"Ich bitte sehr, mich nicht zu vergessen”

Erinnerungen an das Leben im sowjetischen Exil

Von Christina JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich in den 30er Jahren in der jungen Sowjetunion befand, dem Land der Hoffnung auf eine bessere, klassenlose Zukunft, hatte sich nicht notwendigerweise vor dem nationalsozialistischen Terror dorthin geflüchtet. Seit den 20er Jahren waren einige Tausend sogenannte "Spezialisten" auf Einladung der Sowjetregierung in das Vaterland der Werktätigen übergesiedelt, um mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten am sozialistischen Aufbau mitzuarbeiten. Seit 1933 wurden sie mit den der Verfolgung entkommenen kommunistischen Politemigranten zu Exilanten. In der Sowjetunion allerdings wähnten sie sich nicht nur in Sicherheit, sondern auch in ihrer ideologischen Heimat, in der sie sich am antifaschistischen Widerstand enthusiastisch beteiligen könnten. Kein anderes Exilland hatte einen so deutlichen politischen Charakter aufzuweisen und war bei seinen Asylanten mit ähnlich großen Hoffnungen besetzt wie dieser sozialistische Staat. Hoffnungen freilich, die herbe enttäuscht werden sollten, fanden sich die politisch Aktiven doch plötzlich in der paranoischen Atmosphäre der stalinistischen Säuberungen wieder, die nach noch immer ungesicherten Angaben rund 70 Prozent der deutschen Emigranten das Leben kosten sollte. Davon, von ihren Leidens- und Irrwegen durch Lager, Verbannung oder gar Auslieferung an Nazideutschland zeugen zahlreiche Autobiografien so namhafter Autoren wie Margarete Buber-Neumann, Herbert Wehner, Waltraud Nicolas, Susanne oder Wolfgang Leonhard. Lebenserinnerungen, die nicht selten zur Abrechnung mit der gesamten kommunistischen Bewegung gerieten, sich umstandslos in den antikommunistischen Tenor des Kalten Krieges einfügten oder sich von ihm leicht vereinnahmen ließen.

Mit "Gut angekommen - Moskau. Das Exil der Gabriele Stammberger" und "Ich muß es sagen, wie es war. Deutsche Frauen des GULag" kommen nun, nach Trude Richters 1990 posthum veröffentlichten Memoiren, erstmals Frauen zu Wort, die nach ihrer sowjetischen Exilzeit in die DDR und nicht in die westlich-kapitalistische Welt remigriert sind. Frauen also, die sich trotz ihrer Erlebnisse in der stalinistischen UdSSR durchaus weiter als kommunistisch orientiert begriffen und deren Autobiografien die Erwartung wecken, hier einen vielleicht anderen Blick auf die Ereignisse der 30er Jahre zu erhalten.

Gabriele Stammbergers gemeinsam mit Michael Peschke aufgeschriebenen Erinnerungen an ihr Exil in den Jahren 1932 bis 1954 werden gänzlich unsentimental und ohne anklagenden Gestus präsentiert. 22-jährig war sie nach Moskau gekommen, um mit ihrem Mann, Walter Haenisch, am Marx-Engels-Institut zu arbeiten. Nach seiner Entlassung wird er im März 1938 wie viele andere deutsche Emigranten vom NKWD verhaftet und erschossen. Das so häufige Schicksal der Hinterbliebenen, als Angehörige eines Volksfeindes isoliert, ebenfalls verhaftet und in ein Lager nach Sibirien transportiert zu werden, bleibt ihr jedoch erspart - ihre Lage gleichwohl aber prekär. Mit dem Schriftsteller und Schauspieler Gregor Gog, mit dem sie kurze Zeit später zusammen lebt und arbeitet, verbringt sie ein paar unbeschwerte Jahre, gebiert einen weiteren Sohn und verkehrt in den Kreisen der Exilprominenz. Zu ihren Bekannten gehören neben Hugo Huppert und Theodor Plivier auch Gustav von Wangenheim und Heinrich Vogeler. Nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion werden sie 1941 ins ferne Usbekistan evakuiert. An den Folgen der über einen Monat währenden beschwerlichen Reise und den schlechten Bedingungen in dem von Flüchtlingen überfüllten Gebiet Fergana nahe Taschkent sterben ihre beiden Kinder Stefan und Pim kurz nacheinander.

Die Beschreibung der bedrückenden Stimmung im Moskau der späten 30er Jahre, Kritik an Stalin und der Kommunistischen Partei sowie politische Reflexionen sucht man in den Erinnerungen Stammbergers vergeblich. Dies überrascht zunächst und unterscheidet dieses Werk deutlich von der gängigen autobiographischen Literatur über diese Zeit. Seinen Reiz gewinnt das Buch vielmehr durch die Montage der im autobiographischen Stil retrospektiv erzählten Passagen mit Dokumenten aus der erinnerten Zeit. Briefe, Tagebuchaufzeichnungen und Fotos bilden rund die Hälfte des Umfangs und halten dem Erzähltext die Waage. Aus dieser sich permanent durchdringenden und ergänzenden Anordnung entsteht ein Spannungsverhältnis, das dem Leser mehr deutlich machen kann, als durch das erinnernde Ich ausgesprochen wird. Haenischs Briefe voller Todesangst an offizielle Stellen, in denen er beflissen Wachsamkeit und Loyalität bekundet, lassen mit ihrem ganzen Gewicht an Authentizität die Abhängigkeits- und Machtgefüge im sowjetischen Exil ahnen. Gregor Gogs Korrespondenz mit befreundeten Genossen in Moskau, sein verzweifeltes Bemühen, eine Rückkehr nach Moskau zu bewirken, die nur durch eine offizielle Anforderung durch die Partei zur publizistischen Arbeit erreicht werden kann, gehören zu den bewegendsten Passagen des Buches, ohne dass hier noch erzählt werden müsste. Immer wieder bietet er, krank und unterernährt, Arbeiten zur Veröffentlichung an, und muss sich sagen lassen, dass diese gerade nicht in die propagandistische Linie passen. Als ihm 1945 endlich die Leitung der Zeitschrift "Internationale Literatur" angeboten wird, ist es zu spät. Sein physischer und psychischer Verfall ist schon so weit fortgeschritten, dass er in Usbekistan stirbt. Auch Gabriele Stammbergers Bemühungen sind umsonst. Bis zu ihrer Rückkehr nach Ostberlin im Jahr 1954 bleibt sie in Fergana "dauerhaft angesiedelt".

Der hier plastisch werdende und geschickt vergegenwärtigte Einzelfall wird in seiner individuellen Besonderheit deutlich, wenn vergleichend dazu die Arbeiten Meinhard Starks herangezogen werden. Hatte er bereits 1991 ein Buch mit ausführlichen Interviews dreier in die DDR zurückgekehrter Frauen, die aber im Gegensatz zu Gabriele Stammberger qualvolle Erfahrungen mit dem stalinistischen Lagersystem machen mussten, veröffentlicht ("Wenn Du willst Deine Ruhe haben, schweige. Deutsche Frauenbiografien des Stalinismus"), so legt er jetzt aufbauend darauf eine systematische Studie vor. Anhand der Analyse von Interviews, die zwischen 1989 und 1997 mit 17 Frauen geführt wurden, sucht Stark Züge einer kollektiven Biografie deutlich zu machen. Entlang der historischen Etappen wie der Jugend in der Weimarer Republik, der Politisierungsphase, Erfahrungen im Exilland Sowjetunion sowie im GULag und schließlich der Remigration in die DDR, legt er fast vergessene Lebensläufe frei. Extrahiert werden so Spezifika der geteilten Erfahrung, die einen umfassenden Blick auf den schier unvorstellbaren Alltag im GULag eröffnen. Auf dem noch am Anfang stehenden Gebiet der GULag-Forschung leistet Stark so einmal mehr Pionierarbeit, auch dort, wo er bisher unzugängliches Material aus Kader- und Untersuchungsakten ergänzend präsentiert. Die in den letzten Jahren durch Archivöffnungen gewonnenen Erkenntnisse über die stalinistischen Säuberungen der Jahre 1934 bis 1938 kontextualisieren die resümierenden und zitierenden Erinnerungspassagen. Dies gelingt, ohne dabei ein weiteres Mal die Individualität der Frauen einzuebnen. Bilder aus der Jugend, dem Exil und der Haftzeit, vor allem aber zum Interviewzeitpunkt geben den Frauen und Schicksalen ein Gesicht.

Das Verdienst von "Ich muß es sagen, wie es war. Deutsche Frauen des GULag" ist es, die überwiegend von Intellektuellen stammenden Lagererfahrungsberichte im Sinne einer oral history nun um eine besondere soziale Gruppe, nämlich "einfache Leute aus der Arbeiter- und Bauernschaft" ergänzt zu haben. Dies geschieht angesichts des hohen Alters der Interviewpartnerinnen vielfach in letzter Minute - bis zur Drucklegung des Buches waren bereits drei Frauen verstorben. Leider bleibt im Dunkeln, warum es ausschließlich Frauen sind, denen Starks Interesse gilt; gleichwohl wird er ihrer spezifischen Lebenslage an den aufgesuchten Stationen durchaus gerecht. Stark verschafft ihnen in Form des "erinnernden Erzählens" Gehör und bemüht sich gleichzeitig, das Material historisch zu systematisieren.

Dabei gehört gerade das letzte Kapitel zur Reintegration der z. T. jahrzehntelang in Lagern Inhaftierten in die Gesellschaft der DDR zu den Teilen seiner Arbeit, die die Frage des leidvollen Exils um den viel zu selten berücksichtigten Aspekt der Rückkehr erweitern. Durch die Anerkennung als "Verfolgte des Naziregimes" ist die materielle Versorgung gesichert und die Eingliederung gewährleistet. Dies gelingt jedoch nur um den Preis des Schweigens. Als ehemalige Häftlinge immer noch verdächtig, werden Lebensläufe geglättet und die traumatischen Erlebnisse beiseite geschoben. Es gilt ein Erinnerungs- und Redeverbot. Häufig waren es die Interviews mit Meinhard Stark, die erstmals an das vielfach Verdrängte rührten und den oft schmerzhaften Prozess des Erinnerns, des Erzählens und auch des Öffentlichmachens in Gang setzten - davon zeugt die sehr persönliche Einleitung des Autors.

Die auch hier praktizierte Engführung der Erinnerungen mit dem tatsächlichen Geschehen durch die Anreicherung mit persönlichen wie offiziellen Zeitdokumenten erweist sich als besonders gewinnbringend. Erzähltext und Zeitdokument greifen ineinander und beleuchten sich gegenseitig. Dieser Einbruch des Dokumentarischen in das autobiographische Schreiben bzw. Erzählen ist gewiss in beiden Werken der engen Zusammenarbeit der Zeitzeuginnen mit den wissenschaftlich interessierten Autoren geschuldet. Sie greifen ergänzend ein und leisten mehr als bloß Hebammendienste. Das daraus hervorgehende Resultat kann sicher auch als Weiterführung des autobiographischen Genres verstanden werden.

Titelbild

Michael Peschke / Gabriele Stammberger: Gut angekommen - Moskau. Das Exil der Gabriele Stammberger 1932-1954. Erinnerungen und Dokumente.
BasisDruck Verlag, Berlin 1999.
472 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3861630826

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Meinhard Stark (Hg.): Ich muß sagen, wie es war. Deutsche Frauen des GULag.
Metropol Verlag, Berlin 1999.
287 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3932482077

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