Familienbande und der Zahn der Zeit

William Gay über die 'good old times' im Süden der USA

Von Doris BetzlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Betzl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Flut von Adjektiven und Vergleichen bricht über den herein, der die ersten der 360 Seiten des Romans anliest. Bilder werden erschaffen von Baumwollarbeitern, die langsam zusammen mit ihrem Haus zerfallen, von üppiger Natur, die, zum Leben erwacht, ihr gespenstisches Unwesen mit den Menschen treibt, und von allem, was sonst noch in den ländlichen Süden der USA gehört: "Boyd wandte sich um. Ein blauweißer Streifenwagen schlich neben ihm her, das Fahrerfenster war heruntergekurbelt, ein fleischiges, rotes Gesicht spähte hervor. Backen wie eine Bulldogge. Bullenaugen, hart wie Achatsplitter unter dem Schlag eines Hammers." So muss man sich einen anständigen Streifenpolizisten im Tennessee der 50er Jahre wohl vorstellen, aber die Sache mit dem Achatsplitter erinnert doch arg an das verbale Muskelspiel eines Stephen King.

Doch gruselig sind die "Provinzen der Nacht" nicht. Zunächst hat sich der Leser mit den wechselnden Namen und ihren Trägern sowie laufenden, unvermuteten Schauplatzwechseln anzufreunden. Nach einiger Zeit findet man sich ein in die Familiensaga aus dem Süden - mit treulosen Männern, lüsternen Ehefrauen, dem Familienirren, ein bisschen Voodoo sowie dem Sonderling, der Bücher liest. Dann gibt es natürlich auch den Lehrer, der sich als Einziger um den Bücherwurm kümmert sowie den alten Mann, der nach 20 Jahren mit vom Whiskey zerstörten Magen zu seiner Familie zurückkehrt. Und mit der Zeit vergisst der Erzähler seine Vergleiche. Oder gewöhnt man sich einfach nur an diese Sprache? Seite um Seite verfliegt, und dem zweiten folgt das dritte Buch und es kommt, wie es kommen muss. Dem alten Mann widerfährt sein gerechtes Schicksal und der hübsche junge Sonderling...

William Gay tischt uns hier eine Südstaaten-Geschichte auf, die nicht wirklich neu wirkt - John Grisham-Stil ohne Thriller-Ambitionen. Des Autors Vorbilder zeichnen sich relativ deutlich ab. Ein Schmöker ist der Roman jedoch allemal - schon aufgrund seiner Seitenzahl. Er eignet sich bestens für ein verregnetes Wochenende oder eine längere Zugfahrt. Neben amüsanten Szenen vom Kampf Mann gegen Schwein oder vom Himmel fallenden Klapperschlangen sorgt der Hang des Erzählers zum überdeutlichen Zeigen für Kurzweil: "Hier in diesen Mauern war die Zeit ohne Bedeutung. Die Wände waren mit Kalendern geschmückt, doch sie hatten Jahre gemessen, die schon dem Vergessen anheim gefallen waren, fünf Jahre, zehn Jahre alt. Das Haus war voller Uhren, doch einige waren stehen geblieben, und von denen, die noch liefen, zeigten keine zwei die gleiche Zeit an. [...] Hier spielte Zeit keine Rolle. Hier galten andere Regeln aus einem anderen Jahrhundert." Das dürfte spätestens an diesem Punkt jedem Leser deutlich geworden sein - "Early Times" heißt denn auch der Lieblingswhiskey des alten Mannes. Dies jedoch wollen wir nicht bestreiten: sein Handwerk, das Erzählen von den 'good old hard times' beherrscht William Gay souverän. Der Stoff bietet sich geradezu an, um daraus einen abendfüllenden Film im Stilmix von "Die Verurteilten" und "Die Farbe Lila" zu fabrizieren.

Titelbild

William Gay: Provinzen der Nacht. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Susanne Goga-Klinkenberg.
Argon Verlag, Berlin 2001.
360 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3870245263

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch