Eine Landkarte der Grauzone

Gehirn und Denken. Ein Lesebuch zur "Kosmos im Kopf”-Ausstellung

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im vergangenen Jahr konzipierten Via Lewandowsky und Durs Grünbein für das Dresdener Hygiene-Museum eine Ausstellung über das menschliche Gehirn. Es war für beide nicht die erste Zusammenarbeit, die dieses Thema betrifft. 1988 veröffentlichten sie privat das Kunstbuch "Gettohochzeit", das die Lyrik Grünbeins mit anatomischen Zeichnungen und Collagen Lewandowskys vereinte; eine Reihe gemeinsamer Performances, etwa "Hirsche sagen ab" oder "Deutsche Gründlichkeit", schloss sich an. 1991 entwarfen sie die Text-Bild-Installation "Globale Läsion" für die Ausstellung "Bemerke den Unterschied", die die Kunsthalle Nürnberg präsentierte, und im Deutschen Museum in Bonn war schließlich sieben Jahre später ihr Werk "Des Künstlers Hirn (Art & Brain II)" zu sehen.

Am Ende des Jahrzehnts, das vom US-amerikanischen Kongress als "Decade of the Brain" bezeichnet wurde, gibt "Kosmos im Kopf" nun andeutungsweise einen Überblick über die ausgeloteten Hirnlandschaften in einer fruchtbaren Gegenüberstellung von Wissenschaft und Kunst. In der Begegnung von "Art and Science", die sich, wie Lewandowsky in den Präliminarien schreibt, "heute so unversöhnlich gegenüberstehen wie noch nie", und die sich doch gleichzeitig näher sind als je zuvor aufgrund einer Gemeinsamkeit, der Entfernung vom gesunden Menschenverstand - im Aufeinandertreffen dieser Parallelwelten vertraut sich die Kunst der Wissenschaft "wie einem Bergführer" an; "sie wagt sich hier in Regionen vor, in denen sie ganz offenbar unkundig ist. Allerdings: Je unübersichtlicher das Gelände wird, umso größer der Enthusiasmus, der konstruktive Appetit, das Verlangen, die Wissenschaftskonzepte mit den Mitteln der Kunst zu ersteigen." Um in das unübersichtliche Gelände vorzurücken, müssen jedoch zunächst die Grenzen des bislang Erforschten kartographiert werden. Das Lesebuch verfolgt dieses Ziel, geht aber auch stets einen Schritt weiter. In 18 Essays kommen Mediziner, Psychologen, Philosophen und Künstler zu Wort. Sie alle beschäftigen sich mit Problemen der Hirnforschung, wobei sie stets eine Einführung in ihr Spezialgebiet bieten, bevor sie sich den diffizileren Hypothesen, den Grenzfällen der Forschung widmen. Ernst Pöppel etwa schlägt den Bogen von der Erkenntnis, dass die subjektive Gegenwart des Menschen im Gehirn etwa drei Sekunden dauert, sogleich zurück zur Dichtung, die die Sprache in Intervalle von drei Sekunden segmentiert. Eine gesprochene Verszeile ohne Zäsur ist in allen bisher untersuchten Sprachen nie länger als drei Sekunden, so dass man schlussfolgern kann, dass die Funktionsweise des Gehirns in dieser Form eine natürliche Rahmenbedingung für jede Kunst erschafft.

Des Weiteren ergibt sich das Zusammentreffen von Kunst und Wissenschaft allein durch den metaphorischen Überbau. Wenn Neurophysiologen für das Gehirn ein Kammer- oder ein Netzwerkmodell entwerfen, greifen Grünbein und Lewandowsky diese Begriffe erneut auf, indem sie sie zurückversetzen auf eine metaphorische Ebene, die das gesamte Lesebuch (wie auch die Ausstellung) in Kapitel oder Räume gliedert. Im Wohnzimmer geht Antonio R. Damasio beispielsweise Fragen nach Gefühl und Bewusstsein nach, im Uhrenladen erörtert Marc Wittmann das Erleben von Zeit, und im Archiv - dies scheint so nahe zu liegen und ist doch bereits eine folgenreiche Interpretation und Einschränkung - beschäftigt sich Douwe Draaisma mit dem Gedächtnis bzw. mit den verschiedenen Gedächtnismetaphern (wie z. B. Freuds "Wunderblock") und deren Implikationen. Der explizite Beitrag der Kunst beschränkt sich währenddessen neben zwei Texten Grünbeins und einigen Werken Lewandowskys auf die Abbildungen der Ausstellungsräume und deren Inventarisierung. Es wird dadurch allenfalls ein Eindruck vermittelt, der zum Besuch des Museums selbst anregt. Die Neugier freilich sei geweckt, nicht allein auf interessante Raum-Installationen von Wissenschaft und Kunst, auch bei der Lektüre kann man sich auf die Suche nach Schnittstellen begeben.

Titelbild

Via Lewandowsky / Durs Grünbein: Gehirn und Denken. Kosmos im Kopf.
Herausgegeben vom Deutschen Hygiene-Museum.
Hatje Cantz Verlag, Ostfilden-Ruit 2000.
226 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 377570938X

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