Gelehrtenprofile

Germanisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts im Porträt

Von Ralf Georg CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Georg Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? Seit nunmehr drei Jahren wird diese Frage im "Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft" von Vertretern der Literaturwissenschaften kontrovers diskutiert. Die Öffnung der Philologien hin zu einer Kulturwissenschaft, das gestiegene Interesse an interdisziplinären Fragestellungen und der Bedeutungszuwachs für die Medien lassen eine ausschließlich als Textphilologie betriebene Literaturwissenschaft anachronistisch erscheinen, zumal auch der Arbeitsmarkt von den Hochschulabsolventen ein anderes Profil erwartet als noch vor Jahrzehnten. Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? Diese Frage scheint um so berechtigter, wenn an die Stelle der Auseinandersetzung mit Texten und die Verständigung über Texte im weitesten Sinne zunehmend die Beschäftigung mit den Gelehrten des Faches tritt. Feiert hier eine untergehende Wissenschaftsdisziplin sich selbst, oder zielen Forschungen dieser Art auf eine neue Perspektivierung des bzw. der Fächer ab? Letzteres ist der Fall, wenn man den Herausgebern der "Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts" glauben will. Als Komplement zum "Internationalen Germanistenlexikon 1800-1950", das gegenwärtig im Deutschen Literaturarchiv Marbach von der Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik ins Werk gesetzt wird, stellt das Buch 27 Germanisten im Zeitraum von der Gründung des Faches um 1800 bis zur Weimarer Republik vor. Aufgenommen wurden bedeutende Fachvertreter mit einem individuellen wissenschaftlichen Profil, deren Habilitationsverfahren bereits vor 1933 abgeschlossen war. In ihnen werden zugleich die wichtigsten Teilfächer, Methoden, Kanonbildungen und Wertvorstellungen der jeweiligen Zeit repräsentiert. Dass sich unter den vorgestellten Persönlichkeiten mit Käte Hamburger nur eine einzige Frau befindet, beruht nicht auf den Auswahlkriterien der Herausgeber, sondern spiegelt das Kräfteverhältnis zwischen den Geschlechtern wider. Im Einzelnen werden behandelt: Georg Friedrich Benecke (von Birgit Wägenbaur), Jacob Grimm (von Horst Brunner), Karl Lachmann (von Uwe Meves), Karl Rosenkranz (von Werner Röcke), Moritz Haupt (von Edith Wenzel), Karl Bartsch (von Dieter Seitz), Wilhelm Dilthey (von Tom Kindt), Michael Bernays (von Michael Schlott), Wilhelm Scherer (von Hans-Harald Müller), Hermann Paul (von Ulrike Hass-Zumkehr), Erich Schmidt (von Wolfgang Höppner), Oskar Walzel (von Walter Schmitz), Andreas Heusler und Helmut de Boor (jeweils von Ulrich Wyss), Carl von Krauss (von Johannes Janota), Friedrich Panzer (von Ingrid Kasten), Friedrich Gundolf (von Ernst Osterkamp), Eduard Berend (Hanne Knickmann), Käte Hamburger (von Gesa Dane), Walter Muschg (von Karl Pestalozzi), Richard Alewyn (von Klaus Garber), Benno von Wiese (von Gerhard Lauer), Friedrich Beißner (von Norbert Oellers), Wolfgang Kayser (von Wilhelm Voßkamp), Emil Staiger (von Werner Wögerbauer), Wilhelm Emrich (von Lorenz Jäger) und Hugo Kuhn (von Walter Haug).

Die Herausgeber verstehen ihren Band als einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte: Zwar ließen sich aus der Wissenschaftsgeschichte keine Handlungsdirektiven für die Gegenwart eines von Innovationskrisen und Legitimationszwängen geprägten Faches ableiten, immerhin aber könne sie eine Orientierungsfunktion erfüllen. Wissenschaftsgeschichte könne das allgemeine Problembewusstsein vertiefen, sie könne die Herausbildung der gegenwärtigen Differenzierung und Spezialisierung des Faches und seine aktuellen Krisen rekonstruieren, viele gegenwärtige Probleme historisch verfremden und damit für eine Bearbeitung leichter zugänglich machen. Indem der Wissenschaftshistoriker zugleich Historiker, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker sei, nähere er sich seinem Fach außerhalb seiner ansonsten eng gesteckten Grenzen.

Geschichte und Entwicklung der Germanistik werden anhand von Personenporträts veranschaulicht. Damit aber Fachgeschichte nicht ausschließlich als Gelehrtengeschichte erscheint, wurde in den einzelnen Beiträgen eine aufs Allgemeine zielende Darstellungsform gewählt, die auch mit kritischen Tönen nicht spart. Würdigen die Beiträger auf der einen Seite die wissenschaftlichen Verdienste der von ihnen porträtierten Fachvertreter, so lassen sie auf der anderen Seite die geistige Gefolgschaft, die Germanisten wie Friedrich Beißner, Benno von Wiese oder Wilhelm Emrich den Nationalsozialisten geleistet haben, nicht unerwähnt. Sorgfältige Recherche und gute Lesbarkeit zeichnen alle Beiträge des Bandes aus.

Mit der Hinwendung zur Wissenschaftsgeschichte kommt der Literaturwissenschaft nicht ihr Gegenstand abhanden, sondern es wächst ihr ein neuer zu. Es bleibt zu hoffen, dass Arbeiten wie die von König, Müller und Röcke eine Signalwirkung für andere Philologien haben, z. B. für die Klassische Philologie, an deren Methodik sich die Germanistik in den Anfangsjahren orientierte (Karl Lachmann!), ehe die Mode beide Disziplinen streng teilte. Aus den wiederentdeckten Gemeinsamkeiten zwischen den Fächern ließe sich nicht nur eine gemeinsame Orientierung für die Gegenwart gewinnen, sondern fände man vielleicht auch zu einer gemeinsamen Legitimation für die Zukunft.

Titelbild

Christoph König / Hans-Harald Müller / Werner Röcke (Hg.): Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts.
De Gruyter, Berlin/New York 2000.
296 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3110161575

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