Die Wissenschaften und die Gefühle

Skizzen und Literaturhinweise

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Buch des amerikanischen Neurologen Antonio R. Damasio "Ich fühle, also bin ich" (List Verlag, 2000) enthält einen "Exkurs über die seltsame Geschichte der Wissenschaft von den Emotionen". Sie sei eine Geschichte der Missachtung, Ignoranz und der verpassten Chancen. Die Philosophie habe in ihrer Überschätzung der den Menschen auszeichnenden Vernunft Emotionen "weitgehend in die verzichtbaren Bereiche des Tierischen und Fleischlichen verbannt". Und trotz Charles Darwin, William James und Sigmund Freud "haben Neurowissenschaft und Kognitionswissenschaft der Emotion während des gesamten 20. Jahrhunderts bis in allerjüngste Zeit die kalte Schulter gezeigt."

In diesem Befund stimmen die derzeit in großer Zahl erscheinenden Veröffentlichungen zu dem Thema trotz sonstiger Divergenzen weithin überein. Der in New York lebende Wissenschaftsjournalist John Horgan ("Der menschliche Geist", Luchterhand, 2000) erklärte in einem wohltuend skeptischen Streifzug durch die wissenschaftlichen Versuche, die Psyche zu verstehen: "Bis in die jüngste Vergangenheit versuchten viele Neurowissenschaftler, bei ihren Experimenten Emotionen auszuweichen, und sie behandelten sie als lästigen Störfaktor, der die Ergebnisse verfälscht, und nicht als grundlegenden Teil der menschlichen Natur." Neurowissenschaftler seien dabei den Kognitionswissenschaften in dem Bemühen gefolgt, "jene informationsverarbeitenden Funktionen, die sich am leichtesten auf Computern abbilden lassen, wie Sehen, Erinnern, Spracherkennung und logisches Denken, zu verstehen." Der in Austin (Texas) lehrende Philosoph Robert C. Solomon schreibt im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines 1976 in den USA erschienenen Buches "Gefühle und der Sinn des Lebens" (Zweitausendeins, 2000): "Da sich die westliche Philosophie so lange lediglich als Einübung ins vernünftige Denken und Folgern verstand, konnte sie die Gefühle zwangsläufig nur als 'irrational' ansehen."

Und die Psychoanalyse? Sie scheint in der Emotionsforschung des 20. Jahrhunderts einen deutlichen Vorsprung vor anderen Disziplinen zu haben. Doch das Bild, das Siegfried Zepf unter dem Titel "Gefühle, Sprache und Erleben" (Psychosozial-Verlag, 1997) von ihrem derzeitigen Kenntnisstand und Interesse vermittelt, sieht anders aus. Zwar ist für die psychoanalytische Entwicklungstheorie "das Lust/Unlustprinzip, d.h. die Ansicht zentral, daß die Entwicklung angetrieben wird vom Ziel, Lust zu erreichen und Unlust möglichst zu verhindern", und für die Therapie gilt, "daß nur emotionale Einsichten eine Veränderung der psychischen Struktur des Analysanden bewirken können." Doch sei unter den heutigen Psychoanalytikern ein systematisches Nachdenken über Gefühle eher in Mißkredit geraten". In der psychoanalytischen Affektentheorie herrsche nach wie vor "Chaos". In einer ausgearbeiteten Systematik existiere sie bislang noch nicht. Und in der Psychologie seien Gefühle inzwischen zwar zu einem bevorzugten Forschungsgegenstand geworden, doch das gesicherte Wissen reiche nicht wesentlich über den Kenntnisstand hinaus, den vor über 130 Jahren ein Psychologe so beschrieb: "In der That giebt es kaum ein Gebiet psychischer Erscheinungen, welches der Untersuchung grössere Schwierigkeiten entgegenstellte, als [...] die Region der Gefühle. Durchlaufen wir die Psychologien älterer und neuester Zeit, nirgends herrscht soviel Abweichung, ja soviel Widerstreit der Ansichten und Erklärungen, wie hier."

Sprach-, literatur- und kulturwissenschaftliche Arbeiten jüngeren Datums legen ähnliche Befunde vor. Natürlich gehören die Hinweise auf Forschungsdefizite auch zu den Ritualen der Selbstprofilierung und der Legitimation der eigenen Veröffentlichung. Doch die Vielzahl der gegenwärtig erscheinenden Bücher zu dem Thema lassen sich durchaus als Symptom dafür einschätzen, dass es in der Emotionsforschung tatsächlich erheblichen Nachholbedarf gibt.

In einem grundlegenden Sammelband zu dem Thema aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ("Emotionalität", Böhlau Verlag, 2000) stellen denn auch die Herausgeberinnen Claudia Benthien, Anne Fleig und Ingrid Kasten zunächst einmal eine nicht enden wollende Reihe von Fragen. Sie ergeben zusammen eine Art Programm zur kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung. "Was meinen wir, wenn wir von Gefühlen, Empfindungen, Emotionen, Affekten sprechen? Welche Mittel stehen uns zur Verfügung, um sie zum Ausdruck zu bringen? Wann dürfen wir, wann müssen wir Gefühle zeigen? In welchem Maße sind unsere Gefühle konstruiert und manipulierbar? Wie läßt sich die Wechselwirkung von Emotionalität und Medialität, von Emotionalität und Macht, fassen? Welche Funktionen erfüllen Emotionen, zum Beispiel in der Kommunikation? Inwiefern haben Gefühle gemeinschaftsbildende Bedeutung? Welche Relationen bestehen zwischen Gefühlen im öffentlichen und nicht-öffentlichen Raum? Haben sich Ausdrucksformen von Gefühlen im Laufe der Geschichte gewandelt und wenn ja: wie ist der Prozeß des Wandels zu beschreiben?"

Die sprachlichen und körperlichen Expressionen, die Vorstellungen über die Herkunft und die Folgen, den Wert oder die Beherrschbarkeit von Gefühlen, die Klassifikation von Gefühlsarten, die sprachlichen Bezeichnungen für Gefühle - das alles ändert sich im Verlauf der Geschichte einer Kultur und unterscheidet sich von Kultur zu Kultur zum Teil erheblich. Und sogar innerhalb einer Kultur gibt es da schichten-, alters- oder geschlechtsspezifische Unterschiede. Der Emotionsforschung als kulturwissenschaftlichem Projekt öffnet sich da ein weites Feld. Wie ergiebig es sein kann, zeigen die Beiträge in diesem Band. Er bietet eine Fülle von Anregungen, die sich aufzunehmen lohnen.

Hartmut Böhme lenkt den kulturanalytischen Blick mit Gewinn auf religionswissenschaftliches Terrain und fragt nach der Bedeutung von Himmel und Hölle für die räumliche Codierung der Gefühle, die der Angst, der Angstlust und des Glücks. Mit unheimlicher Radikalität erkunden Visionen himmlischer und höllischer Räume emotionale Extreme. Deutlich macht dieser Beitrag nicht zuletzt, wie die von Höllendarstellungen evozierten Schmerzängste machtpolitisch instrumentalisiert wurden oder wie die Hölle als Rache- und Bestrafungsphantasie imaginäre Freiräume sadistischen Lustgewinns öffnete. "Die Hölle ist das erste imaginäre Massen-Straflager, aus dem nicht einmal der Tod befreit. Die Hölle ist auch ein über Jahrhunderte fortgeschriebener Roman eines perversen Sadomasochismus, das größte pornographische Kunstwerk, das das Abendland hervorgebracht hat."

In der Tradition der Aufklärung über den Missbrauch von Gefühlen steht auch Claudia Lenssens Analyse der Parteitagsfilme Leni Riefenstahls als Konstrukte emotionalisierender Strategien. Doch ist diese nach wie vor wichtige Perspektive in dem Band nicht die dominante. Im Zentrum steht der kulturvergleichende Blick auf divergierende Stile des Umgangs mit Emotionen. Klaus-Peter Köpping hinterfragt den westlichen Topos von der emotionalen Undurchdringlichkeit und Maskenhaftigkeit der Japaner, Werner Röcke geht der literarischen Trauerkultur im späten Mittelalter nach. Den inszenierten und ritualisierten Umgang mit Emotionen in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters und der frühen Neuzeit beschreiben anschaulich die Beiträge von Gerd Althoff und Helga Meise. Am Beispiel des Landgrafen Ludwig VI. von Hessen-Darmstadt, der schon bei der Hochzeit vom Kanon codierter Liebesbekundungen abwich und dann vor allem nach dem Tod seiner Gemahlin im Jahr 1665 einen ungewöhnlichen Stil des Umgangs mit der Trauer entwickelte, belegt Helga Meise, wie schon im 17. Jahrhundert Gefühle den Funktionszusammenhang der höfischen Gesellschaft in Frage stellen konnten.

Dass der Landgraf bei den Bekundungen seiner Trauer auf deren körperliche Inszenierung verzichtete und seine Gefühle stattdessen, vor allem in Form von Gedichten, verschriftlichte, entspricht einer Entwicklung, die von jüngeren Arbeiten über die Kultur der Empfindsamkeit im 18. Jahrhundert wiederholt beschrieben wurde. Wie hier die emotionale Kommunikation der Körper in das Medium der Schrift überführt wird, ist unter dem Titel "Körperströme und Schriftverkehr" in Albrecht Koschorkes historischer Kulturanthropologie der Affektmodellierung nachzulesen. (vgl. die Rezension von K. Fehlberg in dieser Ausgabe) Als ergänzende Lektüre dazu empfiehlt sich in dem Band "Emotionalität" der Aufsatz von Barbara Korte über die Körpersprache im englischen Roman des 18. Jahrhunderts. Auch die empfindsame Verschriftlichung von Gefühlen mag auf die zentrale Bedeutung des Körpers als Zeichenträger emotionaler Aussagen nicht verzichten. Die englischen Romane der Empfindsamkeit beschreiben und veranschaulichen die Gefühle ihrer Figuren, indem sie deren Körperbewegungen schildern. Die 'analogen' Körperzeichen werden in 'digitale' Schriftzeichen übersetzt. Die Leser der Romane lassen sich so "auf einen komplexen Prozeß der Semiose ein: ein sprachlich geschildertes nonverbales Verhalten wird mental (re-)konstruiert und als Körpersprache der fiktiven Figuren dekodiert."

Wie auch die Herausgeberinnen des Bandes verweist Ute Frevert in ihren historischen Annäherungen an die Gefühlshaltung des 'Vertrauens' auf das grundsätzliche Problem, dass es 'Gefühle an sich' nicht gibt oder dass sie zumindest nicht zugänglich sind. In konstruktivistischer Perspektive sind "Gefühle lediglich das Ergebnis ordnender, auswählender und deutender Diskurse und Mechanismen", und diese Perspektive schließt den Verzicht ein, jenseits semantischer Muster und expressiver Codes nach der "puren Emotion zu suchen". Kulturwissenschaften haben es, wie die Herausgeberinnen formulieren, "immer mit Repräsentationen von Gefühlen zu tun", nicht mit diesen selbst. Die Geschichte der Gefühle zeigt sich ihr nur in Formen ihrer Vertextung oder Verbildlichung.

Auch wenn er hier nicht ausdrücklich genannt wird, ist es Niklas Luhmann gewesen, der schon vor fast zwanzig Jahren in seinem Buch "Liebe als Passion" mit dem Untertitel "Zur Codierung von Intimität" der kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung diese Perspektive vorgegeben hatte. Liebe analysierte er hier als "Kommunikationsmedium" und erklärte programmatisch: "In diesem Sinne ist das Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit alldem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird."

Der schon ältere "linguistic turn", von dem auch noch die neuere Kulturwissenschaft geprägt ist, hat seine Entsprechung in jener naturwissenschaftlichen Forschung, die einzig das Beobachtbare der wissenschaftlich praktikablen Beachtung für wert hält. Was der kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung die Materialität der Zeichen, ist den Naturwissenschaften das physische Korrelat von Gefühlen. Wie Gedanken und Absichten sind Gefühle anderer nicht zugänglich; wahrnehmbar sind für Kultur- wie für Naturwissenschaften nur ihre Repräsentanten. Aussagen über Gefühle anderer werden deshalb als Metaphysik abgetan. Es sind eben Aussagen, die auf Phänomene jenseits aller physischen Realität zielen.

Damasio unterscheidet daher definitorisch zwischen "Emotion" und "Gefühl". Emotionen sind nach dieser künstlichen Sprachregelung, die nicht dem alltäglichen Gebrauch der beiden Wörter als Synonyme entspricht, all jene Reaktionen, "die größtenteils öffentlich zu beobachten sind", während Gefühle "die private, mentale Erfahrung einer Emotion" sind. Bei anderen könne man kein Gefühl beobachten, nur bei sich selbst, wenn man als bewusstes Wesen die eigenen emotionalen Zustände wahrnimmt. Entsprechend können andere nicht beobachten, was wir selbst fühlen, während einige Aspekte der Emotionen, die unsere Gefühle hervorrufen, für andere durchaus offen zutage liegen. Emotionen beschreibt Damasio als physiologische Reaktionsmuster, die in unseren Vorstellungen davon zu Gefühlen werden. Diese wiederum können unbewusst bleiben oder in bewusste Vorstellungen überführt werden. Und sie können Rückwirkungen auf die physiologischen Abläufe unserer Emotionen haben.

Kulturwissenschaften haben die naturwissenschaftliche Konzentration auf die Materialität von Gefühlsmanifestationen zeichentheoretisch verfeinert. Sie versuchten im Anschluss an die linguistische (oder semiotische) Wende die Unzulänglichkeiten alter geisteswissenschaftlicher und lebensphilosophischer Einfühlungstheorien zu überwinden. Doch deren Intentionen und Fragestellungen haben sich damit nicht erledigt. Der Verzicht auf Aussagen über Gefühle anderer steht im Widerspruch zu den in jeder Interaktion und Kommunikation zwischen Menschen vollzogenen Versuchen zu wissen, was den anderen im Innersten bewegt, ob seine Gefühlsäußerungen authentisch oder inszeniert, wahrhaft oder vorgetäuscht sind. Von der Richtigkeit solcher Vermutungen scheint im Alltagsleben viel abzuhängen. Das Verhalten gegenüber anderen ist beeinflusst davon, ob man ihn für glaubwürdig hält, auch in seinen Gefühlsbekundungen. Der wissenschaftliche Verzicht auf solche Vermutungen klammert damit aus, was für zwischenmenschliche Beziehungen fundamental ist.

In den Kulturwissenschaften hatte dieser Verzicht nicht zuletzt die Konsequenz, dass man sich mit Vorliebe auf die Beschreibung künstlicher Menschen konzentriert. Im Zentrum stehen ästhetische Konstrukte, Darstellungen von Menschen in Kunst oder Literatur, nicht reale Menschen, die emotional mit Literatur oder Kunst umgehen. Michael Gratzkes poststrukturalistisch versierte Dissertation über "Figuren der Liebe und des Masochismus in der Literatur" ("Liebesschmerz und Textlust", Königshausen & Neumann, 2000), die vom "Werther" bis zu Internet-Texten reicht, bemerkt immerhin, was dem eigenen literaturwissenschaftlichen Blick fehlt, und versucht es zumindest skizzenhaft mit dem Begriff "Masochismus der Lektüre" zu umreißen. Gemeint ist damit die Hingabe realer Leser an den Genuss "emotionaler Intoxikation", der Phantasie, der Spannung oder der Rhythmisierung.

In welche Probleme man sich allerdings verstrickt sieht, wenn man die konstruktivistische Perspektive verlässt, und wie leicht man in die Falle eines naiven Gefühlsrealismus geraten kann, zeigt ein in der heute dominanten Wissenschaftskultur merkwürdig wirkender Versuch einer Sprachwissenschaftlerin, Indikatoren für die wahrhaft emotionale Beteiligung von Autoren an ihren Texten zu ermitteln. Silke Jahr ("Emotionen und Emotionsstrukturen in Sachtexten", de Guyter, 2000) hat noch dazu ausgerechnet solche Texte unter dem Kriterium der emotionalen Beteiligung linguistisch analysiert, die als besonders emotionsfrei gelten: so genannte "Sachtexte". Ihre Untersuchung "will zeigen, daß die allgemein angenommene Unemotionalität von Sachtexten und von wissenschaftlichen Texten keineswegs zutrifft." So weit kann man der Linguistin ohne weiteres folgen. Wenn etwa ein Biologe wie Steven Rose in seinem 'Sachbuch' "Darwins gefährliche Erben" den (Sozio-)Biologismus seiner Kollegen attackiert und erklärt: "Mich erschüttert die Arroganz, mit der manche Biologen eine alles erklärende Macht für ihre Disziplin in Anspruch nehmen", dann ist die Emotionalität dieser Äußerung offensichtlich. Doch wenn Silke Jahr dann die zu untersuchenden Texte nach dem Kriterium auswählt, ob ihre Verfasser hinsichtlich der thematisierten Gegenstände tatsächlich emotional berührt waren und ihre Emotionen nicht "vorsätzlich strategisch eingesetzt" haben, und wenn sie eine exakte Methode vorzuführen beansprucht, "aus der schriftlichen Textdarstellung auf die Emotionen von Schreibern zu schließen", dann ist das entweder reichlich naiv oder ungemein kühn. Zumindest aber entfernt sich die wissenschaftliche Erkenntnisabsicht nicht völlig von dem, was wir in der Alltagspraxis des Lesens oder Hörens an anderen zu erkennen versuchen.

Auch wer als Literatur- oder Kulturwissenschaftler die erkenntnistheoretischen Grundlagen dieser Arbeit für verfehlt hält, kann aus den alles andere als schlichten sprach- und emotionsanalytischen Untersuchungen von Sachtexten viele Anregungen zur Analyse auch anders gearteter, etwa literarischer Texte entnehmen.

Das Buch entgeht am Ende in seinem Plädoyer für einen linguistischen Beitrag zur interdisziplinären Emotionsforschung nicht dem missionarischen Heilsgestus, mit dem so manches Buch über Gefühle heute mit unangenehmer Penetranz auftritt. Nach zahlreichen Seiten, auf denen mathematische Zeichen und Formeln zur möglichst exakten Beschreibung emotionaler Intensitätsgrade von Texten dominieren, stehen in der Schlussbetrachtung Sätze wie der folgende: "Wenn etwas die Menschheit von den zum Teil selbst heraufbeschworenen Gefahren retten kann, dann am ehesten die Rückbesinnung auf die nicht nur kognitiven, sondern ebenfalls emotionalen Mittel, die uns die Natur zum Überleben zugeteilt hat." Die Verfasserin hat Golemans Bestseller "Emotionale Intelligenz" gelesen und beruft sich auch ausdrücklich auf ihn. Goleman selbst scheint sich inzwischen darauf zu konzentrieren, die den beruflichen und unternehmerischen Erfolg verheißenden Faktoren "emotionaler Intelligenz" zu propagieren. Das in den siebziger Jahren geschriebene und nun in deutscher Übersetzung vom Verlag Zweitausendundeins massenhaft vertriebene Buch "Gefühle und der Sinn des Lebens" verspricht nicht nur im Titel Auskünfte darüber, was alle irgendwie begehren: "das sinnerfüllte Leben". In Wilhelm Schmids so überaus erfolgreicher Grundlegung einer "Philosophie der Lebenskunst" hat der reflektierte Umgang mit Emotionen eine zentrale Bedeutung. Der rechte "Gebrauch der Lüste" oder die "kluge Technik des Umgangs mit dem Zorn" ist Voraussetzung für das Lebensglück.

Alle diese Bücher sind selbst ein lohnender Gegenstand kulturanalytischer Untersuchungen. Sie alle opponieren gegen die traditionsreichen, von Solomon eingehend beschriebenen Gegenüberstellungen von Gefühl und Vernunft. Sie alle tendieren dazu, einerseits den Wert von Emotionen gegenüber ihren rationalistischen Abwertungen zu rehabilitieren, andererseits die Autonomie des Subjekts gegenüber der Macht von Emotionen zu stärken. Ihre klassische Botschaft lautet: Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er nicht nur denkt, sondern auch fühlt - oder wo er, noch besser, das Denken und das Fühlen gar nicht mehr als Antagonismen begreift.

Die Herausgeberinnen des Bandes "Emotionalität" skizzieren einen historischen Prozess der Entwicklung von Gefühlsvorstellungen, dem sich die gegenwärtig erscheinenden Bücher über Emotionalität passend einfügen. Wurden in archaischen Zeiten Gefühle mit subjektexternen, göttlichen Mächten identifiziert, die den einzelnen Menschen ergreifen, so werden diese Mächte seit der Antike nach und nach entmythologisiert und in das Innere des Subjekts verlagert. Sie sind dort eher zu kontrollieren, doch können sie auch noch von dort aus das Subjekt überwältigen. In dem Wort "Passion" ist, wie Solomon ausführt, diese Vorstellung noch erhalten. Passionen machen uns passiv. "Leidenschaften 'drangsalieren', 'überwältigen', 'verzehren' oder 'lähmen' uns; wir 'verfallen' oder 'erliegen' ihnen und versuchen, sie 'niederzuhalten', 'einzudämmen', 'unter Kontrolle zu bringen' oder zu 'unterdrücken'. Sofern wir uns dabei überhaupt als aktiv wahrnehmen, reagieren wir lediglich auf Ereignisse, ohne diese irgendwie steuern zu können." Solomon ist es, der gegen diese von ihm beschriebenen Vorstellungen am radikalsten opponiert und Emotionen als vom Subjekt selbst gesteuerte Aktivitäten begreift. Das autonome Subjekt feiert in diesem von Sartre geprägten Konzept von 'Gefühlen' seinen größten Triumph.

Ganz so autonom nimmt es sich in den anderen Büchern nicht aus. Doch die Tendenz, Gefühle für konstruierbar oder inszenierbar zu halten, die Vorstellung, sie mit reflexiver Distanz kunstvoll 'gebrauchen' zu können, das Konzept, sie zum integralen Bestandteil des Bewusstseins zu erklären, ist auch diesen eingeschrieben.

Silvia Bovenschen allerdings hat neuerdings ganz eigenartige Gefühlsmischungen beschrieben, die bislang kaum einer eingehenderen wissenschaftlichen Analyse für wert erachtet wurden und die, weil sie so komplex und so schwer zu durchschauen sind, sich unserer autonomen Verfügung auf besonders subtile Weise zu entziehen scheinen. Sie werden zwar selten als so überwältigend empfunden wie die Angst oder der Ekel, doch ihre verborgene Macht liegt vielleicht "in der latenten Wirksamkeit eines weit verzweigten Gewebes willentlich nicht steuerbarer Reaktionen und Gegenreaktionen." Bovenschens kluger, stilistisch brillanter, oft gewitzter, zuweilen todernster und immer ungemein anregender Essay ("Über-Empfindlichkeit", Suhrkamp, 2000) handelt von "Idiosynkrasien", von absurden, anfallsartigen Abneigungen, psychischen Allergien, die uns oft bei ganz banalen Anlässen befallen. Winzige, alltägliche Details, die der Beachtung nicht wert erscheinen, treffen uns da ins Mark: "der Zuckerlöffel, der zunächst dem Transport des Zuckers zur gefüllten Tasse diente, dann zum Umrühren verwendet und in feuchtem Zustand in die Zuckerdose zurückgesteckt wurde [...]; das Buttermesser, mit dem man zuerst die Butter auf dem Brot verteilt hatte und das dann helle Schlieren im Marmeladeglas zurückließ, das Knirschen des verstreuten Zuckers auf dem Küchenboden, das Quietschen der Kreide auf der Schultafel [...], die Haut auf der Milch, die Art, wie ein Ei geköpft wurde, ein falsches Wort..."

Man kann das Buch als eine kleine Psychopathologie des alltäglichen Gefühlslebens lesen. So gehört denn auch Freud zu jener Reihe hochrangiger Autoren, von denen sich Bovenschen anregen lässt und mit denen sie sich auseinandersetzt. Doch die persönlichen Überempfindlichkeiten, die nach Paul Valéry zur Konstitution jeder Individualität gehören, werden nicht pauschal als krankhaft ins Unrecht gesetzt, sondern, etwa mit Walter Benjamin, als unter Umständen "höchstes kritisches Organ" gewürdigt. Gerade weil sich Idiosynkrasien der Kontrolle des Bewusstseins entziehen, enthalten sie ein widerständiges Potential gegen soziale Normierungen und Disziplinierungen.

Bovenschens Beschreibungen und Reflexionen zu diversen "Spielformen der Idiosynkrasie" stehen, das zeigen nicht zuletzt die eingehenden Auseinandersetzungen mit Adorno, in der Tradition der Frankfurter Schule. In den Kontexten gegenwärtiger Emotionsforschung nehmen sie sich zuweilen wie ein Fremdkörper aus. Das spricht nicht gegen sie.

Titelbild

Wilhelm Schmid: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
566 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3518289853

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Titelbild

John Horgan: Der menschliche Geist.
Luchterhand Literaturverlag, München 2000.
400 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3630880029

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Titelbild

Claudia Benthien / Anne Fleig / Ingrid Kasten (Hg.): Emotionalität.
Böhlau Verlag, Köln 2000.
240 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3412088994

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Titelbild

Silke Jahr: Emotionen und Emotionsstrukturen in Sachtexten.
De Gruyter, Berlin 2000.
320 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 311016874X

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Titelbild

Robert C. Solomon: Gefühle und der Sinn des Lebens.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2000.
384 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3861503069

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Siegfried Zepf: Gefühle, Sprache und Erleben. Psychologische Befunde - psychoanalytische Einsichten.
Psychosozial-Verlag, Giessen 2000.
235 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3932133145

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Antonio Damasio: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewußtseins.
Übersetzt aus dem Englischen von Heiner Kober.
List Verlag, München 2000.
455 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3471773495

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Michael Gratzke: Liebesschmerz und Textlust. Figuren der Liebe und des Masochismus in der Literatur.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
400 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3826017501
ISBN-13: 9783826017506

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Silvia Bovenschen: Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
265 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3518411764

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