Konjunktiva

Marcel Beyers Roman "Spione"

Von Robert HabeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robert Habeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Motto, das Marcel Beyer seinem dritten Roman "Spione" vorangestellt hat, ist ein Spruch des Zwergs Tomte Tummetott aus Astrid Lindgrens gleichnamigem Kinderbuch. In drei einfachen Sätzen spricht Tomte die Sehnsucht von Kindern nach dem Unbekannten aus und die Unmöglichkeit, dieses Verlangen je zu stillen. Vielleicht ist es genau das, wofür das melancholische Gefühl steht, das uns beim Begriff Kindheit beschleicht: die Erinnerung an jenes Zwischenreich, das es so in Wahrheit nie gab, das aber nichtsdestotrotz Wahrhaftigkeit hatte, eine Möglichkeitsform, ein Vielleicht eben. Und Konjunktive, Modaladverbien und gegenläufige Zeitrichtungen geben Beyers Erzählung denn auch folgerichtig Struktur und Form vor. Die stilistischen Sonderheiten lenken die Aufmerksamkeit vielleicht ein wenig zu sehr auf die Gemachtheit des Textes, seine Erzählstruktur, den Motor, der ihn vorantreibt. Indes nützt es auch nichts, sich allzu lang mit den komplexen Initialisierungsriten, deren Feuerwerk Beyer abbrennt, aufzuhalten. Wer die Vorgängerromane "Menschenfleisch" und "Flughunde" kennt, weiß, dass der Autor seine Texte nicht jenseits postmoderner Beschlagenheit verfasst und dass das Anzitieren dekonstruktivistischer Bonmots bei ihm mehr als nur Koketterie ist, nämlich Leitlinie seiner Ästhetik.

Buchstabierte "Menschenfleisch" die Metapher der Fleischwerdung des Wortes durch und folgte "Flughunde" den Spuren des Phänomens der Stimme, widmet sich der neue Text der Visualität von Zeichen. An ihren braunen "Italieneraugen" erkennen die Geschwister Nora, Carl, Paulina und ihr namenlos bleibender Cousin, aus dessen Sicht "Spione" überwiegend erzählt ist, dass es in der Geschichte ihrer Familie ein Geheimnis gibt. Sie machen sich auf die Suche nach ihrer verstorbenen Großmutter, von der alle Fotos in den Familienalben entfernt sind, und spionieren ihrem Großvater nach, der - obwohl er nur ein paar Hügel weiter wohnt - jeglichen Kontakt mit seiner Familie und seinen Enkeln verloren hat. Es gilt als ausgemacht, dass seine zweite Frau, die er nach dem Tod der Großmutter heiratete, die Schuld an der Entzweiung trägt - ganz nach dem Muster der bösen Stiefmutter hat sie die Kinder (und Eltern der Kinder Carl, Nora, Paulina samt Erzähler-Cousin) aus dem Haus getrieben. Doch die wechselnden Perspektiven der Erzählerstimme verwischen jenes vermeintlich klare Märchenmuster. Die Geschichte vom Argwohn und des scheinbar aus dem Nichts gewachsenen - nichtsdestotrotz nun real existierenden - Misstrauen zwischen dem Großvater und seiner zweiten Frau ist tragisch bis zum Weinen.

Aber auch die erste Ehe des Großvaters mit der italieneräugigen Frau, der Großmutter der Kinder, krankte an Geheimnistuerei und Schweigen. Der Großvater diente in der Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg und löschte u. a. Guernica vom Erdboden aus, durfte aber mit seiner Frau zunächst aus Geheimhaltungsgründen nicht darüber reden, später hatte sich die Wahrheit in seiner Erinnerung selbst zu jener Heldengeschichte verwandelt, die die Propaganda unters Volk brachte. Die wahre Geschichte erzählt auch Beyer nicht. Aber hier, wie auch in den anderen 50 Jahren Zeitgeschichte, die "Spione" umreißt, findet die Verblüffung Ausdruck, dass all die Einmärsche, Wehrmächte, RAF-Neurosen, Nierentischchen und was sonst noch deutsche Geschichte ausmacht, tatsächlich wahre Geschichte ist. Das ist eine neue Sicht, und in der Neuheit eine Kindersicht, auf die vermeintlichen Tatsachen und Ereignisse. Sie erscheinen nicht realer als die Abenteuer in Märchen. Fast meint man, die Historie zitiert nur aus Romanen und Märchen. So ist die (seit "Menschenfleisch") beständig fortentwickelte Technik der Zitation wesentliches Moment des Romans. Angespielt wird nicht nur auf postmodernes Lehrgut und die Polysemien um das Begriffsfeld "Spione", sondern auch auf Figurenkonstellationen und Bilder, so dass sich weite Assoziationsfelder ergeben. Die Konjunktiva ist - neben aller Grammatologie - auch die Bindehaut des Auges. Ein Zufall in einem Roman über okulare Kräfte und Kraftfelder? Das Dreigestirn der Geschwisterkinder Nora, Carl und Paulina erinnert zu Anfang des Romans an Astrid Lindgrens "Weiße Rose" aus "Kalle Blomquist", was neben dem Namen des Hauses York aus dem Rosenkrieg zugleich die Münchener Widerstandsgruppe um Hans und Sophie Scholl benennt. Ein Zufall? "Tomte Tummetott" wird, um bei Lindgren zu bleiben, noch mehrmals im Text ausgebeutet. Sicherlich kein Zufall, in einem Roman, der neben all dem anderen, worüber Literaturwissenschaftler, Kritiker und Rezensenten streiten mögen, mit großem Gespür jene heimlichen Schleichereien um erleuchtete Fenster, jenes Spionespielen, jenes Irrlichtern über Feldern an heißen Sommertagen und jene Gewissheit, dass es hinter allem noch eine tiefere Bedeutung gibt, beschreibt. Als Spiel von Zitaten, die auf verschiedenen Ebenen aufeinander verweisen, bleibt die Mitte des Romans leer - was genau der Erfindung von Kindheit, einer Wahrheit, die es nie gab, entsprechen dürfte.

Titelbild

Marcel Beyer: Spione.
DuMont Buchverlag, Köln 2000.
308 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3770154177

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