Frei wie ein Vogel im Wasser

Steffen Pross' schier unerschöpflicher Reiseführer über deutsche Künstler im Londoner Exil

Von Ulla BiernatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulla Biernat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wenn ich an London denke in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht." Mit diesem verbitterten Resümee Kurt Weills über sein missglücktes Londoner Exil in den Jahren 1934/35 beendet Steffen Pross seine vier Spaziergänge durch das London der 30er und 40er Jahre. Als Fluchtpunkt seiner Darstellung hat Pross einen bis dato vernachlässigten Abschnitt der Stadtgeschichte gewählt, der gleichzeitig "ein vergessenes Kapitel deutscher Kulturgeschichte" (so der vollmundige und ziemlich übertriebene Untertitel) darstelle: das Leben deutscher und österreichischer Künstler während ihres Exils in London.

Kurt Weills unfreiwilliges Intermezzo ist dabei typisch für viele seiner Kollegen, die London als Durchgangsstation auf der Flucht vor Hitler sahen und bald nach Übersee weiterzogen; aber auch untypisch, da ihn die britische Öffentlichkeit als Künstler wahrnahm - nur um seinen Werken eine so unangemessen negative Publicity zu verschaffen, dass sie Weill in die USA trieb. Die meisten exilierten deutschen Schriftsteller, Maler und Schauspieler wurden in ihren künstlerischen Anstrengungen, hinter denen oft handfeste Probleme des täglichen Überlebens standen, von den Briten ignoriert. Pross beschreibt eindringlich, wie die österreichischen und deutschen Exilierten versuchten, ein soziales Netz aus künstlerischen und politischen Organisationen zu knüpfen (sie gründeten z. B. den Freien Deutschen Kulturbund und das Austrian Centre, engagierten sich im German Service der BBC und publizierten in "Die Zeitung",), um von dem "Elfmillionendorf" (Alfred Kerr) aus Hitlers Sturz zu beschleunigen und damit die eigene Rückkehr nach Deutschland vorzubereiten.

Doch Verallgemeinerungen sind angesichts der Fülle von Material und von Lebensgeschichten, die der Journalist Pross zusammengetragen hat, verkürzend und schwierig. Vor allem in vier innerstädtischen Gebieten Londons - Marylebone, Bloomsbury und Soho, Hampstead, die Gegend um den Hyde Park - haben schon bis 1937 ungefähr fünftausendfünfhundert Exilierte versucht, sich eine neue Existenz aufzubauen. Bei Kriegsbeginn dagegen dürften sich in ganz Großbritannien um die 70.000 Flüchtlinge aufgehalten haben (die Zahlenangaben in der Forschungsliteratur divergieren sehr stark). Fast jede Biographie entfaltet einen eigenen Reiz von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, von Erfindungsreichtum und Glück. Kurt Schwitters wird sofort nach seiner Ankunft im Juni 1940 auf der Isle of Man als "Enemy Alien" interniert. Die bereits im Frühjahr 1939 begonnene Kategorisierung von Ausländern und die Internierungsaktion nach der französischen Niederlage im Mai 1940, die relativ bald als Überreaktion erkannt und beendet wurde, waren Anzeichen dafür, dass sich mit Beginn des Zweiten Weltkriegs die Bedingungen des Exils veränderten; und das "offenbarte auch die Diskrepanz zwischen einer restriktiven britischen Ausländerpolitik und der weithin toleranten und hilfsbereiten englischen Öffentlichkeit", so die Einschätzung von Pross. Was für viele andere deutsche Flüchtlinge eine erneute Verschlimmerung ihrer Lebensbedingungen bedeutete, bot dem Maler und Schriftsteller Schwitters die Möglichkeit, an seine dadaistische Vergangenheit anzuknüpfen: Er fand im Lager ein aufgeschlossenes Publikum für seine Selbstinszenierungen und seine Merz-Kunst.

"Das meiste davon", schreibt Pross, "war mit der Entlassung im Dezember 1941 vorbei: Schwitters zog nach London, führte seinem Sohn [...] den Haushalt und schrieb, er sei jetzt frei wie ein Vogel - im Wasser." Mit der kulturellen Fremdheit Britanniens hatten die meisten Deutschen und Österreicher zu kämpfen. Der 70jährige Alfred Kerr kann sich weder an Hammelfleisch (statt "Eisbein mit Sauerkohl") noch an die ungeheizten Häuser gewöhnen. Es scheint, dass unter den Emigranten am ehesten die Wissenschaftler, denen Pross einige Kapitel widmet, in der neuen Umgebung Fuß fassen konnten. Bei dem Umzug der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg 1933 von Hamburg nach London mitsamt Mitarbeiterstab handelt es sich um eine gelungene kulturelle Verpflanzung; und die wird wohl nur von der abenteuerlichen Naturalisierung des Sexualforschers und Publizisten Ernest Borneman übertroffen, der die reiche Exilkultur zu nutzen verstand. Er hörte u. a. Vorlesungen von Malinowski und dem Berliner Musikethnologen Erich von Hornborstel. Daneben arbeitete er als Türsteher, "jammte mit Duke Ellington und Louis Armstrong in Londons einzigem schwarzem Jazzclub", übersetzte für Brecht den "Dreigroschenromen" ins Englische und "spielte [...] für Douglas Fairbanks junior den Postillion d'Amour bei Marlene Dietrich".

Walter Gropius, Stefan Zweig, Sigmund und Anna Freud, John Heartfield, Elisabeth Bergner, Walter Hasenclever, Lilli Palmer, Hans Flesch-Brunningen - die Liste der besprochenen Künstler ist schier unerschöpflich. Dabei gelingt es Pross, die akademische Exilliteraturforschung mit den Vorzügen eines touristischen Lesebuchs zu verbinden. In der Einleitung skizziert er die britische Einwanderungspolitik und bereitet auf den Detaillreichtum vor, der vor allem daher rührt, dass der Begriff des Exils hier denkbar weit angesetzt wird: Pross beschränkt den Berichtszeitraum der jeweiligen Biographie nicht auf Anfang und Ende des Aufenthalts in der Fremde, sondern beschreibt die Lebensläufe immer in ihrer Gesamtheit. Dadurch wird die Tatsache der Emigration in ihren Auswirkungen, in ihren jeweiligen Brüchen oder als Folgerichtigkeit in der individuellen Lebensgeschichte erkennbar. Zusammen mit den zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotographien, den Stadtplänen und den weiterführenden Lese- und Spazierhinweisen erfüllt das die Zielvorgaben, die Pross sich in der Einleitung selbst gibt: "[Das Buch] möchte Wege der Emigration in vier Stadtspaziergängen nachvollziehen, bietet sich als praktisches Vademecum für den kulturgeschichtlich interessierten London-Reisenden, als Lese- und Bilderbuch sowie als kleines Nachschlagewerk des Exils an der Themse an."

Titelbild

Steffen Pross: In London treffen wir uns wieder.
Eichborn Verlag, Frankfurt 2000.
160 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3821805641

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