Aufgegossene Elementarteilchen

Michel Houellebecqs Erzählung "Lanzarote"

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein literarisches wie verlegerisches Ereignis wird angekündigt: Die neue, knapp 80-seitige Erzählung des Erfolgsschriftstellers Michel Houellebecq erscheint in Frankreich und Deutschland zugleich, anbei ein Bildband, in dem der Autor selbst die vulkanischen Landschaften und einige Kakteen Lanzarotes festgehalten hat; die Bände werden weihevoll in einer modernen Schmuckkassette geliefert, für Liebhaber, Leser, Angeber?

Die Erzählung ist sicherlich zuerst ins Auge zu fassen: Einen mittelmäßig verdienenden Ich-Erzähler, der unverhohlen Houellebecqs Züge trägt, verschlägt es eher versehentlich auf die Urlaubsinsel Lanzarote. Eigentlich hatte er nur dem drohenden Weihnachtsfest entfliehen wollen, weshalb er auf dem Heimweg ins nächstbeste Reisebüro ging. Doch was will dieser seltsame Mensch wirklich, dem auf die Frage der Reisebüroangestellten, ob sie ihm irgendwie helfen könne, sogleich einfällt, dass ihm ja niemand helfen könne? "Ich wollte nur noch nach Hause, dort die Kataloge der Ferienclubs durchblättern und mir dabei die Eier kraulen", denkt er und zieht den "geschätzten Leser" persönlich ins Vertrauen. Und nachdem nun klar geworden ist, dass er ein hoffnungsloser Fall ist, der nur von Krise zu Krise eilt, das Reisen also tunlichst ganz lassen könnte, sagt er, da er nun einmal in ein Gespräch verwickelt wurde - das trostlose Weihnachten ist längst vergessen -, dass er im Januar gern in Urlaub führe. Die ihm angebotenen Ziele sagen ihm zuerst nicht zu, vor allem islamische Länder mag er nicht wegen der "lächerlichen" Religion, obwohl er doch mal eine Libanesin in einem Sexclub kennen gelernt hatte; "superscharf, schön weiche Muschi, große Brüste außerdem". Angesichts dieser und ähnlicher Gedanken verwundert es dann schon, dass der Erzähler der Angestellten auf das Angebot Senegal erstaunlich offen antwortet, er habe gar keine Lust zu vögeln.

Schließlich auf Lanzarote angekommen, verblüfft der Erzähler seine geschätzten Leser mit Reiseführerwissen en masse. Nebenbei lernt er den belgischen Polizisten Rudi sowie die Lesbierinnen Barbara und Pam aus Deutschland kennen, mit denen er die Insel zu erkunden gedenkt. Den Belgier erkennt man übrigens an seinem "belgisch wirkenden Äußeren", während er fasziniert phallusartige Kakteen betrachtet; Barbara, konstatiert er beiläufig, "you have very nice breasts". Tragisch ist nur, dass der offensichtlich depressive Rudi nicht sofort mitmacht, wenn sich der Erzähler mit Pam und Barbara am Strand vergnügt, ohne viele Worte zu verlieren. Für den Erzähler wird der Urlaub paradiesisch, mit Kondom darf später auch penetriert werden, und nach "einem kurzen, hellen Schrei" kann er glücklich im Beistellbett einschlafen, "während Pam und Barbara im großen Bett einander weiter umarmten und leckten." Das einzige Problem stellt Rudi dar, der seine Heimat hasst und aufgrund einer schmerzlichen Erfahrung mit seiner ehemaligen Frau sein Leben nun anders zu führen beabsichtigt. Dass dabei eine merkwürdige Sekte eine Rolle spielen wird, die zudem noch in den Verdacht gerät, systematisch Kindesmissbrauch zu begehen, wage ich kaum zu erwähnen.

Dies alles, Houellebecq-Kenner werden es längst bemerkt haben, hat man in seinen Romanen bereits in aller Ausführlichkeit in nur leichten Abwandlungen gelesen. Die Charaktere aus "Lanzarote" scheinen Variationen aus den Figuren der "Ausweitung der Kampfzone" und der "Elementarteilchen"; die dargestellte Handlung wirkt gar wie ein Surrogat dieser beiden Werke. Schlimmer noch ist freilich, dass in diesen Romanen aufgrund der komplexeren Struktur, der ausgefeilteren Thesen und des feiner gezeichneten Personals Houellebecqs Stärken zum Vorschein kamen, derer er in der kurzen Erzählung nahezu vollkommen verlustig geht. Da bleibt nur noch ein launisch-melancholisches Ich zurück, das unentwegt über das Böse in der Welt spricht und sein Glück in freier und selbstloser Sexualität findet; dies sei jedem belassen, das Lesevergnügen ist aber eher gemindert. Die gesellschaftliche Brisanz, die Houellebecqs Thesen zu Sexualität und zeitgenössischer Biogenetik in den "Elementarteilchen" noch innewohnte, verliert sich in "Lanzarote" in oberflächlichen Behauptungen und einfachsten Handlungsmustern. Die Erörterungen über das Wesen des Touristen etwa - der Deutsche, der Engländer, der Norweger - kennt man erstens zum Teil aus den Essays "Die Welt als Supermarkt", und zweitens sind sie von kaum ergreifenderer Komik als die ewig gleich bleibenden Nörgeleien deutscher Kolumnisten, die sich einmal ins Ausland wagen. Was den Verlag veranlasste, gerade folgende Erkenntnis des Erzählers als Klappentext zu gebrauchen, bleibt mir ein Rätsel: "Deutsche Frauen muss man nehmen, wie sie sind; aber wenn man sich ihren kleinen Launen beugt, lohnt sich das meist, eigentlich sind es nette Mädchen."

Und der Bildband? Gewiss, manch eine Fotografie ist gelungen, doch von großem Belang ist sicherlich keine. Jeder Bildband über Lanzarote wird Ähnliches zu bieten haben: Kakteen, Vulkanlandschaften, Felsgestein; eine Hotelanlage durch einen Maschendrahtzaun aufgenommen, ist allerdings weder einfallsreich noch von gesellschaftlicher Bedeutung. Es bleibt wohl einzig die Tatsache, dass die Fotografien vom Autor selbst stammen, die zum Durchblättern bewegt. Der Romancier und Dichter Houellebecq ist leider nicht als genialer Fotograf zu entdecken.

Titelbild

Michel Houellebecq: Lanzarote. Erzählung und Fotografien. 2 Bände in einer Schmuckkassette.
Übersetzt aus dem französischen von Hinrich Schmid-Henkel.
DuMont Buchverlag, Köln 2000.
Je 78, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3770155505

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