Die Welt wird kälter mit jedem Tag

Die neue Ausgabe der "Scheidewege" zieht ernüchternde Bilanz

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf dem Weg ins moderne Informations-Zeitalter gelangt der Reisende an eine Weggabelung. Zur Wahl stehen zwei unterschiedliche Zubringer mit entgegengesetzten Zielen. Unser Mann kann auf die Furien des Fortschritts aufsatteln und sich gefügig im Rad von Innovation, Produktion, Konsum und Lifestyle mitdrehen lassen. Oder er kann innehalten, zurücktreten - und in die entgegengesetzte Richtung abbiegen. Dieser zweite Weg ist beschwerlich und endet in einer Sackgasse. Wer ihn trotzdem beschreitet, tut dies wohl in dem Bewusstsein, dass uns etwas unwiederbringlich verloren und in Scherben gegangen und es für eine Umkehr eigentlich schon zu spät ist. Verlustrechungen der letztgenannten Art stellt hierzulande vornehmlich die Jahresschrift "Scheidewege" auf, auch wenn es unter ihren Beiträgern nicht an Stimmen mangelt, die sich der (politischen) Verbesserung der bestehenden Verhältnisse verschrieben haben.

Das Verhältnis zwischen Bewegung und Ruhe, Beschleunigung und Retardierung, Innovation und Tradition, Verausgabung und Erholung, Wunsch und Verzicht, befindet Thomas Fuchs in seinem Beitrag zur psychiatrischen Gesellschaftsdeutung ("Der manische Mensch"), ist aus dem Gleichgewicht geraten. Und er benennt die Symptome: Expansivität, Beschleunigung, Flüchtigkeit, Distanz- und Respektverlust, Ressourcenerschöpfung, Maßlosigkeit. Das eigentliche Leben ist immer anderswo, aber in dem Maße, in dem Wünsche und Ansprüche sich vervielfältigen, sinkt auch die Befriedigung über das Erreichte. Dass der Autor diese Diagnose möglicherweise schon in das Krankenblatt eines hoffnungslosen Falles hineindiktiert, davon zeugt in den "Scheidewegen" manches. Viele dieser Artikel durchwebt ein gemeinsamer Subtext, der eine Erinnerung an ein besseres Früher festhält, sprachlich wie thematisch. Man greife nur einen Satz Gernot Böhmes heraus: "Bäume muten uns an."

Nicht von ungefähr widmet sich ein guter Teil der Beiträge des vorliegenden Bandes den Themen Natur und Ökologie. Auch hier spielt der Faktor Zeit eine nicht zu unterschätzende Rolle. So erörtert Helmut Schreiers Aufsatz "Die befremdliche Nähe von Bäumen" nicht nur die Möglichkeit der Begegnung und der Ansprache eines "Anderen", sondern schildert auch ein Generationenproblem. Vielen seiner Studenten, berichtet Schreier, falle es schwer, die Linden und Robinien auf dem Campus der Hamburger Universität zu identifizieren. Und möglicherweise wird die Natur eine derartige Vergesslichkeit einst mit einer einzigen, großartigen Geste quittieren. "Es genügte", schreibt Godela Unseld in ihrem Artikel über das zum 'Adventure' heruntergekommene Erleben unberührter Natur, "daß die Erde wieder einmal das magnetische Feld ein wenig nur nach dahin oder dorthin verschöbe, und die Menschen mit all ihrer Macht werden fortgewischt". Um die Zukunft der Wildnis müssen wir uns - so oder so - keine Sorgen machen.

Fortschrittsskepsis, so scheint es, macht nur dort Sinn, wo sie aufs Ganze zielt. Natürlich trägt dies dem skeptischen Denker gerade in Fällen, wo dieser seinen Blick nicht nach vorne, sondern zurück richtet, sogleich den Vorwurf eines uneingestandenen Regressionswunsches ein. So könnte man einen Verächter des elektronischen Datenverkehrs darauf hinweisen, dass es nur auf den sinnvollen Gebrauch von kulturellen Errungenschaften ankomme. Wenn im Übergang von der Schreibmaschine zum PC das Unheil lauert, dann muss sich die Anschaffung des Füllhalters, der Stahlfeder, des Gänsekiels, der Rohrfeder oder die Erfindung von Hammer und Meißel nicht minder verhängnisvoll ausgewirkt haben. Andererseits ist die Eigendynamik von Kultur, Technik und Zivilisation kein Wert an sich, sondern fordert zu Auseinandersetzung und Widerspruch heraus.

In der Tat gibt es Jahrgänge, ältere zumeist, auf die die Wehmut und Trauer über das Verlorene wie ein Durchlauferhitzer wirkt. Dann nämlich, wenn Gegenwart und Vergangenheit so radikal auseinander treten, dass die Differenz als Verlust erfahren und analysiert wird. (Woran sich freilich die Frage knüpft, ob ähnliche Defizienzerfahrungen einst auch unsere Kinder und Kindeskinder heimsuchen werden. Und ob sie in der Lage sein werden, die subjektiv erlittene Unbill objektiv in Gestalt eines Prozesses zunehmender Verschlechterung zu beschreiben.)

Den genannten Typus repräsentiert wohl am ehesten der Gartenphilosoph Jürgen Dahl, der die "Scheidewege" nicht nur als Redakteur, sondern auch als ständiger Beiträger seit Jahrzehnten begleitet. Die folgende Titelauswahl aus älteren Ausgaben spricht für sich: "'Neue Mathematik' und 'altes Rechnen'", "Wachstumsstörungen in der Heilindustrie", "Der Himmel hängt voller Sonden", "Der unbegreifliche Garten und seine Verwüstung", "Annäherungen an den Salbei", "Genetik als Wahrsagekunst", "Zwölfzylinder, schadstoffarm", "Zeit des Gärtners", "Woran dürfen wir sterben?", "Einiges über die Eiche". 'Il faut cultiver son jardin', folgert Voltaires Candide aus dem weltumgreifenden Unglück, man muss nur seinen eigenen Garten bestellen. Damit will sich Dahl aber offenbar nicht bescheiden. Seine Beiträge lassen kaum eine Verfehlung unserer modernen Zivilisation ungesühnt. Sie sind beredte Zeugnisse eines ebenso besonnenen wie ausdauernden Dagegenreden-Wollens.

Die Hoffnung schwindet, der Widerspruchsgeist ist unsterblich. Im nunmehr 30. Jahrgang befassen sich Dahls Fußnoten mit dem Reise(un)wesen und dem Neuen Markt. War früher der Erfolg der geglückten Ankunft durch die Strapazen des Weges erarbeitet und erlebte man die Passage selbst als "dramatische[n] Vorgang einer bedeutenden Ortsveränderung", so wird man heute mit unerhörten Geschwindigkeiten von einem Ort zum anderen katapultiert. Mehr noch: "Dem paradoxen Bestreben, die Reise selbst möglichst schnell zu absolvieren, entspricht am Ziel der Wunsch, möglichst nicht zu merken, daß man anderswo ist." Reisen verschandelt die Welt, denn schon immer wurde zerstört, was sich uns in den Weg stellte. Als philosophische Kronzeugen der durch solche Einsichten genährten Reiseunlust wusste Dahls angeheirateter Onkel Heinrich Kant und Pascal zu nennen, auf Gegensätzliches stößt man vor allem bei Rousseau.

Wie sehr wir durch Gewöhnungsprozesse an unser fortschrittstrunkenes Leben gekettet sind, verrät auch Dahls Kritik an Spekulationsgeschäften: "Die Luft ist erfüllt von Krankheitskeimen und die Krankheiten heißen Gier, Rücksichtslosigkeit, Unbedenklichkeit, Agressivität, Brutalität. Das Geldwesen infiziert die Menschen." - Sätze, die zwar nicht aus einer anderen Welt, aber aus einer Vergangenheit zu stammen scheinen, die sich den Blick für das Befremdliche und Schauderhafte der modernen Welt bewahrt hat. Dahls Texte sind 'antimodern' im guten Sinne des Wortes, sie vermögen dem Leser Türen aufzustoßen, von deren Existenz er nichts ahnte. Möglicherweise wird auf diese Weise gar Verschüttetes reaktiviert und ans Licht gebracht. Schon aus diesem Grund verdienen die "Scheidewege" eine eindringliche Empfehlung.

Titelbild

Max-Himmelheber-Stiftung: Scheidewege. Jahresschrift für skeptisches Denken. 30. Jahrgang 2000/2001.
Max-Himmelheber-Stiftung, Baiersbronn 2000.
390 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3925158162

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