Von Mark Aurelius bis Alphons Silbermann

Einzelne Stationen jüdischen Lebens

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Jahreszahlen grenzen den Band ein: das Jahr 212 und das Jahr 2000. 212 gewährte der römische Kaiser Aurelius allen jüdischen Bewohnern seines Reiches das Bürgerrecht. Im Jahr 2000 wurde der jüdische Soziologe Alphons Silbermann zu Grabe getragen.

In diesem Zeitraum entwickelte sich das vormoderne Judentum und kamen die gesellschaftlichen Umwälzungen der Aufklärung, mit denen sich auch das jüdische Leben wandelte. Es folgten Emanzipation und Integration mit antisemitischen Begleiterscheinungen, im 20. Jahrhundert Verfolgung und Ermordung der Juden im Dritten Reich und schließlich ein, wenn auch zunächst noch zaghafter, Neubeginn jüdischen Lebens in Deutschland. Insgesamt dreizehn Beiträge behandeln die Themenbereiche "Vor der Aufklärung", "Deutschjudentum - deutsche Juden - Zionisten" und "Erbschaft der Nachgeborenen". Zunächst befasst sich Christine Magin mit dem Judenrecht vom Codex Theodosianus bis zu den Anfängen der Emanzipation, dann folgt Carsten Wilke mit "Jüdische Kultur vor der Aufklärung", wobei er vor allem auf die Situation der jüdischen Gemeinschaft am Vorabend des einsetzenden Modernisierungsprozesses im Mitteleuropa des 16. bis 18. Jahrhunderts eingeht.

Im zweiten Teil stellt Daniel Krochmalnik jüdische Bildungskonzepte vor, von Moses Mendelssohn und David Friedländer bis hin zu Samson Raphael Hirsch und Franz Rosenzweig. Jüdisches Leben in Preußen zwischen Aufklärung und Restauration schildert Stefi Jersch-Wenzel. Man erfährt, dass sich Philosophen, Literaten, Sprachwissenschaftler und Journalisten unter den jüdischen Aufklärern ihr Wissen autodidaktisch aneignen mussten, während das Medizinstudium an einigen protestantischen Universitäten in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert jüdischen Studenten offen stand. Anfangs verfolgten die nichtjüdischen Aufklärer das Ziel, aus unterdrückten Juden durch Erziehung glückliche Menschen und nützliche Mitglieder der Gesellschaft zu machen. Aber dann erklärten Philosophen - allen voran Johann Gottlieb Fichte - die gesamte in Deutschland lebende Judenheit zu einem feindseligen "Staat im Staate" und erteilten den erzieherischen Zielsetzungen der Aufklärung eine klare Absage, die allerdings vorerst noch ohne Wirkung blieb.

Doch unter dem Einfluss des Staats- und Gesellschaftstheoretikers Adam Müller sowie den Dichtern Achim von Arnim und Clemens Brentano gewann antijüdische Polemik erneut die Oberhand. Später setzte sich sogar die Tendenz durch, die als unabänderlich fremd deklarierten und auch so empfundenen Juden wieder auszugrenzen.

George L. Mosse beleuchtet in seinem Beitrag, der bereits 1986 im Band "Das deutsche Judentum und der Liberalismus" erschien, die enge Verbindung zwischen den Juden und dem Liberalismus. Diese sei dort am fruchtbarsten gewesen, wo sie am verwundbarsten war: in ihrer Intellektualität und in ihrer realitätsfernen Zeitlosigkeit. Durch ihre Betonung des Individuellen und der Einheit der gesamten Menschheit hat sie, laut Mosse, einen wichtigen Teil zur Erhaltung der Werte der Aufklärung beigetragen. Das Auseinanderreißen von Theorie und Praxis um 1933 habe das Überleben dieses Erbes ermöglicht: "Von diesem Standpunkt aus betrachtet, hat die jüdisch-liberale Allianz ihren Kritikern getrotzt und sich gerechtfertigt."

Hans Erler schreibt unter dem Titel "Judentum und Sozialdemokratie" über Moses Hess, Karl Marx, Ferdinand Lassalle und Eduard Bernstein, die alle vier die Sozialdemokratie mit geprägt und zur Erfolgsgeschichte des politischen Judentums im 19. Jahrhundert beigetragen haben, während Ludger Heid die Kultur der osteuropäischen Juden in der Weimarer Republik unter die Lupe nimmt. So misstrauisch Ostjuden von der übrigen Bevölkerung zunächst betrachtet und erst spät von "deutschen Juden" zur Kenntnis genommen wurden, so entwickelten sie sich dann doch zu einem wichtigen Faktor im jüdischen Leben in Deutschland. Juliane Wetzel skizziert die Auswirkungen der Nürnberger Gesetze auf das Verhältnis von Bürgern jüdischer und nichtjüdischer Herkunft in Deutschland und Moshe Zuckermann beleuchtet die Widersprüche in der Ideologie des politischen Zionismus.

Im dritten, dem zweifellos interessantesten und aktuellsten Teil, macht Ernst Ludwig Ehrlich in seinem Beitrag "Umgang mit den Juden im Religionsunterricht" deutlich, dass der Antijudaismus bereits im Vorfeld viele Menschen gegenüber dem Hass der Nazis unsensibel gemacht habe. Das wirke sich bis in unsere Zeit aus. Heute habe die kirchliche Lehre und Verkündigung von zwei Einsichten auszugehen: die Christen verdankten ihre religiöse Existenz dem Judentum, und das Verhältnis zueinander sei durch eine fast zweitausendjährige Geschichte christlicher Schuld an den Juden belastet. Besondere Aufmerksamkeit schenkt der Verfasser dem kirchlichen Sprachgebrauch. Die Geschichte habe gezeigt, dass der verbale Antisemitismus einer Generation schon in der nächsten zu konkreten, für Juden lebensgefährlichen Konsequenzen führen könne. Ehrlich plädiert deshalb für eine Revision der christlichen Sprache. "Als besondere Crux der Hermeneutik gilt die im Johannes-Evangelium verbreitete Kollektivbezeichnung die Juden. Wie kann man damit umgehen, ohne laufend neue antijüdische Ressentiments zu wecken?"

In "Deutsche Identitäten vor und nach dem Holocaust" nimmt Hanno Loewy noch einmal Bezug auf die problematische Errichtung eines Holocaust-Mahnmals in Berlin. Die deutsche Gesellschaft und ihre Beziehung zur jüdischen Welt, einer Welt, die sie auszulöschen versuchte, werde auch mit einem Denkmal nicht zu normalisieren sein.

Wie steht es heute mit dem Verhältnis nichtjüdischer Deutscher zu Juden, fragt Salomon Korn. Er betont, erst wenn Juden im kollektiven Gedächtnis der Deutschen die Funktion verloren hätten, "das gänzlich Andere" sein zu müssen und es tendenziell gleichgültig sei, ob Juden in der gesellschaftlichen Mehrheit aufgehen oder bewusst religiöse Minderheit bleiben wollten, erst dann könne vom Beginn einer wie immer gearteten pragmatischen Normalität die Rede sein.

Der mit vielen Anmerkungen versehene Band (auf ein Register wurde leider verzichtet) wirkt insgesamt etwas uneinheitlich. Es wird viel zitiert und häufig auf andere Autoren und Bücher Bezug genommen. Wer mit dem Judentum, seiner Geschichte und seinen Themen wohl vertraut ist, dem bleiben Déjà-vu-Erlebnisse nicht erspart. In einigen Beiträgen ist die Sprache holprig, sperrig und unanschaulich, an einer Stelle taucht (wohlgemerkt nicht im Zitat) sogar der verpönte verräterische und diffamierende Singular "der Jude" auf.

Den Abschluss bildet die Rede von Julius H. Schoeps beim Begräbnis von Alphons Silbermann.

Titelbild

Hans Erler / Ernst Ludwig Ehrlich (Hg.): Jüdisches Leben und jüdische Kultur in Deutschland. Geschichte, Zerstörung und schwieriger Neubeginn.
Campus Verlag, Frankfurt a. M./ New York 2000.
269 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3593366258

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