Sichtbare Zeit, bewegliche Ordnung, Dank an die Elemente

Wilhelm Lehmann in autobiographischen Schriften

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seine Gedichte sind "Ergebnisse fleißiger Füße und emsiger Augen, der Sinne überhaupt". Seine Tagebücher gleichen Feuilletons, in denen sich die Dinge "selbst erklären": "Stoff und Geist hat noch kein Wort gespalten". Die Rede ist von Wilhelm Lehmann (1882 - 1968), dem Dichter, Lehrer, Essayisten.

Seine "Gesammelten Werke" erscheinen seit 1982 im Stuttgarter Klett-Cotta-Verlag. Inzwischen liegen auch die autobiographischen Schriften vor. Die Skizze "Mühe des Anfangs", 1949/50 entstanden und 1952 zum 70. Geburtstag des Autors gedruckt, thematisiert die schwierige Balance "zwischen der Unverbindlichkeit bloß privater Existenz einerseits und extremer literarischer Selbststilisierung andererseits". Die "Mühen des Anfangs" bezeichnen die schulischen Versagensängste und den unanschaulichen Unterricht am Matthias-Claudius-Gymnasium in Lehmanns Heimat im schleswig-holsteinischen Wandsbek. Sie bezeichnen die ersten Schwärmereien für das weibliche Geschlecht in Gestalt der Hamburger Schauspielerin Ella Heuberger, der er heimlich Blumen sandte, sowie die Beziehung zur 15 Jahre älteren Pianistin Martha Wohlstadt - eine Liebe wie eine "schwere Krankheit". Auch der Studienbeginn war mühsam: in Tübingen musste Lehmann dem Werben verschiedener Burschenschaften widerstehen, als Soldat des Ersten Weltkrieges geriet er in englische Kriegsgefangenschaft, das Eheleben mit Martha Wohlstadt war eine Tortur, der erstgeborene Sohn starb früh. Die Schriftstellerei war wenig einträglich, und erst 1947, nach seiner Pensionierung, konnte sich Lehmann als freier Schriftsteller fühlen: "Er ist wirklich ein Dichter, das ist das Erstaunliche. Ganz gleich, wie groß und wie klein", schrieb Hans Erich Nossack über ihn.

Den Mittelpunkt des gewichtigen Bandes bilden die "Bukolischen Tagebücher" von 1927-1932 und 1948. Sie zeigen einen einzelgängerischen Poeten, einen Verwandten Mörikes, Jean Pauls und Stifters, der in der Natur jene Ordnung sucht, die ihm in der menschlichen Gemeinschaft verloren gegangen ist. Obwohl sich Lehmann als Deserteur im Ersten Weltkrieg bewusst gegen das Kaiserreich entschieden hat, sucht man das politische Tagesgeschehen in den Feuilletons, die in Ullsteins Sonntagszeitung "Die Grüne Post" gedruckt wurden, vergebens. Auch die autobiographischen Skizzen des 1882 in Venezuela geborenen und 1968 in Eckernförde gestorbenen Dichters verraten nur Ungefähres vom zeithistorischen Hintergrund, vor dem sich seine eigenwillige Existenz entfaltete. "Dank an die Elemente" heißt denn auch ein kurzes Selbstporträt, in dem sich Lehmann als Zivilisationsmüder die "selige Einheit mit allem Gewordenen" ersehnt. Näher am Leben ist er in seinen Aufsätzen dort, wo er für die damals avantgardistische Arbeitsschule plädiert. "Ich fragte Wilhelm Lehmann, den Dichter, wie es käme, daß der Lehrerberuf die Lehrer so verdürbe. Er sagte: 'Das Schlimmste ist, daß man sich nicht nach dem Besten richten kann, sondern nach dem Durchschnitt'." (Nossack am 19. Juli 1948 in seinem Tagebuch.)

Die Aufgabe des Pädagogen sei es, "Flügel zu schaffen und diesen Flügel gebrauchen zu lehren". In der Tradition von Solgers "Erwin" führte Lehmann einen fiktiven Dialog über die Frage, ob Lehrer "Schmerz empfinden" können; ihn selbst hat sein Beruf gelähmt, in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern fühlte er sich oft überfordert.

Seine Liebe galt dem Naturmotiv und der englischen Literatur - Yeats, Synge, Boswell, Swift, Goldsmith. Früh las er die "Neue Rundschau" und suchte den Kontakt zu Moritz Heimann. Seine weit ausgreifenden Essays und Rezensionen beziehen sich auf meist etablierte Autoren, wie Rudyard Kipling, Heinrich von Morungen oder Elisabeth Langgässer. Der Band seiner vermischten Schriften ist, wie das ganze Unternehmen der "Gesammelten Werke", etwas für Liebhaber eines Unzeitgemäßen. Hervorragend erschließt und kommentiert er den familialen und gesellschaftlichen Hintergrund und die zeitgeschichtlichen Koordinaten dieses Dichterlebens sowie die Entstehungsgeschichte des autobiographischen Werks. Der Kommentar ist als gelungene Einführung in Lehmanns elaborierte Autorentheorie lesbar, wie sie sich in seinen produktionsästhetischen Schriften offenbart. Lehmann mag weithin vergessen sein, doch seine Frage "Stehen Bäume nur im Wege?", 1967 in einem "Brief an einen jungen Verseschreiber" aufgeworfen, ist auch heute noch beunruhigend aktuell.

Titelbild

Wilhelm Lehmann: Gesammelte Werke in acht Bänden. Band 8: Autobiographische und vermischte Schriften.
Herausgegeben von Verena Kobel-Bänninger.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1999.
860 Seiten, 47,00 EUR.
ISBN-10: 3608950478

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