Stillstand und Bewegung

Wolfgang Hermanns neuer Roman "Fliehende Landschaft"

Von Ingeborg GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingeborg Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine Grundfrage, die das Ich in Wolfgang Hermanns neuem Roman umtreibt: Wann ist das Leben bei mir? Wann kann ich überhaupt sagen, dass ich existiere? Die Suche nach einer Antwort bedeutet ständiges Unterwegssein, aber nicht jeder ist auf die gleiche Weise unterwegs.

Da findet sich ein Mann in einem Krankenzimmer wieder. Etwas mit seinem Herzen ist nicht in Ordnung. Eigentlich wollte er nach Italien, zu seinem Sohn Marc und dessen Mutter, aber nun ist ihm Ruhe verordnet. Der Stillstand jedoch wird immer mehr zur Bewegung, zu einem Kommen und Gehen von Bildern, Erinnerungsfetzen. Sein unstetes Leben zieht vor seinem inneren Auge vorbei und er erkennt, dass er auf der Flucht war und dass diese Flucht auch eine Art Stillstand bedeutete. So wird der Nicht-Ort des Krankenzimmers zu einem Raum, der die Bilder, Gerüche und Sätze der Vergangenheit wieder präsent werden lässt. Der Vater, der Bruder und vor allem sein Sohn erzählen ihm Geschichten von Lügen, Missverständnissen und Ängsten. Das "Schneegestöber der Unruhe", so erkennt er, bringt es mit sich, dass ein Körper sich nicht spiegeln kann im Draußen, dass die Landschaft und die Menschen fliehen, dass kein Innehalten möglich ist. Der Ich-Erzähler hat viele Reisen unternommen in weit entfernte Länder. In Tunis erlebt er den krassen Unterschied zwischen einem Mann und sich selbst: der Mann will seinem Land helfen, in Freiheit zu leben; er selbst versucht nur, sein "Verlangen nach Schönheit zu befriedigen". Die Landschaften, durch die er reist, fliehen vor ihm, sie können ihn nicht aufnehmen, weil er die Ruhe dazu nicht findet.

"Fliehende Landschaft" ist aber auch ein Bild für die Lage des unsteten Schriftstellers, dessen Stift sich einen Weg sucht durch das Dickicht Wirklichkeit, ihn jedoch nicht findet, weil sein Schreiben Flucht ist und niemals Ankommen.

Hermanns Ich-Erzähler ist Schriftsteller und sein Roman ist ein Selbstgespräch, ein Dialog des Erzählers mit seinem literarischen Text, in dem das Ich zum Er geworden ist.

Der Roman ist eine Geschichte über die Kraft, die es kostet, zu bleiben - entgegen dem Zeitgeist, der ständige Mobilität verlangt. Leben heißt, wenn man Wolfgang Hermann glauben möchte, anwesend sein, bleiben können. Dem Leser wird dieser Erzähler so nahe gebracht, dass man ihn sehen möchte, wissen will, wie sein Gesicht aussieht. Im Laufe der Geschichte werden seine Züge immer deutlicher, man hört seine Stimme und weiß, das kann nur er sein. Dieses Ich kommt im Schreiben tatsächlich bei sich an. Ein wunderbares Buch, dem viele aufmerksame Leser zu wünschen sind.

Titelbild

Wolfgang Hermann: Fliehende Landschaft.
Haymon Verlag, Innsbruck 2000.
112 Seiten, 13,80 EUR.
ISBN-10: 3852183332

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