Le Derrida actuel

Eine einführende Skizze

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Schriften des französischen Philosophen Jacques Derrida (vgl. auch "Die Unlesbarkeit der Beschneidung", in: literaturkritik.de Nr. 7/8 Juli/August 2000) stellen ohne Zweifel einen bedeutenden Beitrag nicht nur zur Geschichte der Philosophie, sondern auch zur Geschichte der Literatur- und Kunsttheorie dar. Das dekonstruktive Projekt Derridas präsentiert sich durchweg als eine subtile textsemiotische Analyse von Werken der abendländischen Philosophie-, Literatur- und Kunstgeschichte, die die Bewegungen der eigenen Lektüre zur integralen Komponente der Interpretation macht. Auf eine hochkomplexe und mitunter hermetische Weise werden philosophische Grundprobleme bzw. die Funktion von Termini wie Präsenz und Absenz, Ursprünglichkeit, Telekommunikation usw. auf ihre Rationalität hin befragt und zu Kategorien wie Textualität, Schriftlichkeit und Mündlichkeit sowie der ihnen inhärenten Frage nach der Reproduzierbarkeit in Beziehung gesetzt.

Im Grunde genommen ist Derridas Denken einer paradoxen Struktur unterworfen, da er den metaphysischen Diskurs mit seinen eigenen Mitteln zu überwinden sucht. Derrida situiert seinen Denkansatz damit explizit in der Nähe Adornos und Heideggers, deren Ausgangspunkt es ist, dass die Tradition der europäischen Philosophie nicht ohne weiteres verlassen, negiert oder auch nur transformiert werden kann. Das Überwinden im Sinne des Übersteigens (griech. metafer, "anderswohin tragen") ist aber gerade die Grundbewegung des metaphysischen Denkens selbst, dem er damit verhaftet bleibt. Die von Derrida unter dem Terminus 'Dekonstruktion' gesuchte Konjunktion aus destruierender und rekonstruierender Arbeit zeigt deutlich an, dass eine einfache Strategie der Überwindung nicht möglich ist. Daher ist es kaum verwunderlich, dass Derrida im Verlauf der achtziger und neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eine erstaunliche Vervielfältigung der Themenfelder und Fragestellungen erkennen ließ. Dennoch oder gerade deswegen: die Verstörung, die von diesem Denken ausgeht, hat vielfache Gründe. Sie werden gesucht und gefunden im Staunen angesichts der schier endlosen Produktivität Derridas, in der Verblüffung über seine stilistischen Volten, der Verwirrung angesichts der Kühnheit der Schriften, angestammte intellektuelle Besitzstände von innen her zu sprengen. Und nicht zuletzt in einem vor allem die Rezeption in Deutschland kennzeichnenden Befremden über ein Denken, das von Text zu Text mit sich selbst zu brechen und disziplinäre Grenzen und Differenzen zwischen Literatur und Philosophie nicht anzuerkennen scheint.

Zu einem nicht unwesentlichen Teil sind die Veröffentlichungen Derridas das Resultat einer Lehr- und Vortragstätigkeit zu literarischen, linguistischen, psychoanalytischen, politischen, kunstwissenschaftlichen und philosophischen Fragestellungen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf Texten deutschsprachiger Autoren wie Benjamin, Nietzsche, Husserl, Freud, Kant, Hegel und vor allem Heidegger. Darüber hinaus werden aber auch die Schriften von Platon und Aristoteles, Rousseau, Saussure, Lévi-Strauss, Bataille, Foucault, Lacan, Lévinas, Blanchot, Barthes, de Man und Searle immer wieder neu thematisiert und einer dekonstruktiven Lektüre unterzogen. Neben der Fokussierung auf Werke der Philosophie, der Anthropologie und der Psychoanalyse rekurriert Derrida kontinuierlich auch auf literarische Werke - neben Mallarmés Dichtung, die zweifelsohne eine Schlüsselposition in Derridas Denken einnimmt, vor allem auf die Werke Baudelaires, Valérys, Kafkas, Celans, und die Schriften von Artaud, Genet, Joyce, Jabès, und Ponge. Dass die Dekonstruktion keine apolitische Textsemiotik ist, belegen unter anderem der Text "Für Nelson Mandela" sowie die neueren Veröffentlichungen "Spectres de Marx. L'etat de la dette, le travail du deuil et la nouvelle Internationale" (dt. "Marx' Gespenster. Die Situation der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale") und "Politiques de l'amitié" (dt. "Politik der Freundschaft"). Vermehrt werden auch unterschiedliche Arbeiten von bildenden Künstlern zum Ausgangspunkt für Derridas interdisziplinäre Diskursanalyse. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Werke von Adami, Titus-Carmel, daneben jene von Artaud, Loubrieu und die Fotografien von Plissart. Eine Ausstellung mit dem Titel "Mémoires d'aveugle. L'autoportrait et autres ruines" (dt. "Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstportrait und andere Ruinen"), die sich mit der Thematik des Selbstportraits auseinander setzt, organisierte Derrida 1991 im Louvre. Des Weiteren veröffentlichte Derrida einige Texte auch zur dekonstruktiven Architektur von Tschumi, Eisenman und Libeskind (vgl. hierzu die Besprechung von Derridas Arbeiten zur Malerei).

Auffallend ist nach wie vor, dass Derridas Beiträge zur Psychoanalyse bisher nur in einem geringen Umfang rezipiert und im deutschen Sprachraum kaum wahrgenommen werden. Ein Schlüsseltext in diesem Zusammenhang ist Sarah Kofmans 1984 erstmalig auf französisch erschienenes Buch "Lectures de Derrida" (dt. "Derrida lesen"), das nun in zweiter, durchgesehener Auflage im Passagen Verlag in Wien erschienen ist und von Waldemar Fromm einer eingehenden Besprechung unterzogen wird.

Die gleiche Ignoranz betraf bis vor kurzem auch die rechtstheoretischen und politischen Ansätze der dekonstruktiven Textarbeit Derridas. Selbst die Untersuchungen zur Literatur-, Kunst- und Architekturtheorie, die in Texten wie "La Dissémination" (dt. "Dissemination"), "La vérité en peinture" (dt. "Die Wahrheit in der Malerei"), "Psyche" bzw. "Parages" publiziert wurden, sind größtenteils nur vage kommentiert worden. Die Studien zu Derridas Werk über die Malerei und seine Auseinandersetzung mit einzelnen Künstlern bleiben oft in einen spezifischen Kontext eingebunden und werden nicht auf die dort entwickelten Modelle einer dekonstruktiven Ästhetik untersucht, da sie zumeist unter bestimmten Prämissen seiner Beiträge zur Philosophie diskutiert werden. Studien aus dem französischen und anglo-amerikanischen Sprachbereich, wo Derridas Werk seit den siebziger Jahren eine ständig wachsende Rezeption erfährt, thematisieren die Kunstwerkaufsätze aus "Die Wahrheit in der Malerei" nur unter Teilaspekten, so dass eine intertextuelle Untersuchung dieser Aufsätze unter dem Blickwinkel des von Derrida immer wieder aufgegriffenen Spannungsverhältnisses der traditionellen Malerei zu anderen Medien des künstlerischen Ausdrucks von Realität (Photographie, Film, Video) bislang nahezu ausblieb. Michael Wetzels anlässlich der "documenta X" verfasste Arbeit "Die Wahrheit nach der Malerei", die den Ansätzen Derridas explizit verschrieben ist, hat diese Lücke in Ansätzen schließen können (vgl. hierzu die Besprechung von Axel Schmitt).

Gegen Jürgen Habermas' wiederholte polemische Attacken (etwa in "Der philosophische Diskurs der Moderne") verfolgt Derrida in seinen Texten zur Kunst und Literatur die Absicht, die scheinbare Durchsichtigkeit und Eindeutigkeit von Prämissen einer traditionellen, strengen Trennung von Kunst und Literatur auf der einen und philosophischem Diskurs auf der anderen Seite analytisch zu hinterfragen und zu überwinden - eine Trennung, die nach Derrida durch den 'Logozentrismus' der abendländischen Metaphysik bestimmt wird und die dadurch charakterisiert ist, dass alles aus dem Bereich der reinen Vernunft (des logos) ausgeklammert wird, was nicht mit der Logik der Identität und des Nicht-Widerspruches konform geht. Indem Derridas dekonstruktives Projekt die Aufmerksamkeit auf jene beweglichen Ränder und Begrenzungen lenkt, die eine solche logozentrische Vorgehensweise der Exklusion bestimmen, gelingt es ihm, eine bisher unterdrückte oder verborgene Alterität erfahrbar zu machen. Dekonstruktion meint in diesem Sinne zugleich Destruktion und Rekonstruktion (ähnlich der Vorstellung einer "Dialektik im Stillstand" bei Benjamin) und keines von beiden. Auf jeden Fall ist das dekonstruktive Vorgehen eine klare Absage an allzu starre Ordnungskriterien, mehr noch: sie ist ein Abschreiten des gedanklichen Raums von Darstellung und Ausdruck als Prozess. Die Prozessualität der Dekonstruktion wendet sich all den ephemeren, fragmentarischen und unterschwellig-kryptischen Details zu, die die Texte und Bilder nicht als Präsenz und Fülle ausweisen, sondern als Spur begreifbar werden lassen. Die literarische Sprache markiert für Derrida den Ort einer quasitranszendentalen Alterität. Sie nimmt die Form einer Ontosemiologie an, die ein letztes Wahrheits- bzw. Sinnzentrum verwirft.

In diesem Zusammenhang kommt der unter dem Titel "Marges de la philosophie" (dt. "Randgänge der Philosophie") vorgelegten Sammlung von kleineren Texten Derridas eine erhöhte Bedeutung zu. Neben zwei wichtigen Texten zu Heidegger finden sich hier vor allem die Schlüsseltexte zur "différance". Bereits an diesen Texten wird deutlich, dass Derrida vor der Aufgabe steht, Welterschließung und Wahrnehmung von Identität und Kontinuität herzuleiten, ohne das Modell eines einheitlichen Ursprungs des Seins zu bemühen. "Différance" (von différer, in der Doppelbedeutung "aufschieben", "verzeitlichen" und "nicht identisch sein", "anders sein") wird von Derrida als Vokabel des Übergangs zwischen Metaphysik und Spur konzipiert, die sich ständig in einer Kette von Aufschüben und Supplementen auflöst. Sie ist nicht Sprache, sondern das Spiel, das die Sprache im Sprechen zulässt und zugleich das Sprechen von der Sprache abhängig macht. Häufig unberücksichtigt bleibt, dass es, zugespitzt gesagt, bei diesem Konzept auch um die Differenz des einen Buchstabens, des Buchstabens "a", geht (von "différence" zu "différance"). Nicht erst seit Habermas' despektierlichen Bemerkungen liegt die Assoziation nahe, hierbei einen Rekurs auf den ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets, das tonlose Aleph, anzunehmen. Erinnert wird damit an die im Abendland als Repräsentation des gesprochenen Wortes in der "unmündigen" Schrift des phonetischen Alphabetes marginalisierte "Ur-Schrift". Zudem hat das Aleph in der Geschichte der jüdischen Mystik als Wurzel der Sprache, die in einer radikalen Auslegungstradition als einzige authentische Offenbarung Gottes verstanden wurde, eine entscheidende Rolle inne. Damit wird auf den Aspekt der "Temporisation", des Aufschiebens eines Erlebnisses in der Zeit als Dissemination der Selbst-Gegenwart des Bewusstseins und als Ursprung der Zeit angespielt: "Différer in diesem Sinne heißt temporisieren, heißt bewußt oder unbewußt auf die zeitliche und verzögernde Vermittlung eines Umweges zu rekurrieren, welcher die Ausführung oder Erfüllung des 'Wunsches' oder 'Willens' suspendiert und sie ebenfalls auf eine Art verwirklicht, die ihre Wirkung aufhebt oder temperiert."

Die Bedeutung der "différance" als Aufschub steht in engem Konnex zu einem weiteren Schlüsselbegriff des 'späten' Derrida, zu dem der Aporie (griech. "Weglosigkeit"). In der klassischen Philosophie die Unlösbarkeit eines logischen Problems aufgrund eines immanenten Widerspruchs, ist 'Aporie' für Derrida in erster Linie 'Un-Logik'. Die zentrale Aporie ist die der Zeit, auf die Aristoteles in "De physica IV" hinweist und dadurch ihre methodische Bedeutung begründet. Derrida hat diesen Aspekt bereits in seinem Artikel "Ousia und gramme. Notiz über eine Fußnote in Heideggers 'Sein und Zeit'" in den "Randgängen der Philosophie" ausführlich diskutiert. Vorausgesetzt, die Zeit sei als eine gleichmäßige Linie zu betrachten, die aus Jetzt-Punkten zusammengesetzt ist, die aber selbst keine Erstreckung haben (sog. Null-Erstreckung), dann ist die Zeit folglich "Nichts", aus nicht bestehenden Teilen zusammengesetzt. "Und von dem Motiv des Nichtbestehens oder des Nichts ist das Motiv des Todes niemals sehr weit entfernt." Diese und andere Aporien bleiben für Derrida unvermeidlich. Sie "verlangen ein Aushalten (endurance) oder sollen wir lieber sagen eine Erfahrung, die nicht in Ablehnung/Widerstand besteht." Derrida kennzeichnet diese Erfahrung als eine "endurance non-passive", die er mit Heideggers Gedanken zur "Gelassenheit" in Verbindung setzt. Letztlich läuft es - besonders in seiner Schrift "Apories. Mourir - s'attendre aux 'limites de la vérité'"(dt. "Aporien. Sterben - Auf die 'Grenzen der Wahrheit' gefaßt sein") darauf hinaus, zu fragen, ob nicht jede Erfahrung eo ipso eine Erfahrung der Aporie ist, da die Aporie aus dem grundsätzlichen Überschreiten einer Grenze besteht. Beim Jetzt-Punkt der Zeit ist dies die Grenze zum unendlich Kleinen, das gegen Null tendiert.

Die nähere Erkundung dieser Erfahrung geschieht in der angesprochenen Schrift "Apories" durch eine genaue Re-Lektüre des § 50 von "Sein und Tod", durch die die Frage verdeutlicht wird: "Ist mein Tod möglich?" Obwohl der eigene Tod nicht erfahrbar ist, jedenfalls nicht als denkbare und artikulierbare Größe, ist er das Eigenste, was man hat, was das eigene Dasein zu einem unverwechselbaren Ganzen macht. Diese unmögliche Erfahrung unterscheidet den Menschen vom Tier; Sterben und Sprechen begründen das Menschsein. Eine solche existentiale Analyse des Sterbens und des Todes, der als Tod erfahren wird, steht nach Heidegger vor aller biologischen, psychologischen oder anthropologischen Erforschung des Todes. Dennoch konfrontiert Derrida diese Analyse mit Philippe Ariès "Geschichte des Todes in der westlichen Welt vom Mittelalter bis heute" und mit der "Anthropologie des Todes" von Louis-Vincent Thomas, um den Tod in seiner aporetischen Radikalität zu entfalten. Es geht um den Tod als Grenzüberschreitung und darüber hinaus auch um die Frage der Begrenzung überhaupt (als politische, systematische oder terminologische Kategorie). Der sichtbar werdende interkulturelle Horizont bleibt jedoch begrenzt auf den Kontext "jüdisch-christlich-islamische Erfahrung des Todes", in die auch Heideggers Analysen eingeschrieben werden.

Hier verbindet sich die Aporie mit der "différance": als Zeiterfahrung des modernen Ich, derzufolge die Gegenwart nicht von einer erinnerten Vergangenheit oder von einer vorweggenommenen Zukunft her erfüllt wird, sondern als Ort der Leere und des Nichts (des Todes) den Punkt der Durchstreichung von Vergangenheit und Zukunft bildet. Auch in seiner mit Geoffrey Benningtons Text "Derridabase" intertextuell verwobenen 'Autobiothanatographie' "Circonfession" (dt. "Jacques Derrida. Ein Portrait von Geoffrey Bennington und Jacques Derrida") ist das Vermögen zu sprechen an die Abwesenheit des Autors gebunden. Der Autor spricht in der Erstarrung der Totenmaske, er trennt sich von sich selbst, und die unpersönliche Anwesenheit seines Namens, der den Sprechenden selbst überragt, erfüllt die Funktion eines Grabsteins, der über der Leere schwebt.

Die unter dem Titel "Points de suspension. Entretiens" (dt. "Auslassungspunkte") erstmalig zusammengestellten Gespräche Derridas aus den Jahren 1976 bis 1991 stehen in enger Korrespondenz zu seinen Texten, deren Zielsetzung, die Autorität des Begrifflichen zu dekonstruieren, sich - wie wir sahen - rhetorisch in der Kultivierung unterschiedlicher Sinnverschleifungen ausprägt. In den "Auslassungspunkten", zwanzig Dialogen, in denen Derridas Antworten die vorausgehenden Fragen der Dekonstruktion unterziehen, entstehen dabei auch Antworten auf ungestellt gebliebene Fragen zu seinen Texten, zu den Schlüsselbegriffen seines Ansatzes, auf Fragen zu Literatur und Philosophie in biographischer Hinsicht. "Mein stärkstes Interesse", antwortet Derrida etwa in Bezug auf Stéphane Mallarmé, "galt zweifellos schon immer dem Bereich, wo das literarische Ereignis die Philosophie durchläuft und sogar überschreitet". Dieses grundsätzliche Interesse nivelliert den Unterschied zwischen der diskursiven Sprache der Philosophie und den flottierenden Zeichen der Poesie, den noch Habermas in einer Reaktion auf die Texte Derridas vehement eingefordert hat. Neben dem Begriff der "différance" ist die Philosophie Heideggers auch hier ein weiterer roter Faden.

Wie schon in "Apories" wird dabei das Denken der Ambiguität auf die grundsätzliche Aporie des Denkens zugespitzt. Auf die Frage, wie er Heideggers Schweigen über Auschwitz deute, stellt Derrida seinerseits die Frage nach der Struktur einer Antwort, die in der bloßen Verurteilung des Schweigens bestünde. In der Verurteilung selbst sieht er vorrangig den "Zwang zum verurteilenden Diskurs, strategische Nutzbarmachung, Eloquenz der Denunziation". Gebe man zu, dass "das Ganze undenkbar" bleibe, dass man "keinen ihm angemessenen Diskurs" besitze, dann sei die Rede darüber mindestens ebenso verwerflich wie das Schweigen. Aber: ist nicht vielmehr jede Aussage, die den Holocaust betrifft, unangemessen? Geht man davon aus, dass es keine 'angemessene' Darstellung gibt, Schweigen aber nicht möglich ist, da ohne Darstellung welcher Art auch immer das Ereignis selbst keine Präsenz mehr hätte, bleibt einzig die unangemessene Darstellung und die Auseinandersetzung mit ihr. Das Umkreisen der Frage, wie (nicht) zu sprechen sei, verleiht den dokumentierten Gesprächen Derridas die von Elisabeth Weber in ihrer Einführung zu dieser Sammlung herausgestrichene "schwebende Offenheit und Unabgeschlossenheit der Auslassungspunkte: die im voraus bedachten Improvisationen werden von Zeiten der Stille interpunktiert, die sie in Atem, in der Bewegung halten. Durch Auslassungspunkte werden Grenzen, Normen, Erwartungen überschritten; ihre Flüchtigkeit hält die Gesprächspartner, aber auch die Leser in einer Schwebe, die Raum für die Antwort des Anderen läßt, für das Versprechen und die Verantwortung des gegebenen Wortes."

Ohne Zweifel wird Derrida nach wie vor einseitig als Parteigänger der Schrift gelesen, obwohl er immer wieder auch mit der Wichtigkeit des gesprochenen Wortes kokettiert. In "La carte postale de Socrate à Freud et au-delà" (dt. "Die Postkarte von Sokrates bis Freud und jenseits") gibt er sich mehrmals den Anschein, "un homme de parole" zu sein, der "verkehrtherum schreibt". So die Karte vom Mai 1979: "Was man nicht sagen kann, soll man vor allem nicht verschweigen, sondern schreiben. Ich, ich bin ein Mann des Sprechens, ich habe niemals etwas zu schreiben gehabt. Wenn ich etwas zu sagen habe, sage ich es oder sage es mir, basta. Du bist die einzige, die begreift, warum es wohl sein mußte, daß ich genau das Gegenteil schreibe, wenn's um Axiomatiken geht, von dem, was ich wünsche, von dem, was ich weiß als meinen Wunsch, anders gesagt, von Dir: das lebendige Wort, die Gegenwart selbst, die Nähe, das Eigene, das Bewahren und so weiter. Ich habe notwendig verkehrtherum geschrieben."

Die von Derrida gebrauchte Metapher des 'verkehrtherum Schreibens' erweckt Assoziationen zu (s)einer sublimen "écriture hebraïque" bzw. "écriture hebraïser". Auch wenn Derrida sich immer wieder eine "Unbildung hinsichtlich des Judentums" zu-schreibt, bewegt er sich ständig in der metaphorischen, rhetorischen und allegorischen Dimension jüdischen Denkens. Zwischen den Zeilen thematisiert Derrida seine Zugehörigkeit zum Judentum und erhebt sie zum Argument: Die Besessenheit, mit der seine Schriften den Resten, den Spuren der Zeugen und des Zeugnis-Gebens, dem aus dem System Ausgeschlossenen nachgehen, markiert den blinden Fleck, um den sein Denken und Schreiben konzentrisch kreist. In Derridas Schriften geht es - so eine hier zur Diskussion gestellte These - letztlich nicht um ein Spiel der Signifikanten, um ein anything goes radikaler Textsemiotik, sondern um das Bekenntnis zur Beschneidung: "Circoncision, Beschneidung, nie habe ich über etwas anderes gesprochen, denken Sie an die Rede über die Grenze, die Ränder, Marken, Stufen usw., die Umfriedung (clôture), den Ring (Bündnis und Gabe), das Opfer, die Schrift des Körpers, den ausgeschlossenen oder ausgestrichenen Pharmakos". Immer handelt es sich bei der fundamentalen Unlesbarkeit der Beschneidung auch um eine "Wunde in der Sprache", die unbarmherzig in jeden Versuch, sich auszudrücken, sich über das Wort zu vollenden, eingegraben ist. In diesem Zusammenhang steht Derridas Judentum in erster Linie für die "Unmöglichkeit des Zu-sich-Kommens" (vgl. hierzu die Rezension von Joachim Valentins Untersuchung zur "Theologie nach Jacques Derrida").

Um es deutlich zu sagen: Derridas Denken wird nicht im Zusammenhang einer 'jüdischen Philosophie' oder gar Religionsphilosophie gebraucht; vielmehr wird die These vertreten, dass bestimmte Motive in Derridas Schriften - selbstverständlich mit nicht ungewichtigen Modifikationen - aus der jüdischen Texttradition entlehnt sind. In dem "Das Beinahe-Nichts des Undarstellbaren" überschriebenen Gespräch aus den "Auslassungspunkten" antwortet Derrida auf die Frage nach dem Einfluss des Talmud: "[...] es ist amüsant zu fragen, wie man von etwas beeinflußt werden kann, das man nicht kennt. Ich schließe das nicht aus. Wenn ich so sehr bedauere, beispielsweise den Talmud nicht zu kennen, so vielleicht aus dem Grund, daß er mich kennt, sich in mir auskennt. Eine Art Unbewußtes nicht wahr?" Joachim Valentin hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Derridas Philosophieren bereits Spuren einer talmudischen Prägung tragen, deren biographische Herkunft jedoch unklar bleiben müssen. Seinen Schriften eingeschrieben ist zweifelsohne - so ließe sich ergänzen - das Datum des jüdischen Exils: das Eigene ist für Derrida nur unter der steten Bedrohung seiner Zerstreuung und Ent-aneignung denkbar. Damit wird die Frage nach dem Namen virulent, die besonders in der jüdischen Tradition als Frage nach dem Namen Gottes gedacht wird. Der offen gehaltene Pluralismus der verschiedenen Lesarten der Thora in jüdischer Tradition, aus dem sich Derridas Konzepte der "dissémination" und "différance" herleiten, verweist nicht nur auf die generelle Unaussprechlichkeit des Namens, sondern zugleich auf die Wahrnehmung des "Anderen". Dass dieser Name unnennbar ist, hat Derrida in früheren Texten, etwa in "Comment ne pas parler. Dénégations" erörtert. Gleichzeitig ist diese Idee Gegenstand des fiktiven Gesprächs in "Sauf le nom" (dt. "Über den Namen. Drei Essays.", vgl. die Besprechung von Rolf Löchel), in dem Derrida den Namen als Schnittpunkt der Singularität einer einzelnen Person und ihrer Zugehörigkeit zu einem Allgemeinen (einer Familie, einem Volk, der Gattung Mensch) benennt.

Im Unterschied zu Derridas primär sprachphilosophisch ausgerichtetem Frühwerk lässt sich vor allem in den Arbeiten der 70er und 80er Jahre die Stringenz einer intertextuellen bzw. seriellen Schreibweise erkennen, die den ästhetischen Erfahrungsbegriff als literarisch-philosophische Verfahrensmethode von den von zweckrationalem und wissenschaftlichem Denken gesetzten Einschränkungen zu befreien versucht. Im Gegensatz hierzu arbeitet Derrida in seinen jüngeren Arbeiten die Diskrepanz zwischen dem künstlerischen und literarischen Gegenstand und der philosophischen Terminologie als einen Schauplatz von heterogenen Sinnmechanismen in der sprachlich beschreibenden Auslegung heraus, die, indem sie den Sinn des Werkes zu erfassen sucht und einem teleologischen Zweck unterordnet, eine grundsätzliche Mehrdeutigkeit im Werk leugnet. Der Sinn des Kunstwerks entzieht sich einem theoretischen Zugriff durch Sprache in dem Augenblick, in dem die sprachliche Auslegung nach einer ganzheitlichen Erfassung des Gegenstands strebt. Vielmehr ist das Werk (im literatur- wie im kunsttheoretischen Zusammenhang) als eine in sich geschlossene Kategorie aufgelöst und in einen unendlichen iterativen Transformationsprozess eingebunden, in dessen offenem Kontinuum sich immer wieder neue Deutungskonfigurationen bilden, die in ihrem Übertreten feststehender historischer, politischer oder sonstiger Aprioritäten unvorhersehbare signifikative Verbindungen und Kristallisationen entweder verfestigen oder auflösen.

Diese grundsätzliche Problematik der Übersetzung einer Sinnordnung in eine andere zeigt, dass es keine eindeutige Übereinstimmung in der Übertragung von Bedeutung geben kann. Die Bewegung des Übersetzens ist stets von einem Überschuss an Sinn oder, gegenteilig, von einem Bedeutungsverlust gekennzeichnet. Derrida geht in seinen Überlegungen immer wieder davon aus, dass ein sprachliches Gewebe, das als ein unauflöslich und permanent sich veränderndes System gedacht wird, sich keineswegs innerhalb einer textualen Einschließung organisieren kann, was bedeutet, dass Sprachen Intertexte sind, die weder Anfang noch Ende haben. Besonders im Zeitalter der Globalisierung bzw. der von Derrida so genannten "mondialisation" richtet sich die Aufmerksamkeit vor allem auf die politische Dimension, die dem Vorgang der Übersetzung innewohnt, nicht zuletzt, da es Übersetzungen gerade mit den kulturellen Differenzen zu tun haben, die politischem Denken mehr oder weniger inhärent sind. So verweist Derrida in seinen jüngeren Schriften immer wieder darauf, dass die Abgrenzung vom "Anderen" zuallererst auf das Eigene verweist, wo wir das Fremde immer schon angeeignet vorfinden. Nicht zuletzt dadurch ist die Kompetenz der tradierten philosophischen Ästhetik bzw. Hermeneutik, die eine vorausgesetzte genuine Bedeutung eines Kunstwerks in ihrem Diskurs sprachlich transparent machen will, nicht mehr ohne weiteres gültig und daher zweifelhaft.

Grundsätzlich hervorzuheben ist in den folgenden literaturkritischen Überlegungen zu einzelnen Schriften neueren Datums, dass Derrida die Frage nach dem Wesen von Kunst und Literatur nicht ausschließlich aus einer philosophischen Perspektive, ebenso wenig exklusiv aus dem Blickwinkel der Soziologie, der Politik oder der Psychoanalyse angeht. Vielmehr wird die Frage nach dem Wesen von Kunst, Literatur, Philosophie und jüdischer Texttradition aus einer interdisziplinären und intertextuellen Perspektive gestellt. Intertextualität ist in diesem Zusammenhang in erster Linie als Intersektionsmechanismus zu verstehen, der alle disziplinären Schranken über das ganze Feld kultureller und politischer Gegebenheiten überschreitet. Derridas Texte zur Kunst und zur Literatur stehen also nicht nur in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Lektüre philosophischer Texte, sondern auch mit seinen Untersuchungen zur Linguistik bzw. zur Theologie, Politik, Soziologie oder den Rechtswissenschaften.

Der hier vorliegende Schwerpunkt will einen ersten Eindruck vermitteln von der Weite des Derridaschen Denkens, das sich zunehmend thematisch ausweitet, vor allem aber in den Texten des letzten Jahrzehnts eine neue Färbung annimmt, zumal sich einige Arbeiten auf scheinbar philosophiefremde Felder wie Kunst, Musik, Photographie, Architektur, Technik und Theologie begeben. Dabei hat Derrida sich nicht nur durch Überschreitung früherer Ansätze nach außen hin, sondern auch und vor allem innerhalb des philosophischen Feldes Denkräume und Einsatzpunkte neu erschlossen, die vor dreißig Jahren kaum absehbar waren. Worauf es Derrida in erster Linie ankommt, und was auch hier herausgearbeitet werden soll, ist, das Paradox auszuhalten, auf immer neuen Wegen die Randzonen zu erkunden, in die man gelangt, wenn man die Metaphysik verlässt und eine neue Position noch nicht erreicht hat. Dekonstruktion oder Poststrukturalismus sind dabei lediglich Metaphern für den fundamentalen Prozess des Unterwegsseins der Sprache und des Denkens. Die Positionen sind und bleiben different, stets anders, stets in Bewegung; als "Randgänge" verlaufen sie über Wege in den analysierten Grenzzonen, in denen auch die "Holzwege" im Sinne Heideggers anzutreffen sind, die dieser wie folgt beschreibt: "Im Holz sind Wege, die meist verwachsen jäh im Unbegangenen aufhören. [...] Jeder verläuft gesondert, aber im selben Wald. [...] Holzmacher und Waldhüter kennen die Wege. Sie wissen, was es heißt, auf einem Holzweg zu sein."

"literaturkritik.de" wird in lockerer Folge auch in den nächsten Ausgaben - neben einigen Arbeiten über Derrida - vor allem die Übersetzungen jüngerer Schriften von Derrida ins Deutsche vor- und vor allem zur Diskussion stellen. Kritische Einwürfe, Gegen-Lektüren und kurze Beiträge zu den Texten Derridas und ihren Besprechungen in diesem Forum sind daher nicht nur geduldet, sondern erwünscht.

Titelbild

Jacques Derrida: Auslassungspunkte. Gespräche.
Herausgegeben von Peter Engelmann. Ausgewählt und eingeleitet von Elisabeth Weber.
Übersetzt aus dem Französischen von Karin Schreiner und Dirk Weissmann.
Passagen Verlag, Wien 1998.
442 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3851652266

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Jacques Derrida: Aporien. Sterben - Auf die "Grenzen der Wahrheit" gefaßt sein.
Übersetzt aus dem Französischen von Michael Wetzel.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
130 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3770531477

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Titelbild

Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie.
Herausgegeben von Peter Engelmann.
Passagen Verlag, Wien 1999.
424 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3851652908

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