Mehr als eine Momentaufnahme

Die Ergebnisse des großen Fontane-Symposiums füllen drei Bände

Von Stefan NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit dem Zweiten Weltkrieg sind zwei Autoren aus der Peripherie in das Zentrum des Interesses der germanistischen Literaturwissenschaft gerückt und behaupten dort ihre Plätze neben Goethe, Schiller und Thomas Mann. Beider 'Karrieren' sind durchaus unterschiedlich verlaufen. Heinrich Heine machte man auch nach seinem Tod ein Jahrhundert lang zum Vorwurf, dass er erstens Jude gewesen war und zweitens den deutschen Nationalismus und Konservatismus schärfer als jeder andere kritisiert hatte. Heute weiß man, dass Heine der vielleicht hellsichtigste und modernste der deutschsprachigen Autoren des 19. Jahrhunderts gewesen ist. Ihm half schließlich das, was ihn stilistisch auszeichnet: Heines Texte sind hochkomplex und doch einfach zu lesen. Fontane hingegen stand im Ruf, konservativ zu sein und es keinem Leser leicht zu machen. Seine Renaissance dürfte er der ebenfalls komplexen, ein geschlossenes System bildenden Struktur seiner Erzähltexte ebenso verdanken wie seiner erst spät als dichterisches Grundprinzip entdeckten, dann aber viel beschworenen "Ambivalenz". Zwischen Goethe und Thomas Mann ist er der Schriftsteller des Bildungsbürgertums - und er ist es auch wieder nicht. Denn kein anderer Autor hat so nachdrücklich alles, Gott und die Welt und sich selbst in Zweifel gezogen und so ungewollt vielen seiner späteren Interpreten ein Schnippchen geschlagen.

Die eindrucksvolle, dreibändige Ausgabe der Referate einer Tagung zum 100. Todestag, gefördert mit Mitteln des Landes Brandenburg, stellt - neben dem vor wenigen Monaten erschienenen "Fontane-Handbuch" im Kröner-Verlag - den vorläufigen Schlussstein der Kanonisierung Fontanes dar und ist gleichzeitig eine Momentaufnahme der literaturwissenschaftlichen Forschung "am Ende des Jahrhunderts" zu Fontane und, soweit es die Vielzahl der hier erprobten methodischen Zugänge angeht, auch im Allgemeinen. Ältere und jüngere, sehr bekannte und (noch) sehr unbekannte Forscher haben sich ausgetauscht und zahlreiche hochinteressante Einzelergebnisse vorgelegt. Man kann diese Bände mit Staunen darüber lesen, was aus einer Beschäftigung mit diesem Autor auch nach fast 50 Jahren Fontane-Renaissance noch an Erkenntnissen zu gewinnen ist.

Allerdings fällt auf, dass manchmal gegensätzliche Deutungen unvereinbar nebeneinander stehen. Das liegt, von unterschiedlichen Textzugängen abgesehen, am Gegenstand. Fontane hat keine Letztbegründungen aufgestellt, er hat vielmehr ein sehr feines Gespür dafür gehabt, wo das Recht auf eine eigene Meinung aufhört und eine ideologische Haltung beginnt. Dies wurzelt in seiner "an Paradoxien reichen Lebensgeschichte" (Hubertus Fischer). Wie für Dubslav von Stechlin galt auch für seinen Autor: "Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig." Die einzige, freilich in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Ausnahme ist Fontanes humanistische Grundüberzeugung. Alle seine Texte, ob nun Romane oder Briefe, sind Vexierspiele mit Bedeutungen, mit Ideologemen und Stereotypen, mit Klischees und Vorurteilen. Fontane ist postmoderner als die meisten postmodernen Autoren, das macht einen Teil seiner Aktualität aus. Fontane wird dadurch aber auch zum Prüfstein für jede Interpretation. Kommt sie nicht zu einem vermittelnden, sondern zu einem einseitigen Ergebnis, dann ist Vorsicht angesagt.

Das aufgezeigte Problem lässt sich an Bemerkungen zu Fontanes Philo- oder Antisemitismus studieren. Zwei Parteien stehen sich hier gegenüber, moralische Urteile über den Wegbereiter der Judenverfolgungen des 20. Jahrhunderts werden ebenso formuliert (Wolfgang Benz und Bernd Balzer, weniger entschieden Hans Otto Horch) wie Versuche, die gegen Juden gerichteten Äußerungen weniger stark zu gewichten als die projüdischen. Nicht viel anders stellt sich die Situation dar, wenn es um nationale oder nationalistische Tendenzen bei Fontane geht. Einmal ist er vorwiegend "Nordlandsmensch" (Roland Berbig), ein andermal sprechen seine geheimen Sehnsüchte und Wünsche für den Süden und gegen den steifen, langweiligen Norden, wie Rolf Parrs "Schema 2" suggeriert (überzeugend hingegen ist Parrs Befund, Fontane habe mit Nationalstereotypen ein "semantisches Plazierungsspiel" betrieben. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Miroslaw Ossowski). Ebenso wenig kategorisierbar sind Fontanes politische Überzeugungen. Hier wirkt die Darstellung von Hubertus Fischer, Fontanes Meinungen seien mit denen der Kreuzzeitung identisch gewesen, einseitig.

Weniger angreifbar argumentieren jene Interpreten, die das Grundprinzip Fontanes übernehmen, das da lautet: Alle Positionen sind vorurteilsfrei zu prüfen und stets nur vorläufige Urteile zu formulieren, um jedem und allem möglichst viel Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Werner Riecks Blick auf "Preußens Königshaus im Urteil Fontanes" ist hier zu nennen, oder Hans Esters Darstellung von "Geistlichkeit und Kirche" in den Romanen, Dietmar Storchs Bilanzierung der Beschäftigung mit dem "Fernen Osten", Bernd Wittes Analyse von "Vor dem Sturm", Hans Dieter Zimmermanns Analyse des "Stechlin", Hugo Austs Forderung: "Zu suchen ist also weiterhin nach den Gegensätzen, die etwas in der Schwebe lassen", Eda Sagarras umfangreiche Erarbeitung des Kontextes der "Kommunikationsrevolution" und ihrer Spuren im Werk, und einige Beiträge mehr.

Die Gliederung der Bände orientiert sich an den Sektionen der Tagung. "Der Preuße", "Die Juden", "Das Nationale" (Band 1); "Sprache", "Ich", "Roman", "Frau" (Band 2); "Geschichte", "Vergessen", "Großstadt", "Moderne" (Band 3). Diese Schlagwörter bezeichnen Aspekte des Fontaneschen Lebens und Werks ebenso wie, vor allem in den Bänden 2 und 3, besondere Diskurse der heutigen literaturwissenschaftlichen Forschung. Aus verschiedenen Blickwinkeln wird Fontane bescheinigt, ein überaus moderner Autor zu sein. Barbara Naumann geht nicht so weit, Fontane zum Verläufer von Derrida zu stilisieren, doch zeigt sie an Beispielen, dass die Gespräche in den Romanen vom Grundsatz her der dekonstruktivistischen Theorie äquivalent sind: "Das /a/ [im Wort "Waisen" der Bezeichnung "Die sieben Waisen Griechenlands" in Frau Jenny Treibel] produziert Ironie mit einem quasi-dekonstruktivistischen Spiel des Signifikanten, einem Spiel der Différ/e/a/nce." Dagmar Schmauks bescheinigt dem Autor: "Wegen seiner sensiblen Aufmerksamkeit für die Wirkungen von Sprache und Körpersprache kommt Fontane zu Einsichten, die durch die heutige Linguistik und Semiotik voll bestätigt werden." Liselotte Grevel sieht in Fontane den Zerstörer der "'Mythen' der Wilhelminischen Gesellschaft". Andrea Gnam und andere beschäftigen sich mit der brüchigen Psyche der Romanfiguren, ein konzeptionelles Merkmal, das auf die literarische Moderne vorausweist. Diesen übergeordneten "Kontext der literarischen Moderne" erarbeitet der Beitrag von Ortrud Gutjahr. Petra Kuhnau zeigt die männlichen Helden - an deren "Zucken und Zittern" - als dem Wandel der Geschlechter unterworfen (Jürgen Wertheimers schon etwas älterer, ebenso wichtiger wie kurzer Aufsatz "Effis Zittern" ist von Kuhnau und anderen aber leider nicht zur Kenntnis genommen worden).

Bei aller Erweiterung des Analysespektrums haben sich die Vorlieben der Interpreten wenig geändert. "Effi Briest" und "Der Stechlin" werden am ausgiebigsten behandelt, dabei pflegen manche Interpreten Traditionslinien, die man durchaus hinterfragen könnte. Klaus Briegleb beispielsweise widmet sich "Fontanes Elementargeist: Der Preußin Melusine", Edda Ziegler der "Zukunft der Melusinen". Dabei scheinen beide die einschlägige Studie von Wolfgang Paulsen "Im Banne der Melusine" nicht zu kennen, jedenfalls wird nicht auf sie verwiesen. Der Figur Melusine aus dem "Stechlin" wird einmal mehr paradigmatische Bedeutung zuerkannt. Bei der Interpretation des Romans fristet ihre Schwester Armgard weiterhin ihr stiefmütterliches Dasein. Auch wenn ihrer ungebrochenen Identität und ihrer stillen Art Fontanes uneingeschränkte Sympathie galt - in der Forschung gilt sie nach wie vor als langweilig. Hier zeigt sich beispielhaft ein blinder Fleck heutiger Literaturexegese. Eine ganzheitlich konzipierte Figur passt nicht zu den modernen Ansätzen, folglich muss man sich auch nicht mit ihr beschäftigen. Oder?

Wohl nicht zufällig sind Beiträge an das Ende gestellt worden, die sich mit Fontanes Wirkung auf spätere Autoren auseinander setzen. Erfreulicherweise ist es nicht wieder Thomas Mann, der in den Blick gerät. Sibylle Schönborn skizziert, wie sehr sich Uwe Johnson in seinen "Jahrestagen" an Fontanes Erzählprinzipien und insbesondere am "Schach von Wuthenow" orientiert hat. Stefanie Oswalt belegt eindrucksvoll, wie stark Fontane auf Kurt Tucholsky wirkte. Fontane gilt allgemein als Wegbereiter des Naturalismus, doch war darüber bisher nicht allzu viel bekannt. Christian Grawe schließt diese Wissenslücke mit einer kleinen, feinen Geschichte der "Freien Bühne" und der diesbezüglichen Theaterkritiken Fontanes.

Es wäre müßig, auch die Inhalte der anderen Beiträge kurz anzusprechen. Und es ist eigentlich nicht notwendig. Denn bei aller Disparatheit der Forschungssituation, die ihre Ursache in einer kaum noch zu überblickenden Zahl von Publikationen zu Fontane hat - an diesen drei Bänden wird niemand vorbeikommen, der sich künftig weiterhin oder erstmalig mit Fontane wissenschaftlich beschäftigen will.

Titelbild

Hanna Delf von Wolzogen / Helmuth Nürnberger (Hg.): Theodor Fontane: Am Ende des Jahrhunderts. Band 1, 2, 3 im Schuber.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
902 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3826017943

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch