Ohne Tempo, ohne Eigenschaften

Andrea Gnam über die Bewältigung der Geschwindigkeit bei Musil und Benjamin

Von Christina UjmaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Ujma

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Andrea Gnams Studie "Die Bewältigung der Geschwindigkeit, Robert Musils ,Mann ohne Eigenschaften' und Walter Benjamins Spätwerk" postuliert einführend unter Berufung auf Virilio und Guillaume Apollinaire, dass die Akzeleration der Lebensverhältnisse das 20. Jahrhundert entscheidend geprägt hat. Gleichwohl geht es in Gnams Buch nicht nur um Geschwindigkeit und ihre beiden Gewährsleute Musil und Benjamin, sondern um diverse Autoren und Themen. Besonders im ersten Teil, der eigentlich dem "Mann ohne Eigenschaften" gewidmet ist, spielt Musils Roman nur eine relativ geringe Rolle. Höchstens das erste Kapitel "Geschwindigkeitsdimensionen" widmet sich der eigentlichen Themenstellung und untersucht Theorien der Geschwindigkeit und der Beschleunigung von Musil, Maeterlinck, Einstein und anderen.

In diesem wie in den folgenden Kapiteln spielt das Denken Ernst Machs, das Musil nicht unwesentlich beeinflusst hat, eine große Rolle. Die Wirkung Machs auf Musil ist eigentlich gut erforscht, aber die Autorin unterlässt es hier wie im zweiten Kapitel "Grenzbereich des Ästhetischen: Die Absence", intensiver auf die Sekundärliteratur einzugehen. Im dritten Kapitel "Mystik und Relativitätstheorie" geht es um die Metamorphose der Städte, um Rausch, um Mystik und um Einsteins Relativitätstheorie. Die Beziehung dieser Themengebiete zueinander und zu Musils "Mann ohne Eigenschaften" bleibt allerdings unklar, da die Autorin es unterlässt, Einflüsse und Konstellationen auszuleuchten. Stattdessen reiht Gnam Referat an Referat, was den ersten Teil "Bewältigung der Geschwindigkeit" zu einem ausgesprochen schwerfälligen Text macht, der sich vor allem dadurch auszeichnet, sämtliche Geistesgrößen anzuführen, die sich zu ähnlichen Themen wie Musil geäußert haben. Gnams Studie fehlt nicht nur das Tempo, sondern auch jegliche Dynamik.

Zweifelhaft erscheint auch Gnams Vorgehen, den "Mann ohne Eigenschaften" als Steinbruch für eine Betrachtung des Geschwindigkeitsthemas zu benutzen, ohne dabei zu beachten, dass es sich bei Musils Werk um einen Roman handelt, der sich den behandelten Themen in fiktionaler Form nähert, während es sich bei den anderen diskutierten Autoren, bei Mach, Cassirer, Mauthner, Virilio, William James, Baudrillard, Béla Balázs und Einstein um Wissenschaftler handelt. Entscheidende Dimensionen von Musils epochalem Roman werden von Gnam ausgeblendet, so z. B. seine narrativen Strategien wie auch der Gebrauch von Ironie und Satire.

Im Benjamin-Teil spielen narrative Strategien des Autors dagegen durchaus eine Rolle, wie z. B. im Kapitel über die "Berliner Kindheit um 1900", in dem die Autorin Benjamins Stadtdarstellung analysiert. Hier arbeitet sie weitgehend textimmanent und schenkt auch der Sekundärliteratur einige Beachtung. Im Kapitel "Rauscherfahrungen" kehrt Gnam dagegen zu einem disparaten Themenmix zurück, denn hier behandelt sie den Flaneur, die Haschisch-Aufzeichnungen und die Rolle des Ornaments in Benjamins Spätwerk. Diese Bereiche wie auch ihre Ausführungen zu Musil und anderen versucht sie mit der These zu verklammern, die Autoren hätten Absencen, Abschweifungen und Rauscherfahrungen genutzt, um temporär aus der geschwindigkeitsfixierten Moderne auszusteigen und ekstatische Raumerlebnisse zu erfahren. Benjamin und Musil hätten dabei nach Strategien gesucht, Geschwindigkeit zu bewältigen, ohne in ihre totale Ablehnung oder in ihre totale Affirmation zu verfallen. Dies ist zweifellos eine interessante These, die allerdings die Autorin näher auszuführen versäumt.

Im Kapitel "Die Ordnung des Chocks: Ein Schlüssel zur Analyse der Moderne" betrachtet Gnam die erkenntnistheoretische Figur des Chocs in Benjamins Baudelaire-Essay, während das letzte Kapitel "Film und Architektur" Benjamins Begriff der Aura kurz thematisiert. Hier geht es der Autorin vor allem um die Rekonstruktion dieser Benjaminschen Begriffe, die allerdings in merkwürdig reduzierter Form daherkommt. Fast zwanghaft vermeidet Gnam die Diskussion der politischen und gesellschaftlichen Bedeutung, die diese Begriffe im Benjaminschen Spätwerk haben. Überhaupt mutet eine Studie, die Geschwindigkeit und Beschleunigung in Benjamins Spätwerk untersucht und dabei die "Geschichtsphilosophischen Thesen" nicht thematisiert, reichlich merkwürdig an. Denn in diesen wird die Geschwindigkeit, mit der der Fortschritt durch das Jahrhundert rast, als Katastrophe bezeichnet und als Rettung das revolutionäre Aufsprengen des Kontinuums der Geschichte empfohlen, was nun gar nicht in die Argumentation von "Die Bewältigung der Geschwindigkeit" gepasst hätte.

In Gnams Ausführungen verliert sich nicht nur der kritische Impuls, sondern auch die Vielschichtigkeit und Komplexität von Benjamins Schriften, deren Beeinflussung durch jüdisch-messianistisches wie durch marxistisches Denken ausgeblendet wird.

Finden sich im Benjamin-Teil in Einzelheiten durchaus zutreffende Beobachtungen, bietet die Studie insgesamt wenig Neues. Benjamins und Musils Ansätze werden zudem nicht verglichen oder kontrastiert, sondern nebeneinander gestellt. Der kritische Impuls und die Vielschichtigkeit ihres Schaffens bleiben vollkommen unberücksichtigt und weitgehend auch ihr stilistischer Formenreichtum. Wie Musil konnte auch Benjamin in seiner Beschreibung des "Jahrhunderts der Geschwindigkeit" sowohl elegant und elegisch, ironisch und melancholisch, wie auch polemisch und provokativ sein. Letztere Haltung pflegte Benjamin besonders gegenüber Historikern, die die kritischen Impulse in der Überlieferung zu verdrängen suchten. In der 16. Geschichtsphilosphischen These heißt es dazu: "Der Historismus stellt das 'ewige' Bild der Vergangenheit, der historische Materialist eine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht. Er überläßt es andern, bei der Hure ,Es war einmal' im Bordell des Historismus sich auszugeben. Er bleibt seiner Kräfte Herr: Manns genug, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen."

Titelbild

Andrea Gnam: Die Bewältigung der Geschwindigkeit. Robert Musils Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" und Walter Benjamins Spätwerk.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
288 Seiten, 36,80 EUR.
ISBN-10: 3770534050

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