglicher Ängste 'qua Kultur' um den Preis erkauft, dass wir uns fürderhin mit immer komplizierter werdenden Bangigkeiten herumschlagen müssen. Hier liegt ein möglicher Ansatzpunkt für eine zivilisationskritische Theorie der Angst.

Bei entwickelteren Organismen, so weiß Tembrock zu berichten, tritt an die Stelle des angeborenen Verhaltens das Lernen, d. h. ein über verschiedene Interaktionsstufen und Umweltklassen definiertes Interaktionsmuster. Eine Handhabe zur Bewertung der Angst ist der "Bioindikator" der vorsprachlichen akustischen Kommunikation, etwa die Notschreie bei unmittelbarer physischer Bedrohung. Ein wesentliches Merkmal der verhaltensbiologischen Deutung der Angst scheint darin zu bestehen, dass ein bestimmter Kontext Anforderungen an ein Individuum stellt, für die keine arttypischen Reaktionsmuster mehr verfügbar sind. Solche Überforderungserlebnisse werfen das Subjekt völlig auf sich selbst zurück und führen im Extremfall zu letalen Krisen.

Wie ist Angst als individueller Zustand zu beschreiben, wie als soziales Phänomen, wie innerhalb ökologischer Kontexte? Innerhalb dieser Kapitel ist die Argumentation zunehmend schwieriger zu führen, verbirgt sich doch schon hinter dem Begriff der Individualität nichts geringeres als die komplette Stammesgeschichte der Lebewesen ("Individualitätsstufen"), die Einflussnahme durch elterliches Erbgut, fakultatives Lernen und so fort. Ferner ist die Unterscheidung zwischen tierischer und menschlicher Individualität über verschiedene "Individualitätsordnungen" gefordert. Mit einiger Mühe lassen sich dennoch idealtypische Abstraktionen formulieren.

Angstzustände engen die Verhaltensspielräume jedes Lebewesens stark ein, da Facetten der Persönlichkeit zugunsten biologisch individuell vorgegebener Dispositionen in den Hintergrund treten. Nähern wir uns also gerade in unseren Ängsten einander an? Neben der Angst vor dem Tod erweist sich für Tembrock der Verlust des Partners als Angstauslöser ersten Ranges, wobei auch hier die zugegebenermaßen vielschichtigen Differenzen zwischen einer biosozialen und einer soziokulturellen Bedeutung der Angst nicht immer deutlich werden. Verbindet das Vogel- und das Menschenkind während der Brutpflege bzw. in der Pflegephase wirklich dieselbe "Trennungsangst"?

So viel Wissenschaft in den Kapiteln über die raum-zeitliche Dimension der Angst oder ihr Verhältnis zum Entwicklungsalter des Individuums auch kondensiert, am Ende hat sich der Leser mit der Auskunft zu bescheiden, dass der Mensch in Bezug auf das Spektrum möglicher Angstzustände einen Sonderstatus aufweist, der es ihm gestattet, sich von genetisch fixierten Verhaltensmustern zu lösen, da er sein Verhalten durch einen Reichtum an erworbenem Wissen und Können steuert und sich an Normen und Werten orientiert. Vielleicht läßt sich dies in der Einsicht zusammenfassen, dass wir unseren Ängsten weniger ausgeliefert sind, da wir in der Lage sind, unsere Einstellungen zu ihnen zu verändern.

Für den kulturgeschichtlich oder psychoanalytisch interessierten Leser ist Tembrocks Studie nur bedingt empfehlenswert. Für eine vermehrt interdisziplinäre Öffnung hätten wenigstens die entsprechenden 'Anschlussstellen' zu einer Kulturgeschichte der Gefühle benannt werden müssen. Der Lesbarkeit wäre eine mitunter weniger stark schematisierte Darstellung entgegengekommen.

Titelbild

Günter Tembrock: Angst. Naturgeschichte eines psychobiologischen Phänomens.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2000.
215 Seiten, 32,70 EUR.
ISBN-10: 3534140966

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch