Nietzsche und Weimar

Ein klassisches Missverständnis oder der Wille zur Fälschung

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die literarische Welt feiert ihre Feste wie sie fallen, egal, ob Geburts- oder Todestage. Gerade bei Jubiläen ihrer großen Namen wird dies erschreckend deutlich. Im Jahr 2000 erschienen folgerichtig pünktlich zum 100. Todestag Friedrich Nietzsches in sintflutartiger Menge Publikationen von zweifelhafter Notwendigkeit und Qualität.

Wie verhält es sich mit Eberhard Naakes "Nietzsche und Weimar"?

Hier wird ein Thema aufgegriffen, das vor allem in der populären Auseinandersetzung mit dem am 25. August 1900 in Weimar verstorbenen Philosophen und Dichter immer wieder zu Missverständnissen geführt hat und noch immer führt - die Nietzsche-Rezeption im 20. Jahrhundert, inklusive der während des Faschismus und im Sozialismus ostdeutscher Prägung.

So muss auch der Titel verstanden werden, denn was dem Leser geboten wird, ist kein Abriss der Biographie Nietzsches zu dessen Weimarer Zeit, sondern eher eine Monographie über die berühmte Villa Silberblick in Weimar, das Nietzsche-Archiv also, das einen gewichtigen Einfluss auf das Nietzsche-Bild seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hatte. Aus dem Leben Nietzsches in Weimar gibt es ohnehin nicht viel zu berichten, kam der kranke Autor doch erst drei Jahre vor seinem Tod in die Metropole der deutschen Klassik, acht Jahre nachdem sich der Wahnsinn seiner bemächtigt hatte. Er wurde von Mutter und Schwester gepflegt und führte nur noch ein jämmerliches, dahindämmerndes Leben. Der Kürze seines Aufenthaltes und der gesundheitlichen Umstände zum Trotz gewann Weimar die wohl nachhaltigste Bedeutung für das Nietzsche-Bild gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, da vom dort ansässigen Nietzsche-Archiv die Rezeption des Denkers gezielt gelenkt wurde. So kommt es auch, dass Nietzsches Schwester Elisabeth in Naakes Buch mehr Platz einnimmt als der Philosoph selbst. Schließlich hat sie "mit ihrer Autorität und mit einer entsprechenden Tätigkeit ihres Archivs mit dazu beigetragen, daß sich die faschistischen bzw. nationalsozialistischen Ideologen und Politiker scheinbar zu Recht auf Nietzsche berufen konnten."

Naake informiert über die Entstehung des Nietzsche-Mythos, die mit der Manipulation seiner nachgelassenen Texte einherging. Dafür zeichnete vor allem Elisabeth Förster-Nietzsche verantwortlich, die sich mit Vorliebe als uneigennützige, treu sorgende Schwester inszenierte. Auf ihr Wirken, zweifellos inspiriert von deutschnationalen Interessen, geht es zurück, dass Nietzsche ein angebliches Hauptwerk, "Der Wille zur Macht", untergeschoben wurde, die fragwürdige Zusammenstellung verschiedener Texte aus dem Nachlass. Die Fälschung der Schriften zeitigte fatale Folgen: Nietzsche erschien als Vordenker des Nationalsozialismus. Aufgrund dieser fehlgeleiteten Rezeption war der Philosoph nach 1945 in der DDR eine Persona non grata.

Naakes Studie beginnt mit einer Übersicht über das Leben und die Werke, die der Weimarer Zeit vorausliegen; sie bietet in vier zentralen Kapiteln eine Fülle von Informationen über das Nietzsche-Archiv in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg, den Jahren der Weimarer Republik, zur Zeit des Nationalsozialismus und zur Nietzsche-Rezeption in der DDR.

Außerdem bietet das Buch einen 13-seitigen Fototeil und vor allem auf fünfzig Seiten ausgewählte Dokumente, die es dem Leser ermöglichen sollen, sich selbst eine Meinung zu diesem komplexen Thema zu bilden. Leider erscheint die Auswahl der Dokumente konzeptionslos, denn dass Titelblätter von Nietzsches Schriften aus der Vorweimarer Zeit abgedruckt werden, ist weder originell noch für diese Zeit seiner Werkgeschichte aufschlussreich.

Die Verfälschung und Funktionalisierung zentraler gedanklicher Topoi Nietzsches wird hingegen anschaulich nachvollzogen, obwohl Naake eingestehen muss, zwar ein guter Kenner des Nietzsche-Archivs, nicht jedoch Nietzsches selbst zu sein. Dies ist zum einen einfach schade, zum anderen fatal, da er - genau wie die von ihm kritisierten "Forscher" - Nietzsches Schriften synkretistisch auswertet, um sein eigenes Nietzsche-Bild zu stützen und ohne zu erwähnen, dass sich ebenso leicht Belege für das Gegenteil finden ließen. Dass gerade diese Widersprüchlichkeit der Nietzsche-Schriften eine faschistische Lesart begünstigt, ist offenbar.

Naake stellt vor allem den philologischen Skandal der Arbeit des Archivs dar. Der philosophische Skandal der nationalsozialistischen Nietzsche-Exegese hingegen wird in keiner Weise befriedigend aufgearbeitet. So kann der Autor auch die Frage, ob Nietzsche "ein Wegbereiter des Nationalsozialismus" gewesen sei, nicht weiter beantworten helfen. Naake scheint selbst zu sehr der Faszination Nietzsches erlegen zu sein, um Erörterungen über die Zulässigkeit einer faschistischen Lesart überhaupt in Erwägung zu ziehen. Er sieht in Nietzsche nur den Europäer, den Antisozialisten und Gegner des Antisemitismus. So bleibt es bei dem vereinfachenden Gegensatz deutsch-nationales vs. europäisches Nietzsche-Bild.

Sehr gelungen dagegen ist die Aufarbeitung der Entstehung eines Nietzsche-Kultes in Weimar und der Annäherung von NSdAP und Nietzsche-Archiv. Gleiches gilt für die Offenlegung der Verbindungslinien zwischen Archiv und dem deutschen und dem italienischen Faschismus.

Freilich: die Möglichkeit einer faschistischen Nietzsche-Deutung scheint in der Darstellung Naakes allein auf das Wirken Elisabeths zurückzugehen und nicht auch in den Texten selbst eine Fundierung zu finden. Dadurch verhindert der Autor, dass sein sehr ambitioniertes Buch ein wirklich differenziertes ist.

Titelbild

Erhard Naake: Nietzsche und Weimar. Werk und Wirkung im 20 Jahrhundert.
Böhlau Verlag, Köln/ Weimar/ Wien 2000.
246 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3412132993

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