Analyse und Sinnlichkeit

Siri Hustvedts Essays "Nicht hier, nicht dort"

Von Ingeborg GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingeborg Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den beiden bisher erschienenen Romanen Siri Hustvedts wird eine Irritation beim Leser dadurch ausgelöst, dass man nie richtig weiß, ob man sich gerade in der Realität oder in der Phantasie bewegt. Ihre Essays geben darauf nun eine Antwort: Literatur, ja Kunst überhaupt hält sich nie nur an einem bestimmten Ort auf, sie ist zwischen "hier" und "dort". So wie die Romane schweben die Essays zwischen den Welten, zwischen Sinnlichkeit und intellektueller Analyse, zwischen Wachen und Traum.

Hustvedt lässt sich beispielsweise von bestimmten Gemälden sehr stark anrühren und untersucht zugleich die Komposition des Bildes wie auch ihre eigene Position als Schauende. Ihre Beschäftigung mit Vermeers "Junge Dame mit Perlhalsband" bildet das Glanzstück des Bandes. In alltäglichen Räumen und in den Gesichtern "wirklicher Menschen" verbergen sich Zeichen, die gelesen werden wollen. Das Gemälde spricht von einem "Hier" und weist doch auf ein "Dort". Siri Hustvedts Grundannahme bestätigt sich also auch in der Malerei, der noch ein weiterer Essay gewidmet ist. Diesmal geht es um Stillleben, und selbst da, wo es um scheinbar tote Dinge geht, spricht die Bildsprache vom Anderen, vom Leben. Cézanne ist für die Autorin ein ausgezeichnetes Beispiel für die "Suche nach dem Realen mit Hilfe des Imaginären".

Nirgends liegen Phantasie und Realität so nahe beisammen wie auf dem Gebiet der Erotik. "Ein Plädoyer für Eros" heißt der Essay, der sich diesem Thema zuwendet. Die Mischung aus Nähe und Distanz macht das Wesen der Anziehung zwischen Menschen aus. Ohne das Gefühl der Fremdheit ist keine echte Nähe möglich, so jedenfalls sieht es Hustvedt. Hier wird ihre europäische geistige Heimat am deutlichsten und man glaubt manchmal, die Einflüsterungen von Musil oder Hofmannsthal zu hören.

Vielleicht liegt ja ein Teil der Spannung, die Zwischenbereiche auf Hustvedt ausüben, in der Tatsache, dass sie Kind norwegischer Einwanderer und deshalb seit der Kindheit in zwei verschiedenen Welten und Sprachen zu Hause ist: Minnesota und Norwegen sind ihr "Hier und Dort". Davon erzählt der erste Essay und er bringt die Leser auf die Spur des Geheimnisses, das die Prosa dieser Schriftstellerin ausmacht. "Erzählende Prosa zu schreiben ist wie die Erinnerung an etwas, was nie geschehen ist." Orte der Herkunft sind Orte der Zukunft, aber sie wandeln sich im Schreiben und nehmen manchmal sogar Züge des Phantastischen an. Darin liegt der große Zauber von Siri Hustvedts Kunst. Mit ihrem Essayband hat sie ihren Lesern und Leserinnen ein ganz besonderes Geschenk gemacht.

Titelbild

Siri Hustvedt: Nicht hier nicht dort. Essays.
Übersetzt von Uli Aumüller.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000.
224 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3498029525

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