Fremd-vertraut

Alfred Döblins "Reise in Polen"

Von Kathrin FehlbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kathrin Fehlberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich - bin nicht da. Ich - bin nicht im Zug. [...] Ich bin gefangen." Wohin geht eine Reise, die schon zu Beginn als 'nicht wirklich' beschworen wird und der man sich gleichsam ausgeliefert sieht? Woher diese Abwehr, dieses Unbehagen? Was den Erzähler hier den Anfang einer Fahrt in so beklemmender Weise erleben lässt, ist nicht allein das beunruhigende Gefühl, Entfernungen im Zeitalter der Züge und Zeppeline nicht mehr als Entfernungen zu erfahren. Es ist darüber hinaus die Unvermitteltheit, in der ihn das räumlich eigentlich Ferne und Fremde konfrontiert. In diesem Falle handelt es sich um eine Reise, die Döblin im Jahre 1924 im Auftrag der "Vossischen Zeitung" von Berlin aus nach Polen führte. Seine Ausführungen darüber erschienen zunächst in diesem Blatt, später auch in der "Neuen Rundschau" und lagen 1925 schließlich in Buchform vor.

Das Gefühl der Unwirklichkeit und der befremdeten Abwehr, das die Zugfahrt begleitete, hält auch bei der Ankunft in Warschau vor: "Jetzt fange ich ja an, zu verstummen". Was dieser Sprachverlust allerdings nicht beeinträchtigt, ist die Fähigkeit zur intensivsten Aufnahme aller Eindrücke der neuartigen Umgebung. Ja vielleicht ist es erst diese Sprachlosigkeit und die Unfähigkeit, ein Urteil zu fällen, die den Betrachter derartig angewiesen sein lässt auf die Reize von außen und ihn fremd vor Fremdes stellt. So erfährt auch der Leser das Warschauer Leben, wie es von Döblin gesehen und in der Unmittelbarkeit und Dynamik der Bilder im Text reproduziert wird.

Einzelne Züge der Darstellung, die im vier Jahre später erscheinenden Roman "Berlin Alexanderplatz" zu charakteristischen Kennzeichen der Großstadtschilderung werden, haben sich bereits hier geltend gemacht. Das Verfahren der montageartigen Zusammensetzung disparater Realitätsfragmente - Statistiken, Zeitungsausschnitte, historische Exkurse, Gedichte -, der sich von allem fesseln lassende, allem Interessanten folgende Blick des Betrachters und die teilweise nur aneinander gereihten Szenenfolgen geben die Simultaneität des Geschehens wieder. Der Erzähler begnügt sich vorerst mit der Registrierung von Tatsachen und gibt Hintergrundinformationen zur Geschichte des Landes; wertende Kommentierungen dagegen finden sich eher am Rande.

Das Polen der zwanziger Jahre, das Döblin anhand verschiedener Städte kennen lernt, bietet in mancherlei Hinsicht ein faszinierendes Tableau unterschiedlichster Gegebenheiten. Der gerade entstandene Nationalstaat, der das Ziel vieler vergangener Kämpfe gewesen war, die damit verbundenen Nationalitätenkonflikte und die sich neu konstituierende Gesellschaft - all dies ist für Döblin nahezu unerschöpfliches Material der Anschauung und Reflexion. Dabei bleiben die Überlegungen nicht allein auf Polen beschränkt, vielmehr wird dieses zum Ausgangspunkt genereller Betrachtung des Staates. Schon das erweiterte Schiller-Zitat im Vorspruch des Romans macht darauf aufmerksam: "'Denn eine Grenze hat Tyrannenmacht': Allen Staaten gesagt/ Und dem Staat überhaupt".

Insbesondere die potentiell ausschließenden Grenzen des Nationalstaates erscheinen als eine Gefahr, die in dem Verhältnis der verschiedenen in Polen lebenden Bevölkerungsgruppen zueinander augenscheinlich wird. Bemerkungen wie "Die heutigen Staaten sind das Grab der Völker. Staaten sind Kollektivbestien" erklären den Staat zu einem überalterten, anachronistischen Gebilde, das seine Legitimität eingebüßt hat. An seine Stelle setzt Döblin die Integrität und den Wert des Individuums - eine Wendung, die ihre Spuren nicht nur in der philosophischen Haltung des Autors, sondern auch in seiner poetischen Konzeption hinterließ, die dem Ich eine neue Position zuerkannte.

Während Döblin bei Betrachtungen dieser Art unter anderem auf die politischen Einsichten aus dem Deutschland der Weimarer Zeit zurückgreifen kann, gibt es ein Erlebnis in Polen für ihn, das eine vollkommen neue Erfahrung bedeutet. Hier erst begegnet er jemandem, der ihm als in Berlin lebendem und schreibendem Dichter bislang weitgehend unbekannt gewesen sein dürfte: dem Typus des Ostjuden, der in Daseins- und Glaubenszusammenhängen lebt, die für einen assimilierten Westjuden wie Döblin von einer faszinierenden Fremdheit sein mussten. Jahre später erinnert er sich in seinem autobiografischen Bericht "Schicksalsreise" an den Anlass seines Polenbesuchs: Unter dem Eindruck antijüdischer Ausschreitungen im Scheunenviertel Anfang der zwanziger Jahre stellte sich für Döblin die Frage nach den Juden neu: "Ich fragte also mich und fragte andere: Wo gibt es Juden? Man sagte mir: In Polen. Ich bin darauf nach Polen gefahren..."

Den vermutlich nachhaltigsten Eindruck hinterlässt bei Döblin die hier noch erhalten gebliebene Lebendigkeit des Geistig-Religiösen, die nie abgerissene Verbindung zwischen Leben und Glauben, welche die Judenheit zusammenhält. Gerade die einzigartige Geschichte des jüdischen Volkes mit dem Verlust der Staatlichkeit und der anschließenden Diaspora habe diesen Vorgang der Verinnerlichung eines geistigen Zentrums bewirkt: "Und sie haben sich selbst zum Tempelvolk gemacht. Zum Volk, das den Tempel in sich trägt." Sei es der Besuch bei einem Rebbe, seien es die Trauerklagenden auf dem Friedhof, die Betenden in der Synagoge, die Vorbereitungen zu Festtagen oder die Besichtigung einer jüdischen Schule - überall sucht Döblin die Berührung, in dem ständigen Bemühen zu verstehen. Dass es trotz der Annäherung ein Blick von außen bleibt, bleiben muss, hindert keineswegs die Teilnahme, die wohl nirgendwo im Roman stärker zu spüren ist als in den Passagen, in denen es Döblin um das jüdische Leben in Polen geht.

Die "Reise in Polen" zeichnet ein Bild des polnischen Staates im Jahre 1924; darüber hinaus ist sie auch ein Bericht über den Prozess eines Vertrautwerdens. Das Gefühl der Fremdheit, wie es den Anfang der Reise prägte und den Neuangekommenen verstummen ließ, wäre auch ohne explizite Äußerungen dazu spürbar. Zwar scheint Döblin für seine Sprachlosigkeit reichlich Worte zu finden, doch es sind vorerst nicht tatsächlich seine. So fremd und vielgestaltig die angetroffene Wirklichkeit, so fremd und vielgestaltig wird sie sprachlich wiedergegeben. Und in dem Maße, in dem die Distanz des Erzählers zum Erzählten abnimmt, gewinnt der Erzähler an Eigenständigkeit. Seine verstärkt auftretenden Kommentare zeugen von einem veränderten Verhältnis zu den Dingen, die nun nicht mehr nur registriert und abgebildet, sondern durch Stellungnahme und Bewertung umgebildet und damit zum 'Eigenen' gemacht werden. Für den Leser geschieht dies ähnlich in seinem Verhältnis zum Text: Die sich entwickelnde Unbefangenheit des Erzählers entfaltet sich auch in der Sprache; indem er seine Stimme wiedererlangt und die vorgefundene Realität sich der Aufnahme und der Aneignung nicht länger entzieht, öffnet sich der Text auch für den Rezipienten und bietet ihm das Angebot eines Zugangs - den Vorgang der aufkommenden Vertrautheit mit dem anfänglich Fremden erlebt der Leser ebenso wie der Erzähler.

Nicht zuletzt erweist sich die Reise als ein Vorgang, in dem Erfahrungswerte hinterfragt und umgeformt werden. Die entdeckten und erlebten Gegensätze sozialer Wirklichkeit in Polen und Deutschland, von West- und Ostjudentum, Staat und Individuum bewirken in ihren starken Kontrasten eine Neusetzung von Relationen: die Reise als exemplarische Form der Auseinandersetzung mit dem Anderen - als Aufnahme des Neuen und Überprüfung des Alten.

Alfred Döblins "Reise in Polen" liegt jetzt in der dritten Auflage als Werkausgabe des Deutschen Taschenbuch Verlages vor. Das umfangreiche Nachwort von Heinz Graber bietet dem Leser nützliche Orientierungshilfen und Interpretationszusammenhänge. So werden nicht nur Informationen zur Entstehungsgeschichte, zur Rezeption und den biografischen Hintergründen gegeben, auch die Stellung des Romans im Gesamtwerk des Autors, thematische Schwerpunkte und die poetische Gestaltung kommen zur Geltung, so dass das Gesamtbild der Lektüre hilfreich abgerundet wird.

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Alfred Döblin: Reise in Polen.
Herausgegeben von Anthony W. Riley.
dtv Verlag, München 2000.
376 Seiten, 15,10 EUR.
ISBN-10: 3423128194

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