Rückzugsvarianten

Über Hanno Millesis "Disappearing"

Von Melanie WitteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Witte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da gibt es einen, der den Rückzug antritt, indem er sich beim Spiel auf dem Sportplatz plötzlich fallen lässt, und zwar mit dem festen Vorsatz, fortan nie wieder ein Lebenszeichen von sich zu geben. Ein anderer zieht sich zuerst in eine körperliche Lähmung und dann mit viel Mühe in die Wand seines Wohnzimmers zurück. Man zieht sich aus Beziehungen zurück, aus den Fängen der elterlichen Autorität, aus dem Gespräch mit anderen oder aus dem Selbst. Letzteres meistens in Augenblicken der Ekstase, und während der Erzähler so sein Bestes gibt, versteckt sich die dazugehörige Frau schon mal hinter ihrer Sonnenbrille. Die immer höchst begehrenswerten Geliebten werden bei Millesi wissenschaftlich korrekt "weibliche Partner" oder vergleichsweise poetisch "andersgeschlechtlich" genannt, und damit wären wir auch schon bei der Sprache und dem Tonfall.

"Ausgeliefert liegt man krampfhaft geschlossenen Auges da, vom Schweiß ins Laken gesogen, ausgeschlachtete Nacht durch die Poren wehend. Ein falsches Verhalten. Fehl am Platz. Wehrlos gegenüber zurückgedrängten Gedanken, offen für widerhakenbesetzten Kommentar. Ein Drehen in der Wunschrichtung auf die andere Seite, ein Winden in der Denkdrehung, ohne äußeren Bildabprall, ohne Ablenkungsnische." Millesi wählt selten die geradlinigste Formulierung. Man spürt durchgehend die Anstrengung, mit der hier Erlebtes in sprachlichen Granit gemeißelt wird. Millesis Ausdruck ist konsequent verschroben. Wenn er sich einmal nicht der sprachlichen Kraftmeierei bedient, trifft sein Zynismus immerhin gelegentlich das schwarze Herz der Sache: "Das nur noch lose von der Haut zusammengehaltene Knochengerüst wird unter schier unvorstellbaren Schmerzen an die hölzernen Speichen gebunden, und das Rad dann durch die Straßen gerollt. Das Geschrei des zu einer solchen Peinigung Verurteilten muß entsetzlich gewesen sein und ist wahrscheinlich bereits nach einer kurzen Zeit mangels Steigerungsmöglichkeit verstummt." Derselbe sachliche Tonfall macht sich bei den ,erotischen' Geschichten nicht besonders gut. Was man über weite Strecken noch als Ironie deuten könnte, löst in "Lamourouge" nur noch peinliches Berührtsein aus: "Der weibliche Partner legt sich zunächst der Länge nach auf die Matratze, wobei er mit dem Bauch auf dem Leintuch aufliegt. Die Arme können ausgestreckt werden. Es ist einstweilen nicht notwendig, sich in irgendeiner Form abzustützen. Das Schaffen der Voraussetzungen für die körperliche Auseinandersetzung, für das Aufeinanderübergehen ist eine einsame und sich selbst überlassene Angelegenheit. Es ist nicht notwendig, daß der männliche Partner dem weiblichen hier in irgendeiner Form behilflich ist. Er sollte sich ganz auf die bevorstehende Situation, die Bewegungssequenz und ihre Folgen einstellen. Wenn er sich bereits in erregtem Zustand befindet, pflege er diesen." (Es geht über 20 Seiten so weiter!) Das mag für Jungs im Konfirmandenalter prickelnd sein - empfohlener Titel: "Handbuch für die Hundestellung" -, der bereits aufgeklärte Leser aber möchte dem Erzähler gelegentlich seine eigenen Worte vorhalten: "So etwas wie Ekstase strebt man nämlich nicht in Abenteueruniform und Durchhalteausrüstung an, die hält man nicht mit von sich gestrecktem Daumen an, sondern man wird von ihr ergriffen". Oder eben nicht.

Zurück zum Rückzug. Millesis Texte stellen gewissermaßen auch einen Rückzug vom Narrativen dar. Sie erzählen keine Geschichten, eher liefern sie Handlungsanweisungen und Fallbeschreibungen von gewöhnlichen und ungewöhnlichen Vorgängen. Der allgegenwärtige Erzähler erzählt nicht, er reflektiert und kommentiert. An Bruchstücke von äußerer Realität reihen sich endlose Gedankenketten, die häufig in Bildern wiederum ganz anderer Realitäten münden. Manches geht runter wie Öl, anderes verursacht Brechreiz. Manchmal möchte man an jedem Satz etwas verändern, man möchte sich abwenden, das Buch ein für alle Mal schließen, und dann liest man doch weiter. Im Großen und Ganzen also ein aufregendes Buch.

Titelbild

Hanno Millesi: Disappearing. Rückzugsvarianten.
Ritter Verlag, Klagenfurt / Wien 1998.
155 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-10: 3854152442

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